Charisma

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Charisma Page 13

by Michael G. Coney


  Diese Bemerkung brachte die Sache ins Rollen. Eine tiefsinnige, wenn auch manchmal etwas krause Diskussion begann, während der sich herausstellte, daß jeder von uns einen der anderen verdächtigte. Das heißt, jeder sprach so, als ob nicht er der Mörder sei, er jedoch in dieser Gruppe zu suchen sei. Ich glaube, daß Dorinda mich im Verdacht hatte; auf jeden Fall maß sie mich mehrmals mit merkwürdigen Blicken, die mich fragen ließen, wie sie es ertragen konnte, einen Killer zu beschäftigen. Dieser Verdacht wurde allerdings dadurch ausgeglichen, oder vielleicht sogar gelöscht, daß ich sie verdächtigte – was auch Pablo und Dick taten, wie ich annehme.

  So ist es nun einmal mit der Dankbarkeit.

  Wir müssen eine seltsame Vierergruppe abgegeben haben; wir saßen unmittelbar vor der Bar, tranken rasch, sprachen in dringlichem Flüsterton und warfen immer wieder theatralische Blicke über die Schultern. Nach einer Weile begann die Band im Nebenraum zu spielen, und es kamen mehr Gäste herein.

  Inzwischen hatte die Wirkung des Alkohols die der Antischock-spritze überlagert, und ich wurde entsetzlich müde. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an mein Bett.

  Als ich mich mühsam aufstemmte, glitt Dorinda von ihrem Stuhl.

  »Nur einen einzigen Tanz, bevor wir alle zu Bett gehen, John«, bat sie. »Ich sehe, daß Sie todmüde sind.«

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  Ich geleitete sie ins Frühstückszimmer, das an Tanzabenden auch als Ballraum dient; wir standen einander gegenüber, und ich legte meinen Arm um sie. Die Band spielte einen langsamen Oldie: ›September Song‹. Sie war nicht besonders gut.

  Wir begannen auf eine Art zu tanzen, die ich für Arbeitgeberin und Arbeitnehmer für angemessen hielt; dann glitt ihre Hand von meiner Schulter auf meine Hüfte. Ihr Haar näherte sich meinem Gesicht, und mit ihrem linken Arm zog sie mich näher, immer näher, und noch näher, und, Jesus, noch näher. Wir tanzten, und ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, wie peinlich es mir war, und den Eindruck zu erwecken, daß es mir Spaß machte.

  Ich wußte nicht, was ich von der Sache halten sollte. Ich überlegte und überlegte, und als die Sängerin die Stelle des Songs erreicht hatte, wo es heißt, ›diese goldenen Tage verbringe ich mit dir‹, war ich noch immer nicht darauf gekommen. Die Musik verklang mit dem Versuch, alle Instrumente im gleichen Augenblick denselben Ton spielen zu lassen, was über die Fähigkeiten der Instrumentalisten hinausging.

  Dorinda ließ mich los, trat einen Schritt zurück und lächelte; bleich und unbedeutend, und eine reiche Witwe.

  »Danke, John«, sagte sie.

  Ich ließ das Sonnenlicht durch meine geschlossenen Lider dringen und genoß das Gefühl einer totalen Reinigung und eines Wohlbehagens, das ich an jenen seltenen Morgen erlebe, wenn am Vorabend eine ausgewogene Mischung aus körperlicher Ermüdung und Alkohol einen perfekten, tiefen Schlaf hervorge-rufen hatte. Dann öffnete ich die Augen und erkannte, mit einigen Schwierigkeiten, die Kabine der Hausyacht, in der ich lag. Irgendwie mußte ich hierhergekommen sein, nachdem ich Dorinda Mellors verlassen hatte, wahrscheinlich angetrieben von der panischen Angst, die Nacht mit ihr unter einem Dach zu verbringen. Ich lachte leise, fühlte mich frisch und wach. Ich

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  hatte mich nicht mehr so wohl gefühlt, seit Susanna gestorben war.

  Selbst der Gedanke an Susanna bedrückte mich nicht. Sie lebte noch immer, irgendwo, und sie war noch immer erreichbar…

  Ich rollte aus der Koje, richtete mich auf und atmete tief durch; die kalte Morgenluft schnitt scharf in mein Lungengewebe. Ein Hustenanfall schaltete das Gehirn wieder ein; ich zog mich an und setzte Kaffeewasser auf, schnüffelte und fragte mich, ob es wieder nach Propan roch. Ich wusch mich mit kaltem Wasser und setzte mich dann mit einem dampfenden Becher Kaffee auf den Bettrand. Die Kabine sah gut aus, gefirnistes Mahagoni glänzte warm im frühen Licht der Sonne. Durch das Fenster sah ich eine Reihe von Booten, die auf dem glitzernden Wasser dümpelten, mit einer Möwe als Wächter auf jeder Mastspitze.

  Der Ausblick änderte sich, als das Boot vom Wind ein wenig gedreht wurde und das Falcombe Hotel in Sicht kam. Ich sah jemanden über den Rasen zum Flußufer gehen, und er trug irgend etwas in den Händen. Ich glaubte den Gang Carters erkennen zu können – der wahrscheinlich wieder Eigentum des Hotels zum Boot eines Freundes schaffte. Jenseits des Hotels erhob sich die dunkle, zerklüftete Silhouette des Kaps, und an dessen anderer Seite lag die Starfish Bay.

  Aber Susanna lebte. Natürlich lebte sie an einem Morgen wie diesem.

  Und Inspektor Bascus war nicht einsatzfähig. Vorläufig war ich frei, konnte tun und lassen, was ich wollte – jedenfalls, bis er wieder auf den Beinen war oder bis ein Ersatz für ihn eintraf. Die Polizei hatte mir gestern nacht gestattet, das Hotel zu verlassen.

  Das mochte ein Versehen gewesen sein, das auf die nach Bascus’ Unfall entstandenen Unruhe zurückzuführen sein mochte, doch ich glaubte es nicht. Sie konnten nicht vier Verdächtige wegen desselben Verbrechens festhalten.

  Während ich meinen Kaffee trank, machte ich mir einige Gedanken über diese Verdächtigen.

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  Pablo. Er konnte durch Mellors’ Tod nur gewinnen – hatte bereits erheblich gewonnen, falls Dorinda zu ihrem Wort stand, und ich war aus irgendwelchen Gründen überzeugt, daß sie es tun würde. Pablo hatte auch Gelegenheit für den Mord gehabt, da sein Zimmer unweit dem Mellors’ lag. Sein Alibi wurde nur von Dick bestätigt, und das mochte der Polizei vielleicht nicht reichen. Doch ich konnte, ehrlich gesagt, nicht glauben, daß Pablo zu einem Mord fähig wäre.

  Dick hatte kaum ein Motiv, Mellors zu töten, außer seinem normalen Ekel vor der Art, wie der Mann Pablo behandelt hatte.

  Das aber war kein Motiv für einen Mord, möglicherweise jedoch Grund genug, Pablos Alibi zu bestätigen.

  Und Dorinda. Sie hatte ebenfalls die Möglichkeit gehabt. Motiv?

  Welche Frau wollte nicht einen Ehemann loswerden, der so reich und so widerlich war wie Mellors? Wieder dachte ich über ihr gestriges Benehmen nach. Sie hatte sich zweifellos die allergrößte Mühe gegeben, uns alle als Freunde zu gewinnen –

  als ob sie fühlte, daß sie unsere Freundschaft in der Zukunft brauchen würde.

  Ich fragte mich, was für eine Waffe sie benutzt haben mochte, und eine Weile spielte ich mit der Vorstellung, daß es eine Art Injektionsspritze gewesen sein mochte, ähnlich der, mit der sie mich im Krankenhaus anästhesiert hatten. Ich stellte mir Mellors schlafend auf dem Bett liegend vor und sah Dorinda auf ihn zutreten, ihr normaler, neutraler Gesichtsausdruck von einem unvorstellbaren verdrängt; sie beugt sich über ihn und schießt einen nadelfeinen Strahl einer unter hohem Druck stehenden Flüssigkeit durch sein Lid, durch sein Auge in sein Gehirn… Ich erschauerte, dann strich ich den Gedanken. Das würde die Pulverspuren nicht erklären.

  Ich trank den Rest meines Kaffees und stellte den Becher in den Spülstein; er wirkte neben den vielen Whiskygläsern der letzten Tage ein wenig fehl am Platz, wie eine Nonne in einer Masse von Fußballfans. Ich beschloß, weniger zu trinken, und trat aufs Achterdeck hinaus. Ich lehnte mich an die Reling und starrte in das strömende Wasser. Irgend etwas stieß mein

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  Unterbewußtsein an, ein winziger Einfall, der verschwunden war, bevor ich ihn greifen konnte.

  Später, überlegte ich, würde ich Stratton besuchen. Ich würde mich wieder zur Verfügung stellen und mit seiner Hilfe eine in der Vergangenheit liegende Welt aufsuchen. Meine Fingerspitzen zitterten ein wenig, als ich mir die wirbelnde Wand vorstellte, doch dann verging das Gefühl wieder. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was Sofortversiegelung war, daß es eine Wunde so rasch zum Heilen brachte. Ich hoffte, das Mittel war ausreichend getestet worden.

  Ich versuchte, mir eine Vergangenheitswelt vorzustellen, in der ich Susanna treffen würde. Wenn ich sie treffen sollte, war es mir vielleicht möglich, ihren Tod zu verhindern, und dann… Und dann was? Ich konnte nicht in ih
rer Welt bleiben, und ich konnte sie bestimmt nicht in die meine schleppen… Und während ich von immer stärker werdender Bedrückung gepackt wurde, begann ich einzusehen, wie unwahrscheinlich es war, daß wir uns jemals wiedertreffen sollten – weil sie vor mir gestorben war. Deshalb würde in jeder Welt, in der sie leben mochte, auch mein Doppelgänger noch am Leben sein, was es mir unmöglich machte, sie zu betreten…

  Es ist eins der seltsamsten Phänomene, wie allein der Prozeß normalen Denkens, ohne jede Beeinflussung von außen, eine Hochstimmung in tiefe Niedergeschlagenheit verwandeln kann.

  Ich war derselbe Mann, der erst vor wenigen Minuten auf das Achterdeck hinausgetreten war und sorglos glücklich ins Wasser geblickt hatte. Jetzt fühlte ich mich so tief unten, daß ich mich am liebsten hineingestürzt hätte. Das, überlegte ich, ist der Moment, wo ein Mann wirklich einen Scotch braucht.

  »Hallo, John!« Pablo stand auf der Pier. »Du siehst heute morgen ziemlich mitgenommen aus.«

  »Vor einer Minute fühlte ich mich noch großartig.«

  »Daran habe aber ich keine Schuld. Es ist die Nachwirkung des Schocks. Du hast gestern immerhin einiges mitgemacht.« Er kam an Bord. »Willst du mir etwas darüber erzählen? Ich weiß

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  nicht, ob du dich an viel von dem erinnern kannst, was gestern nacht geschehen ist. Aber du hast kaum ein Wort darüber verloren, was mit deiner Hand passiert ist.«

  »Ich habe mir die Finger in einer Wagentür festgeklemmt.«

  »Unsinn. Dein Problem ist, daß du kein Vertrauen in Menschen hast. Und umgekehrt bist du nicht im geringsten an ihren Problemen interessiert. Du bist selbstsüchtig, John. Verschlossen. Ich kenne dich seit geraumer Zeit, und doch habe ich das Gefühl, dich kaum zu kennen. Ich meine, was weiß ich schon von dir?«

  »Mein Gott, das weiß ich auch nicht.«

  »Du magst keine Milchhaut in deinem Kaffee herumschwimmen haben, du magst keine Politik und keinen Lammbraten. Das ist so ziemlich alles, was ich jemals erfahren habe. Oh, und du magst Frauen viel mehr, als du es zugibst, obwohl du bei vierzig Jahren oder so eine Grenze ziehst, woraus ich schließe, daß du deine Mutter nicht sehr gemocht hast.«

  »Die alte Kuh«, sagte ich und spielte sein Spiel mit. »Sie hat mich unterdrückt. Das ist natürlich auch der Grund dafür, daß ich zuviel rauche. Magst du einen Drink?«

  »Ich habe bald eine geschäftliche Besprechung mit Dorinda und möchte dafür einen klaren Kopf behalten. Danke. Aber bevor ich gehe, möchte ich dir noch etwas sagen. Ich lasse dich ungern in so einem Zustand allein.«

  »Mir fehlt nichts.«

  »Nein. Ich habe nur so ein Gefühl, daß es nicht richtig ist. Gut.

  Ich nehme an, du weißt nicht einmal, warum ich Pablo genannt werde. Aber wir wollen uns damit nicht aufhalten. Ich möchte dir etwas erzählen, was mir im vergangenen Winter passiert ist, am 19. Februar, um genau zu sein. Daß du deine Fingerspitzen verloren hast, erinnert mich daran.«

  Ich sah einen Schwarm Sprotten die Oberfläche des Wassers zernarben, als Pablo mit seiner Geschichte begann. Während er

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  mit seiner tiefen Stimme sprach, bekam ich immer mehr das Gefühl, sie bereits zu kennen, also unterbrach ich ihn, damit er schneller zum Ende käme.

  »Okay, also es hämmert an die Schlafzimmertür, und es ist der Ehemann, der früher als erwartet nach Hause kommt. Also kommt es zu einer peinlichen Szene und einer gewaltigen Schlägerei. Bring die Story schon zu Ende, Pablo.«

  »Das ist der Punkt, wo du dich irrst, John. Du nimmst an, daß alle Menschen gleich sind, nichts als Serienprodukte, die dir zu Gefallen ihre Rollen spielen. Du nimmst an, daß ich, den man manchmal Pablo Blakeley nennt, auch nicht anders bin als die anderen. Wenn du wirklich wissen willst, was passiert ist: Ich bin aus dem Fenster geklettert.«

  »Das ist auch schon mal dagewesen«, wandte ich ein.

  »Zu der Zeit war Originalität die geringste meiner Sorgen. Also, ich stieg aus dem Fenster, und die, äh – Lady zog hinter mir die Scheibe herunter. Es war eins von diesen altmodischen Fenstern.

  Dann öffnete sie die Schlafzimmertür und ließ ihren Mann ein.

  Sie entschuldigte sich wortreich dafür, ihn ausgeschlossen zu haben, doch sie glaubte ein Geräusch gehört zu haben und sei ängstlich geworden.

  ›Ein Geräusch?‹, sagte er und wollte zum Fenster gehen.

  ›Es ist längst verschwunden‹, sagte sie und zog ihn zurück.

  ›Laß uns zu Bett gehen, Arthur.‹ Dann folgte eine zärtliche Szene.«

  »Woher weißt du das?« fragte ich.

  Er lächelte mich traurig an. »Weil ich noch immer da war. Ich hing mit meinen Fingerspitzen am Fensterbrett. Es war zwei Stockwerke hoch, und ich wagte nicht zu springen. Ich habe schon immer Angst von Höhen gehabt, und außerdem hatte sie meine Fingerspitzen eingeklemmt, als sie das Fenster herabge-knallt hatte. Wenn ich sie auch nur eine Sekunde lang entspannt hätte, wären sie nebeneinander zwischen Fenster und Fensterbrett zurückgeblieben. Es wäre ein etwas ungewöhnlicher Anblick

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  gewesen, wenn jemand das Fenster am nächsten Morgen geöffnet hätte.«

  Ich verzog das Gesicht und massierte vorsichtig meine Hände.

  Pablo fuhr fort: »Plötzlich fuhr der Mann auf, als er mich stöhnen hörte. ›Jetzt kann ich es selbst hören‹, sagte er. ›Jesus, ich glaube, da ist irgendein Bastard am Fenster!‹ Sekunden später schob er das Fenster empor, starrte zu mir herab. ›Was, zum Teufel, treiben Sie da?‹ fragte er. Er war groß und kräftig und trug einen gestreiften Pyjama.

  In diesem Moment hatte ich eine Inspiration, ›Ich bin ein Voyeur‹, sagte ich.

  ›Ein was?‹

  ›Ich gehe umher und sehe zu, wenn Frauen sich ausziehen‹, sagte ich. ›Ich kann nichts dafür. Ich weiß auch nicht, was über mich kommt. Es ist ein entsetzliches Leiden.‹

  ›Jesus‹, sagte er und sah mich interessiert an. ›Warum tun Sie es denn, wenn es Ihnen kein Vergnügen macht? Sind Sie eine Art Masochist?‹

  ›Es macht mir Vergnügen‹, versicherte ich ihm. ›Ich meine, wenn ich dabei bin. Aber später bekomme ich dann diese Schuldgefühle.‹ Ich versuchte hineinzuklettern, doch er schob mich zurück.

  ›Und wie ist es mit Frauen, die sich anziehen?‹ fragte er, anscheinend bereit, die ganze Nacht über meine Perversion zu diskutieren. ›Macht Ihnen das genau so viel Spaß, wie Frauen beim Ausziehen zu beobachten? Wenn sie dabei sind, meine ich, bevor diese Schuldgefühle einsetzen.‹

  ›Es ist großartig‹, sagte ich matt, ›einfach großartig.‹

  ›Das freut mich, um Ihretwillen‹, sagte er. ›Weil meine Frau sich in etwa acht Stunden anziehen wird. Ich hoffe, daß sich das Warten für Sie lohnt.‹«

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  Pablo seufzte und sah mir mit einem Hundeblick in die Augen.

  »Mit diesen Worten zog er das Fenster wieder herab. Hart und fest.«

  Die Sprotten waren jetzt sehr nahe gekommen, und kleine Schwärme schossen dicht unter der Oberfläche hin und her; hin und wieder mischte sich der lange, stromlinienförmige Körper eine Makrele unter sie. Ich blickte schweigend zu ihnen hinab und wartete.

  »Sieh dir das an«, sagte Pablo. »Ich wünschte, ich wäre noch in der Lage, eine Fischpistole zu benutzen.« Er streckte seine Finger aus und betrachtete sie. Ich konnte nichts Ungewöhnliches an ihnen erkennen. Ich hatte nie etwas Ungewöhnliches an Pablos Fingern erkennen können. Die ganze Geschichte war reine Erfindung. Pablo hob die rechte Hand.

  Er blickte an seinem ausgestreckten Arm entlang, den Zeige-finger gekrümmt wie um einen Pistolenabzug. »Bang«, sagte er, als wieder eine Makrele aus dem Wasser schnellte.

  So einfach war das, und plötzlich stand die Vision wieder vor meinen Augen – aber anstelle von Pablo sah ich Dorinda.

  Dorinda, die zu ihrem schlafenden Ehemann tritt, eine Fischpistole in der Hand, näher und näher, dann die Waffe aus einer Distanz
von nur einem Zoll auf das geschlossene Auge richtet, abdrückt…

  Und dann, oh Gott, auf den Knopf drückt und den scharfen, mit Widerhaken bewehrten Bolzen in den Lauf zurückspult und das Zimmer verläßt, so daß zwar Pulverspuren auf dem Gesicht des Toten zurückbleiben, jedoch keine Kugel in der Wunde gefunden wird…

  »Ist deine Geschichte wahr, Pablo?« fragte ich mit zitternder Stimme.

  »Du hast die Pointe, wie immer, nicht begriffen, John. Die Wahrheit oder Unwahrheit spielt in deinem Fall keine Rolle.

  Worauf es ankommt, ist, daß du dich wenigstens für einen

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  Moment für die Probleme eines anderen Menschen interessieren solltest.«

  Langsam, unauffällig bückte ich mich; Pablo starrte über den Hafen. Ich öffnete die Tür des kleinen Schranks, in dem ich mein Angelzeug aufbewahrte.

  Normalerweise lag die Pistole, in Ölpapier gewickelt, auf dem Bordbrett an der Rückwand des Schranks.

  Normalerweise.

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  ICH GLAUBE, DASS ICH erleichtert geseufzt habe, als ich in Strattons Büro trat. Das Tempo und die emotionale Belastung der letzten Tage hatten ihre Spuren hinterlassen, so stark, daß der Anblick des Wissenschaftlers, der mich mit überlegenem Widerwillen über seinen Schreibtisch hinweg anstarrte, in seiner Normalität auf mich beruhigend wirkte. Ich konnte fast fühlen, wie sich mein Unterbewußtsein an die Vorstellung klammerte: Stratton ist nicht verrückt wie Pablo, oder rätselhaft wie Dorinda, oder tot wie Mellors. Stratton haßt mich nur, hat mich vom ersten Augenblick an gehaßt – eine gesunde Konstante in dieser Welt des Irrsinns. Er löste seinen Blick von mir und sah wie immer den von seiner Zigarette emporkräuselnden Rauchwolken nach, als ob dieser Anblick erheblich erfreulicher wäre.

  »Ich nehme an, daß Sie zu einem neuen Versuch bereit sind«, sagte er.

  »Warum nicht?«

  »Richtig… Ich habe einen recht interessanten Einfall gehabt, Maine. Nehmen wir einmal an – nur für den Augenblick –, daß Sie Mellors ermordet hätten…«

 

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