Ich nicke. »Hier komme ich nach unseren Auftritten her. Oder wenn ich ein Mädchen geküsst habe, das mir den Kopf verdreht hat.«
Frenzy bleibt abrupt stehen. Ich blicke mich zu ihr um und sehe sie an. Ihre Züge sind ganz sanft.
Wir gehen noch ein paar Meter. Dann ziehe ich das Leinenhemd, das ich über meinem Unterhemd trage, aus und lege es auf den Kies. »Setz dich«, sage ich.
»Was ist das für ein Ort?«, fragt Frenzy und lässt sich neben mich sinken.
»Es ist der Ort, an den ich gehe, wenn ich mit meiner Schwester sprechen will.«
Die Worte werden vom leisen Plätschern des Wassers am Ufer begleitet.
»Ist sie gestorben?«, fragt Frenzy.
»Vor drei Jahren.«
»Das tut mir leid.« Ich höre, wie sie schluckt.
»Sie hatte Krebs. Bauchspeicheldrüse. Dauerte nur wenige Monate.« Ich habe einen Kloß im Hals. Obwohl es nun schon ein paar Jahre her ist, fällt es mir immer noch schwer, darüber zu sprechen. Nicht so sehr, über sie zu sprechen. Aber von der Zeit, die alles veränderte. »Wir waren uns sehr nah«, fahre ich fort. »Sie war mein Vorbild. Mein Fels in der Brandung. Sie war stark, klug und schön. Sie hatte auf alles eine Antwort. Auf Zweifel, auf das Leben.« Ich breche ab, weil mir das Sprechen auf einmal schwerfällt. »Von einem Moment auf den anderen war sie weg. Und ich musste stark sein. Für meine Eltern, für Jasper und die Kinder.«
»Für Jasper?«, fragt Frenzy, und mir fällt ein, dass sie das ja gar nicht wissen kann.
»Er und Blythe waren verheiratet. Sie ist die Mutter von Weston und Maya.«
»O Gott«, sagt Frenzy und klingt etwas erstickt. »Wie bist du … Wie seid ihr …«
»Man kommt nicht drüber hinweg. Der Schmerz wird irgendwann vom Leben verdrängt und kommt nur noch manchmal zum Vorschein.«
»Wenn du hierherkommst?«
»Dann lasse ich ihn zu. Wenn ich mich stark genug fühle.« Ich lächle matt.
»Was erzählst du ihr?«, fragt sie.
»Alles. Von der Band, von unseren Eltern. Von Jasper und den Kindern.«
»Von dir?«
»Ja, auch von mir.« Nach einer kurzen Pause sage ich leise: »Und von dir.«
»Von mir?« Frenzy sieht mich an.
»Sie würde dich lieben.«
Sie lächelt. »Warum?«
»Weil du anders bist. Weil du gut bist.«
»Was meinst du damit?«
»Das ist der Grund, warum Bonnie sich Sorgen macht«, sage ich. »Meine Auswahl an Frauen in der Vergangenheit war nicht gerade glorreich. Meistens war es nichts Ernstes und schnell vorbei.«
»Wie mit Esmé?«, fragt sie.
»Genau. Aber kurz nach Blythes Tod habe ich jemanden kennengelernt. Eloise. Sie war auch Musikerin.« Ich atme tief ein. Nicht, weil es wehtut, über sie zu sprechen, sondern weil es mir vor Frenzy schwerfällt. »Ich dachte, das wäre es. Die große Liebe. Das, was Jasper mit Blythe hatte.«
»Aber das war es nicht?«, fragt Frenzy leise.
»Einen Moment lang war es das. Aber wir haben uns nicht gutgetan. Wir waren uns zu ähnlich. Haben uns runtergezogen. Uns das Leben schwer gemacht. Das konnte ich aber erst hinterher sehen. Nach fast zwei Jahren ist sie abgehauen. Ohne ein Wort zu sagen. Ohne Abschied. Ohne irgendwas. Inzwischen weiß ich, dass sie in New Mexico ist, dass es ihr wohl gut geht. Aber was dann passiert ist – ich wusste es selbst nicht … Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen.«
Frenzy nickt langsam. »Verständlich.«
»Bonnie war diejenige, die mich nicht hat hängen lassen, obwohl es schlimm war. Obwohl ich schlimm war. Ich war nicht ich selbst. Ich hatte das Gefühl, Eloise wäre mit dem Teil von mir, der mich zu einem Menschen machte, abgehauen.«
»Und jetzt fürchtet sie …«
»… dass es wieder passieren kann.«
»Aber … das ist doch nicht vergleichbar«, sagt Frenzy. Ihre Stimme ist dünn.
»Was meinst du?«
»Na ja, mit ihr warst du zwei Jahre zusammen. Ihr hattet so viel gemeinsam.« Sie wird immer leiser.
Ich kann nicht anders, ich beginne zu lachen. »Denkst du, darauf läuft es hinaus?«, frage ich. »Glaubst du, das ist, was ich dir sagen will? Dass wir uns keine Sorgen machen müssen, weil die Sache mit Eloise ernst war und du nur ein Intermezzo bist?« Ich verwebe unsere Hände miteinander, streiche ihr die Haare aus dem Gesicht, hinter denen sie sich versteckt hat. »Das ist ja das Problem«, sage ich dann, »dass es eben nicht so ist. Was du mit mir machst, hat so ein Gewicht, dass Bonnie Panik bekommt – wenn sie daran denkt, dass du wieder verschwindest. Dass ich Panik bekomme.«
»Aber … wir kennen uns doch erst seit ein paar Monaten«, sagt sie verblüfft, als würde sie versuchen, sich selbst zu überzeugen.
»Ich weiß. Das macht es ja so … besonders.« Einen Moment lang sagt niemand etwas. Das Wasser des Flusses umspielt die Steine zu unseren Füßen, irgendwo bellt ein Hund. »Für dich doch auch, oder?«
»Ich habe noch nie so was gefühlt«, sagt sie und vergräbt das Gesicht schüchtern in ihren Händen.
Doch ich möchte nicht, dass sie sich versteckt. Ich will in ihre Augen sehen. Also löse ich ihre Finger sanft von ihren Wangen. »Was fühlst du?«, frage ich.
Sie windet sich ein wenig und sieht dabei so bezaubernd aus, dass mein Herz beinahe stehen bleibt.
»Okay, ich erzähle dir, was ich fühle«, sage ich, um ihr Mut zu machen. »Wenn ich mit dir zusammen bin, bin ich ganz bei mir. Ich sehe die Welt klarer, ich fühle mich stark, als könnte mich nichts umhauen. Ich fühle mich geerdet und sicher. Ich fühle mich so, wie ich mich für immer fühlen will.«
Sie lächelt sanft. »Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst.« Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und küsse sie auf den Mund. Ganz langsam, ganz leicht.
Sie blickt auf den Fluss. Schließlich beginnt sie zu sprechen. »Wenn ich mit dir zusammen bin, fühle ich mich mutig. Ich werde dann – ich weiß auch nicht – zu dem Menschen, der ich sein möchte.«
»Du bist dieser Mensch«, sage ich.
»Anscheinend steckt das in mir, ja«, erwidert sie. »Aber du lässt zu, dass ich es ausprobieren kann. Ich fühle mich lebendig. So, als würde ich ganz frei atmen. Auf einmal ist es mir egal, was die Welt über mich denkt. Auf einmal ist es mir nur wichtig, was du denkst. Und das, was du denkst, kommt mir richtig vor. Wenn wir zusammen sind, fühlt es sich an, als wäre alles, was in mir drin noch keinen Platz gefunden hat, genau dort, wo es hingehört.«
»Wenn ich mit dir zusammen bin, wird die Welt leiser«, sage ich. »Dann höre ich nur noch dich.«
»Wenn ich mit dir zusammen bin, wird die Welt lauter«, erwidert sie. »Und ich will alles hören.«
»Das ist doch Wahnsinn.« Ich rücke näher an sie heran. Immer noch näher, bis meine Nase beinahe an ihre stößt. Ich spüre ihren Atem auf meiner Lippe, ihren Atem, der noch wärmer ist als die Nacht um uns herum. Ich lehne meine Stirn an ihre Stirn und schließe die Augen, sauge ihren Duft ein, der sich mit den Gerüchen des Flusses und der warmen Steine vermischt.
»Aber was machen wir mit der Panik?«, fragt sie und tastet vorsichtig nach meinen Händen.
»Wenn ich eine Sache gelernt habe«, sage ich und verwebe unsere Finger, »dann, dass man jeden Tag genießen sollte. Wenn man zu viele Gedanken an morgen verschwendet, kommt es vielleicht nicht mehr.«
»Das Morgen?«
»Ja …«
»Also sind wir im Hier und Jetzt«, flüstert sie.
»Und im Hier und Jetzt will ich dich dringend küssen.«
Meine Lippen finden die ihren, und es fühlt sich an, wie nach Hause zu kommen. Ihre Wärme, der Geschmack nach Sicherheit und Heimat, ihre weiche Haut, die unter meinen Küssen zu glühen scheint. Es ist unerträglich, ihr nicht näher zu sein als das, und doch weiß ich, dass es zu früh ist, um sie mit zu mir zu nehmen. Um ihr das ganze Ausmaß meines chaotischen Lebens zu präsentieren. Obwohl man mein Zuhause von hier aus sogar in der aufkommenden Dunkelheit erahnen kann. Aber das muss warten und damit meine Lust auf sie. Für den Augenblick ist
dieser Kuss alles, was ich mir je erträumt habe, und noch viel mehr. Und doch so weit entfernt davon, zu genügen, dass es mich innerlich vor Sehnsucht und Verlangen zerreißt.
Unsere Zungen streichen übereinander, aneinander vorbei und um einander herum. Sanft und mild und gleichzeitig drängend. Und mir wird klar, selbst wenn alles, was wir haben, diese restlichen Monate sind, sie ist es wert. Jeder Moment mit ihr, jede Berührung, jeder Blick, den ich auf sie erhaschen kann, jede Sekunde, in der ich mich zu Hause fühle und mit den Beinen fest auf dem Boden, ist ein Geschenk. Und keine Sorge der Welt, kein Abschied wird mir die Freude daran nehmen, sie zu kennen. In meinem Kopf festigt sich ein Plan.
»Was machst du am Wochenende des Independence Day?«, frage ich, weil ich ohnehin nicht vorhatte, den Tag in der Stadt zu verbringen. Es war der Tag, an dem wir immer als Familie zusammen waren. Doch das sind wir nicht mehr. Es ist an der Zeit für neue Erinnerungen. »Hast du schon was vor?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Hast du Lust auf einen Ausflug?«
27
Franzi
Link wirft meinen Rucksack auf die Ablage von Curtis’ Pick-up. Dann hält er mir die Autotür auf, und ich steige auf den Beifahrersitz. Hugo steht hinter dem Gartentor und winkt. Es ist das Independence-Day-Wochenende, und ich habe heute und morgen frei, sodass es kein Problem ist, mit Link über Nacht wegzubleiben. Und wenn ich Hugos Blick richtig deute, freut er sich. Ob für sich, weil er seine Ruhe hat, oder für mich, weil ich Zeit mit Link verbringen kann, lässt sich dabei nicht abschließend beurteilen. Aber so oder so gefällt es mir, dass wir von einem Waffenstillstand zu einem relativ freundlichen Umgang gefunden haben. Und ich glaube, Link war daran nicht ganz unbeteiligt.
»Ich hoffe, ihr habt an Verhütung gedacht«, ruft er uns zu, und vielleicht nehme ich das mit dem freundlichen Umgang wieder zurück.
»Hugo!«, sage ich tadelnd, doch der Schaden ist bereits angerichtet. Meine Wangen sind heiß, und ich wage es nicht, Link anzusehen. Warum nur legt Hugo es jedes Mal darauf an, mich bloßzustellen? Ich weiß noch nicht einmal, wo es hingehen soll, geschweige denn, was passieren wird.
Link räuspert sich leise, als er den Rückwärtsgang einlegt und das Auto langsam aus der Einfahrt vor der Garage rollen lässt.
Seit unserem Abend am Ufer des Mississippi sind wir uns immer näher gekommen. Besonders, was das Emotionale anbelangt. Körperlich sind wir uns so nah, wie man sich sein kann, wenn man sich gegenseitig nicht zu sich nach Hause einlädt. Aber ich lasse ihn. Gebe ihm den Freiraum, den er offenbar braucht. Ab und zu habe ich mich natürlich gefragt, warum Link den nächsten Schritt noch nicht mit mir gegangen ist. Denn mit all seinen Eroberungen vor mir war er mit Sicherheit nicht so zögerlich. Kurz war ich vielleicht verunsichert. Kurz habe ich vielleicht sogar mit Lara darüber gesprochen. Aber sie ist der Meinung, dass ich es als Kompliment verstehen sollte, und ich glaube, sie hat recht. Dass wir es langsam angehen lassen, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass dies etwas Gutes, etwas Reifes ist. Und etwas, das uns beiden gleichermaßen wichtig ist.
Wir reihen uns in den Verkehr auf der St. Charles Avenue ein, und ich spüre, dass Link mich aus dem Augenwinkel beobachtet. Ich wage es nicht, seinen Blick zu erwidern, und greife stattdessen nach der Wasserflasche, die zu meinen Füßen liegt, aber ich bin mir sicher, dass ein schelmisches Grinsen um seine Mundwinkel spielt. Dieses Link-Grinsen, das macht, dass alle Sorgen, die man jemals haben könnte, in den Hintergrund treten.
Er räuspert sich erneut und sagt dann: »Nur für den Fall, dass du dir darüber Gedanken machst, ich habe tatsächlich an Verhütung gedacht.«
Den Schluck Wasser, den ich gerade herunterschlucken wollte, pruste ich komplett aufs Handschuhfach. Wie bitte? »Wie bitte?«, frage ich.
»Ich wollte nur nicht, dass du dich darum sorgst, falls das eine Option ist. Wenn nicht, ist es auch okay.« Er zuckt mit den Schultern, und nun sehe ich tatsächlich das Grinsen in seinem Gesicht, weil ich ihn etwas ungläubig anstarre. Hugo und er sind unglaublich. Aber gleichzeitig gefällt er mir. Die Vorstellung, dass er vorbereitet ist. Dass er darüber nachdenkt. Lara hatte wirklich recht. Und ich kann nicht behaupten, dass ich nicht darüber nachdenke. Ausgiebig und andauernd. Während Hugos Übungen, während unserer Besuche im Supermarkt, während ich Link beim Gitarrespielen beobachte, während ich abends im Bett liege …
Wir lassen den Garden District mit seiner verträumten Atmosphäre hinter uns, und Link lenkt das Auto auf den Highway und von dort auf die Interstate 10. Ich blicke aus dem Fenster und betrachte die Hochhäuser, Trailerparks, schicke neue Wolkenkratzer und ärmliche Wohnviertel, an denen wir vorbeifahren.
»Bis hierher kam das Wasser während Katrina«, sagt Link. Oder: »Das ist das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde. Nach Katrina wurde es geschlossen. Seither steht das Gebäude leer.«
Während man sich in der Innenstadt befindet, ist es schwierig, das Ausmaß des Hurrikans zu erahnen. Aber nun, da ich einen weiteren Blick habe, beginne ich zu verstehen, wie verheerend der Wirbelsturm gewütet hat. Wir fahren an einem Freizeitpark vorbei. Auf den zweiten Blick erkenne ich, dass er völlig verlassen ist.
»Das ist Six Flags«, sagt Link. »Nach Katrina waren die Kosten für die Reparaturen zu hoch. Seither ist der Freizeitpark geschlossen.«
Ich schlucke. Und begreife. Die Tatsache, dass Link einen Tag nach dem anderen nimmt, dass er auf den ersten Blick vollkommen sorglos durch die Welt spaziert und jede Erfahrung mitnehmen möchte, hat natürlich etwas mit dem Tod seiner Schwester zu tun. Doch ebenso ist es das Erbe seiner Stadt, das sich in ihm und all den anderen manifestiert. Die Gewissheit, dass von einem Tag auf den anderen das eigene Zuhause fort sein kann .
»Verrätst du mir jetzt, wo es hingeht?«, frage ich und nehme noch einen Schluck aus meiner Wasserflasche, um den Kloß in meinem Hals zu vertreiben.
»Willst du es wirklich jetzt schon wissen oder soll es eine Überraschung sein?«, fragt er.
»Ich will es wirklich jetzt schon wissen«, sage ich, weil ich kein Fan von Überraschungen bin. Ich weiß gern, was mich erwartet, damit ich mich innerlich darauf vorbereiten kann. Doch dann zögere ich. »Nein, halt. Es soll eine Überraschung sein.« Auf einmal habe ich das Gefühl, dass ich es doch auf mich zukommen lassen möchte. Nicht nur einen Tag nach dem anderen. Sondern einen Augenblick nach dem anderen. Ich genieße es, neben Link zu sitzen, ohne den Kopf voller Gedanken an das zu haben, was oder was nicht passieren wird. Im Hier und Jetzt leben.
Eine halbe Stunde, eine elend lange Brücke, etliche Abzweigungen und immer enger werdende Straßen später lenkt Link das Auto auf einen kleinen Parkplatz zwischen hochgewachsenen, schlanken Bäumen, von deren Ästen Feenhaar herabhängt. Nichts rührt sich. Es ist vollkommen windstill.
»Wir sind da«, sagt Link.
»Wo?«, frage ich.
»In den Honey-Island-Sümpfen.«
Ich blicke mich um und sehe, dass durch das satte Grün der Bäume, des Feenhaars und der Lianen Wasser hindurchschimmert. Pflanzen mit dicken, großen Blättern wachsen am Ufer, und ich nehme mir fest vor, Hugo davon zu erzählen.
Link holt unser Gepäck von der Ladefläche.
»Also komm, wir gehen zum Boot«, sagt Link und sieht mich mit einem Blick an, der Verheißung, Abenteuer und Zärtlichkeit in einem ausdrückt .
Unser Weg führt uns über einen hölzernen Steg zu einer alten, rostigen Brücke. Unsere Schritte hallen metallisch, während unter uns träges, trübes Wasser fließt. Es ist heiß, es ist feucht. Ab dem Moment, da man einen klimatisierten Raum oder ein Auto verlässt, beginnt man zu schwitzen. Während der letzten Monate habe ich mich daran gewöhnt. Man kann ohnehin nichts dagegen tun, also akzeptiert man es, sagt Hugo. Und wie bislang noch jedes Mal behielt er auch damit recht.
Auf der anderen Seite der Brücke biegen wir rechts ab. Wir befinden uns nun regelrecht im Dschungel. Der Pfad ist überwuchert von Ranken, in denen sich meine Knöchel hier und da verfangen. Blätter streifen meine Schultern, und der Klang von fremden Vogelschreien unterbricht ab und zu die müde Mittagsstille.
»Welches
Boot?«, frage ich, weil dieser Ort so weit von der Zivilisation entfernt scheint, wie man nur sein kann.
»Es gehört einem Freund meines Vaters. Ich kann es leihen, wann immer ich möchte.«
Ein paar Hundert Meter weiter kommen wir tatsächlich an eine kleine Lichtung mit abgeflachtem Ufer. Und hier, zwischen Schilf und Schlingpflanzen, liegt ein Boot.
»Ein Mud Boat«, sagt Link und deutet auf den einfachen Aluminiumkahn mit Außenmotor und großer Ladefläche. »Es ist nicht das komfortabelste.« Er klingt beinahe entschuldigend.
»Es ist perfekt«, sage ich und greife nach seiner Hand, die er nach mir ausstreckt, um mir an Bord zu helfen. Das Boot schwankt leicht, aber durch die große Fläche, mit der es auf dem Wasser aufliegt, hält sich die Bewegung in Grenzen.
Dann schubst Link das Boot ins offene Wasser, springt selbst an Bord und zieht am Motorkabel, bis der Motor knurrt und brummt und hustet .
Link hockt im Bug des flachen Boots und gibt die Richtung vor, und ich setze mich aufs Heck und baumle mit den Beinen über der Ladefläche. Links und rechts von uns sind die Ufer vollkommen zugewachsen. Schilf, exotisch aussehende Farne und Wasserlilien mit ihren gelben und weißen Blüten wachsen bis weit ins Wasser hinein. Dahinter erheben sich großblättrige Büsche und schlanke Baumstämme mit ausladenden Kronen. Hier und da ragt ein kahler, toter Baum gespenstisch aus dem Wasser und verleiht der Szenerie zusammen mit dem Feenhaar etwas beinahe Magisches. Über uns ist der blaue Himmel wolkenlos, das Wasser unter uns hat einen warmen Beigeton.
Bald verlassen wir den breiten Fluss und folgen einem der kleineren Arme. Die Sträucher und Baumkronen treffen sich in der Mitte über uns, spenden angenehmen Schatten und tauchen das Boot und uns in ein grünes Licht. Die Sonne bricht sich im Blätterdach.
Wir fahren in immer kleinere Wassergassen. Ab und zu muss ich mich unter Ästen hindurchducken. Ich genieße die stille Zweisamkeit mit Link. Das Tuckern des Motors, das zwar nicht so laut ist, dass man sich nicht unterhalten könnte, aber doch so andauernd, dass wir, abgesehen von einigen kurzen Hinweisen oder Bemerkungen in der warmen Luft, schweigen.
Love is Loud – Ich höre nur dich Page 19