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by Nate Southard


  Die Realität stand für einen Moment still, trügerisch ruhig wie im Augenblick zwischen dem Verlöschen der Flamme an der Zündschnur und der anschließenden Explosion einer Stange Dynamit. Dann stach die Bestie mit dem Oberschenkelknochen zu. Der Knochen durchbohrte Shannons Schenkel und drang tief unter die Haut. Ein neuer Schrei brach aus ihr hervor, als sich der Knochen in die Erde bohrte und dort stecken blieb. Ihr Bein brannte über die gesamte Länge wie Feuer. Das Monster hatte sie festgenagelt. Heilige Scheiße, es hatte sie am Boden festgenagelt!

  Shannon packte den Knochenspeer mit beiden Händen und konnte mit dem Brüllen gar nicht mehr aufhören. Die Folter, die sie jagte, ließ nichts anderes zu. Ein krampfartiges Schluchzen übernahm das Kommando und sie beugte sich zitternd vor. Sie wurde zu sehr von Schmerzen durchgeschüttelt, um das Bein still zu halten. Schließlich konnte sie vor lauter Erschöpfung nichts anderes tun, als zu atmen. Sie blieb mit geschlossenen Augen sitzen und krallte ihre Hände um den Knochen, der sie daran hinderte, sich zu bewegen. Erst, als sie das drückende Schweigen vernahm, öffnete sie die Augen wieder.

  Sie starrten sie an. Greg, Dani und die Kreatur beobachteten sie. Ihre Gesichter waren leer, frei von Ausdruck. Sie ließ den Blick schweifen und konzentrierte sich dann ganz auf Greg. Möglicherweise erkannte er sie wieder und kam wieder zu sich. Falls es so war, ließ er es sich nicht anmerken. Sein Starren war an Monotonie kaum zu überbieten.

  »Fickt euch!« Die Worte schmeckten wie Asche auf ihrer Zunge. Sie spuckte sie aus, dann noch einmal: »Fickt euch doch alle!«

  Einer nach dem anderen wandte sich ab, als ob ihre Anwesenheit gänzlich unwichtig war. Wut brodelte in ihrem Bauch. Sie fühlte sich wie ein Insekt unter Glas, nichts weiter als eine Kuriosität. Ihre Finger drückten den Knochen, der sie festhielt, und sie glaubte, dass in ihren Händen ausreichend Zorn lag, um ihn zu pulverisieren.

  »Ihr Dreckschweine! Dafür werde ich euch alle umbringen. Seht mich gefälligst an!«

  Aber das verweigerten sie. Stattdessen näherten sie sich den Bäumen rings um die Lichtung und vergruben ihre schwarzen Klauen in den Stämmen. Shannon blickte sich um und sah, dass inzwischen die meisten Bäume mit Symbolen versehen waren, ähnlich denen in der Nähe der Senke. Sie betrachtete die kryptischen Zeichen und dann das Leichentrio. Als sie sich an die Knochen und Fetzen in der Senke erinnerte, fiel ein weiteres Puzzlestück an seinen Platz. Ein ziemlich großes Stück sogar. Sie spürte, wie sie der Mut verließ.

  Ein Stöhnen an ihrer Seite riss sie aus den Gedanken. Jens Augen öffneten sich flatternd. Ein Ausdruck von Überraschung lag darin, gefolgt von Panik. Bevor sie sich bewegen oder schreien konnte, presste Shannon ihr eine Hand auf den Mund. Jen wollte sie wegschieben, aber Shannon blieb unerbittlich. Der Blick der Gitarristin begegnete ihrem und beruhigt nahm sie zur Kenntnis, dass ein Erkennen darin lag. Mühsam beherrscht schüttelte sie den Kopf. Sie versuchte sich einzureden, dass das Schweigen ihre Sicherheit garantierte. In Wahrheit befürchtete sie, bei einer neuerlichen Schreiattacke endgültig die Fassung zu verlieren. Außerdem brauchte sie Ruhe, um nachdenken zu können.

  Sie hielt den Atem an und hörte nichts als das Kratzen von Klauen auf weichem, kerngesundem Holz. Es jagte ihr Angst ein, weil es den Eindruck von Teamwork und zielgerichtetem Vorgehen erweckte. Wenn sie die drei Leichen hinzunahm und die Verwandlung, die Greg und Dani durchgemacht hatten, ließ das nur den Schluss zu, dass auf dieser Lichtung etwas Wahnwitziges, völlig Unglaubliches vor sich ging. Sie konnte sich nicht länger in die Illusion flüchten, dass es lediglich um einen blinden Akt von Gewalt ging. Es war bedeutender, doch sie konnte nur machtlos abwarten, was weiter geschah.

  Jens Hand legte sich auf ihre. Sie verschränkte ihre Finger mit denen der Gitarristin und hielt sie fest. Nun zitterten ihre Hände gemeinsam. Ein einziger Gedanke kreiste ununterbrochen durch ihren Kopf und sie war sicher, dass er auch Jen beschäftigte.

  Welche Rolle spielen wir bei dem Ganzen?

  Das Schnitzen verstummte. Alle drei Gestalten hatten ihr Symbol im selben Moment fertiggestellt. Schweigen breitete sich auf der Lichtung aus, als sie sich umdrehten und den Leichen in der Mitte der Freifläche zuwandten. Shannon packte Jens Hand so fest, als wäre es eine Rettungsleine. Ihre Zähne nagten an der Unterlippe und ihr Herz knallte gegen den Brustkorb. Für sie fühlte es sich an, als ob die gesamte Welt den Atem anhielt.

  Ein neues Geräusch ertönte – trocken und weich. Sie brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass es vom Zentrum der Lichtung ausging. Aufgrund der Dunkelheit dauerte es noch wesentlich länger, bis in ihren Verstand durchsickerte, was sie vor sich sah.

  Der Boden bewegte sich. Das Erdreich, das die drei toten Männer umgab, wellte sich wie Wasser im Sturm. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie so etwas schon einmal zu Gesicht bekommen hatte, etwa bei einem Erdbeben oder einer anderen Naturkatastrophe. Etwas, das ihrer Definition von normal entsprach. Ihre Brust schnürte sich über dem pochenden Herzen zusammen, weil sie wusste, dass das nicht der Fall war. Etwas Furchtbares – etwas Unnatürliches – ging hier vor sich und sie war am Boden festgenagelt und mit einer verkrüppelten Gitarristin neben sich dazu verdammt, untätig abzuwarten, was sich daraus ergab.

  Jens Hände zupften an ihr. Sie versuchte, der Frau beruhigend auf die Schulter zu klopfen, wusste aber selbst, dass es eine nutzlose Geste war. Ihr Körper bebte und die aufkeimende Furcht schien ihn fast zum Platzen zu bringen.

  Mit einem Laut wie dem Rascheln von altem Papier brach etwas aus der Erde hervor. Shannon beugte sich vor, ehe sie darüber nachdenken konnte, und der Knochen, der ihr Bein durchbohrte, schickte einen klirrenden Schmerz durch ihren Körper. Sie biss die Zähne zusammen und blinzelte. Durch den zurückweichenden Schleier ihres Leidens erspähte sie die Hände. Zuerst waren es nur einige wenige, doch sekündlich schossen weitere aus dem Morast. Bald waren es Dutzende. Graue, schwarze und einige fast kalkweiße Finger griffen aus dem aufgeweichten Waldboden nach den drei Leichen.

  Neben ihr fing Jen zu schreien an. Shannon hätte sich ihr nur zu gerne angeschlossen, doch ihr Atem war verschwunden. Alles wirkte entrückt und trotz seiner Absurdität beinahe vernünftig. Mit merkwürdiger Ruhe beobachtete sie, wie die Hände die toten Körper packten und an ihnen rissen. Andere, die zu weit entfernt waren, beschäftigten sich damit, den Boden weiter umzupflügen und zum Einsinken zu bringen. Es waren die Vorboten einer weiteren Grube – einer Futterstelle für eine Kreatur, wie sie ihr noch nie begegnet war, nicht mal in ihren Träumen.

  Sie hörte über das geduldige Rieseln der Erde hinweg, wie Fleisch barst und Knochen brachen, und auf eine merkwürdige Art und Weise erschien es ihr logisch. Dutzende von Händen unter der Erde, die tote Körper in die Tiefe zogen und ein weiteres Loch im Boden aushoben. Es erschien ihr ebenso nachvollziehbar wie ein Monster, das durch einen Wald raste, dessen Bäume mit geschnitzten Symbolen übersät waren.

  Dass Greg und Dani den Verstand verloren und sich verwandelt hatten, war nur eine weitere Facette des Irrsinns. Mit dem Absturz ihres Flugzeugs war die ganze Welt in Wahnsinn versunken und endlich akzeptierte sie diesen Umstand. Während sie dem Knirschen und Reißen von Körpern unter den zupackenden Händen lauschte – und während Jen an ihr zerrte, als ob sie in der Lage war, sie zu retten – entschied sie, dass es keinen Grund gab, es nicht wenigstens zu versuchen. Wenn die ganze Welt aus den Fugen geraten war, hatte sie nichts zu verlieren.

  Entschlossen packte sie den Knochen, der sie am Aufstehen hinderte, und zog daran.

  Aus den Schatten hinter der Lichtung sah Potter mit atemlosem Schweigen zu. Trotz allem, was er erlebt hatte – nachdem er sich hinter einem Armaturenbrett versteckte, während eine Kreatur aus einem Albtraum um ihn herum Leichen stahl –, traute er seinen Augen kaum. Er wiederholte sein Ritual, sich die Finger in den Mund zu stecken und zuzubeißen, hoffte, dass es die Halluzination zum Verschwinden brachte, doch die Hände blieben, wo sie waren. Sie fetzten die toten Körper in Stücke, gruben dabei unaufhörlich das Erdreich um, das in großen Brocken in die Tiefe sackte. Die
Leichen waren schon fast einen halben Meter unter die Oberfläche des Waldbodens gesackt und das Loch wuchs sekündlich. Er musste an eine Sanduhr denken, deren Füllung schneller und schneller aus der Spitze herabrieselte, weil die Welt unter ihr hungrig war.

  Er bemühte sich, näher an Jen und Shannon heranzukommen, und fragte sich, warum Greg und Dani ihn nicht ebenfalls zur Lichtung geschleppt hatten. Lag es daran, dass sie nicht so viel tragen konnten? Oder hatten sie geplant, ihn hinterherzuholen, sich dann aber zu sehr in ihr Ritual vertieft? Genauso gut konnten sie entschieden haben, dass sie ihn nicht brauchten, weil er keine Rolle spielte.

  Nach allem, was er mit angesehen hatte, verhielt sich die Kreatur, die ihr Anführer zu sein schien, zwar listig, aber nicht allzu intelligent. Er hoffte, dass seine Annahme stimmte. In diesem Moment gesellten sich Greg und Dani zu der Kreatur, um den Händen bei der Arbeit zuzusehen. Falls sie sich überhaupt an die zwei Frauen erinnerten, zeigten sie zumindest kein Interesse an ihnen.

  Der Boden gab schneller nach, die toten, zerrissenen Körper sanken weiter ein. Das Loch war inzwischen über einen Meter tief. Einige der Hände setzten ihr zerstörerisches Werk fort und zerpflückten mit brutaler Hingabe die Leichen. Unterdessen vergrößerten andere das Loch. Der zerfetzte Skalp von einem der Piloten geriet außer Sicht, kurz darauf folgten ihm die anderen Leichen. Bald blieb nur das grässliche Geräusch von Körpern, die in Stücke gerissen und zerquetscht wurden, zurück. Die Erde tat sich auf, begleitet von einem Geräusch wie Sand, der aus einem Eimer rieselte.

  Potter bemühte sich weiterhin, näher an Jen und Shannon heranzukriechen. Die Dunkelheit erschwerte ihm das Vorankommen, aber er ließ sich Zeit, ließ seinen Blick stetig zwischen den Frauen, der Senke, dem Monster und seinen toten Freunden hin- und herwandern. Seine Füße rollten sich vom Boden ab und er war dankbar für den Umstand, dass die herabgefallenen Nadeln seine Schritte dämpften. Am Rand der Lichtung, nur noch knapp zehn Meter von Shannon und Jen entfernt, fand er sich schließlich an einem Kiefernstamm wieder.

  Die Reporterin hatte die Hände um ein Knochenstück geschlossen, das die Frau wie ein präpariertes Insekt am Boden festklammerte. Er konnte die Anspannung in ihrem Gesicht lesen, während sie kämpfte, freizukommen. Er fragte sich, welchen Schaden der Keil anrichtete, und ob sie das Risiko einging, zu verbluten, wenn sie den Keil herauszog. Allerdings hätte er an ihrer Stelle dasselbe getan.

  In der Hoffnung, dass die Schatten nach wie vor auf seiner Seite waren, versuchte er, sich für eine Vorgehensweise zu entscheiden. Jen konnte nicht laufen, nicht einmal stehen, aber auch Shannon schien kaum in der Verfassung zu sein, ein Wettrennen zu gewinnen. Er würde sich also mit zwei Leuten davonschleichen müssen, die so schwer verletzt waren, dass ihnen die kleinste Bewegung höllische Schmerzen zufügte. Die einzige Chance, sie in Sicherheit zu bringen, bestand im Ausschalten der anderen drei. Aber wie um alles in der Welt sollte er das anstellen? Selbst wenn Greg und Dani sich nicht in Neandertaler verwandelt hätten, stellte sich die Frage, wie er diese Kreatur besiegen sollte. Und brachte er es über sich, zwei Leute auszuschalten, die er als Freunde betrachtete?

  Vielleicht gab es eine andere Möglichkeit. Falls er das Geschöpf tötete, bestand die Hoffnung, dass sich Greg und Dani zurückverwandelten. Er bezweifelte, dass es mehr als ein frommer Wunsch war, aber zumindest konnte er es versuchen. Falls er scheiterte, musste er sich allerdings den Konsequenzen stellen.

  Sein Körper stand unter Hochspannung. Sein Atem schwoll in seiner Brust zu einem dicken, heißen Klumpen an. Er warf einen Blick auf seine To-Do-Liste. Der Notizblock war deutlich vor seinem geistigen Auge zu erkennen:

  1. Spiel den verdammten Helden oder stirb bei dem Versuch

  Für eine Sekunde schweiften seine Gedanken zum alten Herrn ab. In diesem Moment lag Dad in einem Krankenhausbett. Maschinen stellten sicher, dass er weiteratmete. Auf eine gewisse Weise beneidete er den Mann. Ihm blieb es erspart, derart schwierige Entscheidungen zu treffen. Im Gegensatz zu den Menschen um ihn herum.

  Also dann, Dad, dachte er. Wir sehen uns spätestens im Jenseits!

  Er trat vor und eine schreckliche Stille senkte sich auf die Lichtung. Die Laute reißender und grabender Hände verstummten. Alles, was blieb, war Shannons schmerzverzerrtes Grunzen, das sie beim Versuch ausstieß, ihr Bein zu befreien. Potter erstarrte und analysierte die Lage. Dani, Greg und das Monster drehten sich wie eine einzige Person um und starrten die sich abmühende Reporterin an. Ihr Grunzen wich einem frustrierten Schluchzen, doch sie gab nicht auf und zerrte weiter an dem Knochen. Jen fuhr eine Hand in ihre Richtung aus, um den anderen den Weg zu weisen, doch Shannon bekam nichts davon mit.

  Wortlos setzten sich Greg und Dani in Bewegung und hielten auf das Paar zu. Bevor er es sich anders überlegen konnte, trat Potter auf die Lichtung und schwenkte seinen Speer.

  Etwas, das klang wie ein startender Düsenjet, brüllte auf. Der Krach toste in Potters Schädel und zwang ihn auf die Knie. Er ließ seine Waffe fallen und presste die Handballen gegen die Schläfen. Gott, so etwas Lautes hatte er noch nie gehört. Durch zu Schlitzen verengte Augen starrte er die Bestie in der Erwartung an, dass sie zum Angriff übergehen würde. Stattdessen glotzte das Monster in das Loch hinein. Den Ausdruck auf seiner verzerrten Fratze interpretierte Potter als Freude.

  Mit heraufdämmerndem Entsetzen wurde ihm bewusst, dass der Krach vom Grund der Senke zu stammen schien. Das Brüllen verstummte und in seinen Verstand drängten ungefragt Bilder von allem, was derartige Geräusche von sich geben könnte. Dann brandete der brutale Lärm noch einmal auf, vertrieb gnädig seine Visionen und rang ihm einen gequälten Aufschrei ab. Er brach zusammen, sein Körper erschlaffte und er schlug mit dem Kinn hart auf den Boden.

  Sein Schrei erstarb und wurde zu einem Stöhnen. Alles fühlte sich weich und schlaff an. Als das nächste wütende Grollen verebbte, wollte er aufstehen, doch seine Arme gehorchten ihm nicht. Mit verschleiertem Blick nahm er wahr, dass Jen und Shannon am Boden lagen und sich die Ohren zuhielten. Sie protestierten nicht, als Dani und Greg ihnen entgegenstaksten und Jen wehrte sich auch dann nicht, als das Duo sie auf die Beine zerrte. Erst als sie rücksichtslos an den Rand der Senke geschleift wurde, heulte sie unter Schmerzen auf.

  »Nicht!« Das Wort ging im Chaos unter und er war nicht einmal sicher, dass er es laut ausgesprochen hatte. Als er sich abmühte, aufzustehen, sah er, wie Jen begann, sich zu wehren, wie ihre Arme hin und her peitschten, als sie versuchte, sich aus dem Griff ihrer Schwester und ihres Bandkollegen zu befreien. Er bekam mit, wie Dani sich mit Händen, die zu schwarzen Klauen mutiert waren, im Unterarm ihrer Schwester verkrallte, ihre Fingerspitzen sich tief in die Haut gruben und Blut hervorströmte. Jen schrie und versuchte vergeblich, ihren Arm wegzuziehen, aber ihre Schwester packte nur noch fester zu.

  Potter schaffte es endlich, aufzustehen. Er vergaß nicht, sich seine Waffe zu schnappen, ehe er losstürmte. Der Boden vibrierte und um ihn herum flimmerte die Luft. Sein Gehör hatte sich längst verabschiedet, war von einer Welle in seinem Kopf verschluckt worden. Bei jedem Schritt musste er darum kämpfen, nicht hinzufallen. Die zwei Freunde, die zu Monstern geworden waren, schubsten Jen näher an den Rand der Grube, bis sie beinahe über der Öffnung hing. Er sah, wie die Gitarristin hineinstarrte und sich dann heftig gegen den Griff ihrer Entführer sträubte. Doch sie gaben nicht nach. Greg hob eine funkelnde Klaue an ihre Kehle.

  »Nein!« Er drohte erneut das Gleichgewicht zu verlieren, kämpfte dagegen an und hielt sich auf den Beinen. Ein Knurren formte sich in seiner Kehle, als er den Speer hob und mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, zustieß. Er hätte beinahe laut gejubelt, als der Stahl Gregs Rücken durchbohrte und durch das Brustbein wieder austrat. Gregs Körper wurde starr und sackte nach vorn. Potter riss den Speer heraus, spürte, wie er an Knochen entlangkratzte und Gewebe zerriss. Jen fiel kreischend auf die Knie. Danis Klauen gruben sich nach wie vor tief in ihren Arm.Verrückterweise stellte er sich in diesem Moment die Frage, ob sie je wieder Gitarre spielen könnte.

  Potter wusste,
dass er sich auf seine Umgebung konzentrieren musste, auf die Gefahr, die ihn umgab, doch das Geräusch war einfach zu extrem und sein Gleichgewichtssinn endgültig zerstört. Seine Finger angelten nach Jen, und Dani ließ los und zog ihm eine glitzernde Klaue quer durchs Gesicht. Der Schmerz kam augenblicklich. Er hob schreiend die Hände vors Gesicht und vergaß den Speer und alles andere. Etwas stieß gegen ihn und er landete hart auf dem Boden. Das brachte ihn wieder zu sich. Er wischte sich das Blut aus den Augen und lauerte auf die nächste Angriffschance.

  Stattdessen trat Dani Jen in die Grube hinein. Die Gitarristin rutschte das Gefälle hinab und Potter sprang hinterher, ohne nachzudenken. Seine Hände schlossen sich um ihr Handgelenk. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, stemmte er sich in den Boden, damit sie nicht beide in das Loch fielen. Ihre Finger krallten sich an ihm fest. Er sah ihr in die Augen, versuchte, ihr mitzuteilen, dass er nicht loslassen würde. Selbst wenn sie ihn töteten, würde er sie nicht loslassen.

  Etwas bewegte sich hinter Jen und er schaute instinktiv hin. Er wollte brüllen. Jede Nervenfaser in ihm wollte kreischen, bis sein Verstand zerbrach, doch der Anblick dessen, was ihn am Grund der Senke erwartete, raubte ihm den Atem und machte ihn unfähig, etwas anderes zu tun, als hinzustarren und zu spüren, wie die Tränen aus seinen weit aufgerissenen Augen liefen.

  Zahllose Hände waren damit beschäftigt, Greg in Stücke zu reißen. Fleischfetzen und Blutschwalle wirbelten in alle Richtungen. Sie ragten nun weiter aus dem Boden heraus: gelenkige Arme wie knöchrige Schlangen, die herumtasteten und sich zusammenzogen, den zerfleischten Körper des Mannes umwickelten und an ihm rupften. Unter ihnen wirbelte etwas im Zentrum des Schlunds – ein schwarzer Mahlstrom aus rotierender Schwärze, der ihm fast seine gesamte Kraft raubte, sie aus seinem Körper abzog, als ob sie über eine eigene Schwerkraft verfügte.

 

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