Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 2

by Bianca Iosivoni


  »Natürlich«, erwiderte ich gedehnt und nippte an meinem Kaffee. Okay, andere Taktik. »Was sagt eigentlich dein Freund dazu, dass du um vier Uhr morgens bei einem anderen Kerl auf der Matte stehst und ihn zum Sport nötigen willst?«

  »Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass ich Daniel erst um Erlaubnis bitten muss, bevor ich irgendetwas tue.« Sie stützte sich mit beiden Händen auf die Kochinsel und fixierte mich. »Gib mir Bescheid, wenn du im 21. Jahrhundert angekommen bist, Mason.«

  Ich gab mir keine Mühe, mein Grinsen zu verbergen. Auch wenn mich diese Frau nicht ausstehen konnte, mir gefiel, dass sie nie um eine Antwort verlegen zu sein schien.

  Kopfschüttelnd richtete sie sich wieder auf. »Und was sagt deine Freundin dazu, dass du mit einer anderen Frau um fünf Uhr morgens Kaffee in deiner Wohnung trinkst?«

  Schlagartig verging mir das Grinsen. Ich räusperte mich und nahm einen großen Schluck aus meiner Tasse. »Das mit Jenny und mir ist gerade …«

  »Ach? Ist es wieder so weit?«

  Ich verschluckte mich an meinem Kaffee. »W-was … was soll das heißen?«, brachte ich hustend hervor.

  Grace verdrehte die Augen, wandte sich kurz ab und stellte mir gleich darauf ein Glas Wasser hin. Ich stürzte es hinunter, als würde es um Leben und Tod gehen. Scheiße … Ich hustete ein letztes Mal und klopfte mir gegen die Brust. Meine Augen tränten, und meine Kehle brannte.

  »Was zum Teufel sollte das denn?«, stieß ich hervor und räusperte mich, weil ich so krächzend klang.

  »Komm schon, jeder weiß von euren ständigen On und Offs.«

  Autsch. Das hatte ich mir zwar schon denken können, aber so direkt hatte es mir noch niemand ins Gesicht gesagt. Und wenn ich so darüber nachdachte, wollte ich wirklich nicht mit Grace Watkins über mein Liebesleben – oder vielmehr das Fehlen dessen – reden. Dafür war sie mir zu brutal ehrlich. Nur Tate war schlimmer, denn abgesehen von ehrlich war die einfach nur gemein.

  »Vergiss, dass ich gefragt habe.«

  Sie lächelte selbstzufrieden. »Liebend gern. Also? Wie sieht es mit dem Training aus?«

  »Habe ich eine Wahl?«

  »Nein.«

  Ich stieß ein lautloses Lachen aus. »Alles klar.«

  »Eins noch.«

  »Ja?«

  Sie zögerte, reckte dann aber das Kinn vor. »Diese Sache bleibt unter uns, verstanden?«

  Ich blinzelte überrascht, nickte jedoch. »Meinetwegen«, erwiderte ich, trank die Tasse aus und stand auf. »Dann lass uns gleich loslegen.«

  Überrascht wich sie zurück. »Wie bitte? Jetzt sofort?«

  »Dachtest du etwa, du kannst mich um vier Uhr morgens aus dem Bett schmeißen und ich werde dich nicht sofort da rausscheuchen, um dich mit zig Liegestützen zu quälen?«

  Sie kniff die Augen zusammen. »Ist das die Rache dafür, dass ich dich um kurz vor fünf geweckt habe?«

  »Jepp.« Ich streckte mich. »Denkst du, du kannst es mit mir aufnehmen?«

  Statt einer Antwort stieß sie sich von der Kücheninsel ab, machte einen großen Bogen um mich und hob ihre Tasche vom Sofatisch auf. Dann steuerte sie die Tür an. »Und wie ich das kann. Wir treffen uns in zehn Minuten vor dem Wohnheim«, fügte sie hinzu, bevor die Tür hinter ihr zufiel.

  Sekundenlang starrte ich auf das dunkle Holz und fragte mich unweigerlich, was um alles in der Welt ich mir da gerade eingebrockt hatte.

  Grace

  Was um alles in der Welt war in mich gefahren, diese verrückte Idee durchzuziehen und ausgerechnet Mason Lewis darum zu bitten, mit mir zu trainieren? Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich die Treppen nach unten nahm. Ich konnte den Kerl nicht leiden. Er war ein sexistischer Mistkerl, eine Drama-Queen, ein Partytier und jemand, der ständig im Rampenlicht stehen musste. Aber er war auch jemand mit einer unglaublichen Stimme. Einer Stimme, die mir unter die Haut ging, die mich den ganzen Sommer über verfolgt hatte und … Nein. Stopp. Zurückspulen. Er war ein Mistkerl. Ein Idiot. Außerdem hatte er sich im vorletzten Semester dafür eingesetzt, dass ich meine erste Hauptrolle nicht bekam. Und warum? Weil mein Äußeres und meine Stimme angeblich nicht zu der Rolle gepasst hatten. Stattdessen war sie an eine blonde Schönheit mit Sopranstimme gegangen, denn sie schaffte die hohen Töne im Musikstück, die ich nicht erreichen konnte. Nicht mehr.

  Unbewusst strich ich über die etwa vier Zentimeter lange Narbe an meiner linken Schläfe und ließ die Hand sofort wieder sinken, als mir klar wurde, was ich da tat. Jetzt war nicht die Zeit und der Ort, um darüber nachzudenken, warum ich eine Rolle nicht bekommen hatte, die man mir früher auf dem Silbertablett serviert hätte. Ich warf einen kurzen Blick auf die schmale roségoldene Uhr an meinem Handgelenk. Noch acht Minuten. Ich musste mich beeilen, wenn ich mich an meine eigene Zeitangabe halten wollte. Und das würde ich, denn Pünktlichkeit und gute Manieren waren die wenigen sinnvollen Dinge, die man mir zu Hause beigebracht hatte.

  Ich stieß die Eingangstür auf und hastete über den Platz. Mein Wohnheim war eines von vier Gebäuden, die um eine Grünanlage herum gebaut waren. Mason und Emery teilten sich eine WG in dem einen Haus, mein Einzelzimmer befand sich im Wohnheim gegenüber. Noch hatte die Spätsommerhitze nicht eingesetzt, und es war ein angenehm frischer Dienstagmorgen. Straßenlampen beleuchteten den Weg, und zwischen den Wolken am Himmel meinte ich, ein vereinzeltes Funkeln erkennen zu können. Bei Weitem nicht so viele Sterne wie zu Hause in Montana. Für mehr als einen kurzen Blick nach oben blieb mir jedoch keine Zeit. Ich betrat mein Wohnheim, nahm den Aufzug nach oben und zog mir die Kleider aus, sobald ich mein Zimmer betreten hatte. Meine Sportsachen zu finden, war nicht schwer. In dem winzigen Raum hatte ich einen noch winzigeren Schrank, und bis auf die Sportkleidung warteten so ziemlich alle anderen Sachen darauf, gewaschen zu werden.

  Ich riss die ordentlich zusammengefalteten Kleidungsstücke aus dem Schrank, schlüpfte hinein, schnappte mir eine Wasserflasche aus dem Minikühlschrank in der Ecke und stürmte zurück in den Flur. Noch im Laufen zog ich ein Zopfgummi aus der Hosentasche, zögerte jedoch. Ich trug meine Haare immer offen. Nicht nur, weil mir das besser gefiel, sondern auch, um diese schreckliche Narbe zu verbergen. Aber wenn Masons Bootcamp auch nur ansatzweise das war, was ich online über Militärtraining gelesen hatte, würde ich mit offenen Haaren sterben. Außerdem konnte es mir sowieso egal sein, was dieser Typ dachte.

  Kurz entschlossen band ich mir das schwarze Haar zu einem Zopf zusammen, auch wenn ich diese Frisur verabscheute, und hastete weiter.

  Als ich wieder nach draußen trat, war Mason schon da. Er hatte sich eine lange Hose angezogen und ein T-Shirt übergeworfen, dazu trug er ein Basecap auf dem Kopf. Verkehrt herum. Natürlich. Was auch sonst? Ich unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. In seiner Miene war keine Müdigkeit mehr zu erkennen, während er mir entgegensah und dabei auf der Stelle auf und ab sprang, um sich aufzuwärmen.

  Er mochte zwar kein Sportler sein wie Luke, der festes Mitglied des Leichtathletikteams war, aber man sah Mason an, dass er noch immer regelmäßig trainierte. Das schlichte graue T-Shirt spannte sich bei jeder Bewegung und betonte die Muskeln darunter. Nett. Genau wie sein Tattoo. Es bedeckte seinen ganzen linken Arm und passte so überhaupt nicht zu jemandem, dem man die Militärvergangenheit noch immer an seinem kurzen Haarschnitt ansah: ein riesiger schwarzer Violinschlüssel, dazu einzelne Textpassagen, die vermutlich aus Songtexten stammten. Da ich jemand war, der sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen konnte, war ich sofort neugierig geworden, als ich die Tätowierung das erste Mal gesehen hatte. Allerdings war ich Mason nie nahe genug gekommen, um die Schrift auf seiner Haut entziffern zu können. Oder vielmehr war ich beim einzigen Mal, bei dem ich ihm tatsächlich näher gekommen war, viel zu sehr von seinen Augen, seinen Händen und dem schmalen Silberring in seiner Unterlippe abgelenkt gewesen.

  Ich hatte mich nie gefragt, wie es wohl wäre, jemanden mit einem Lippenpiercing zu küssen, weil diese Leute grundsätzlich nicht mein Typ waren. Aber jetzt hatte ich meine Antw
ort. Obwohl es nur eine Aufgabe war, die Tate uns beiden im letzten Semester beim Spielen von Wahrheit oder Pflicht aufgezwungen hatte, wurde ich die Erinnerung an diesen Kuss einfach nicht los. Er hatte sich förmlich eingebrannt. So sehr, dass ich nun viel zu lange auf Masons Mund starrte.

  Hastig senkte ich den Blick und begann mit meinen eigenen Dehnübungen. Im Hause Watkins aufzuwachsen bedeutete, einen strikten Sport- und Ernährungsplan einzuhalten. Und auch wenn ich mir inzwischen erfolgreich abgewöhnt hatte, bei jeder Mahlzeit Kalorien zu zählen und mich schlecht zu fühlen, wenn ich überhaupt etwas aß, wusste ich noch genau, wie man sich vor dem Fitnesstraining richtig dehnte, um Verletzungen vorzubeugen. Nur dass das hier weder Aerobic noch Pilates oder Bauch-Beine-Po-Übungen sein würden. Ich hatte nach einem Army-Workout gefragt und, wenn ich das Zucken in Masons Mundwinkeln richtig deutete, würde ich genau das bekommen.

  Er ließ die Arme sinken. »Bereit?«

  Ich nickte.

  »Gut. Wir beginnen mit einem kleinen Lauf zum Aufwärmen und damit ich einschätzen kann, wie fit du bist.« Er deutete auf die Grünfläche zwischen den Wohnheimen. »Fünfmal um den Platz sollte reichen.«

  Ich zögerte. Joggen war zwar nie mein Lieblingssport gewesen, aber ich kam damit zurecht. Das war es auch nicht, was mich innehalten ließ. Kurz sah ich mich nach allen Seiten um. Hinter ein paar Fenstern der Wohnheime brannte Licht, aber die meisten waren dunkel, weil kaum einer unserer Kommilitonen jetzt schon wach war. Was nicht hieß, dass sich das nicht in der nächsten Viertelstunde ändern konnte.

  »Können wir vielleicht woanders trainieren?« Ich versuchte, meine Stimme völlig neutral klingen zu lassen, damit Mason nicht auf die Idee kam, dass mir das irgendwie wichtig sein könnte.

  Mason starrte mich einen Moment lang stumm an, dann bogen sich seine Mundwinkel nach oben. »Angst, mit mir gesehen zu werden, Prinzessin?«

  Prinzessin?

  Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Es ist mein Gefallen, oder nicht? Du hast mir damals alles versprochen, was ich will. Und ich will einen anderen Trainingsort.«

  Theatralisch rollte er mit den Augen. »Ich wusste, dass ich das eines Tages bereuen würde. Okay, lass uns gehen.«

  »Wohin?«

  »Hinter dem PAC gibt es eine Wiese, auf der höchstens mal ein paar unserer lieben Kommilitonen für ihre Rollen üben, aber frühestens nachmittags. Jetzt ist da niemand. Und keiner kommt vorbei und sieht dich zufällig mit mir«, fügte er sarkastisch hinzu.

  Ich presste die Lippen aufeinander, um eine ebenso sarkastische Antwort zurückzuhalten, und nickte stattdessen. »In Ordnung.« Ich zögerte einen Herzschlag lang, rang mir dann aber doch ein leises »Danke« ab.

  Mason schnaubte. »Stets zu Diensten.«

  Er joggte los, und ich folgte ihm. Das Schweigen zwischen uns dehnte sich aus, und keiner von uns versuchte, es zu brechen. Nicht einmal dann, als es zunehmend angespannter wurde.

  Warum tat ich mir das doch gleich an? Ach ja. Eine schlaflose Nacht und ein Kommentar von meinem Freund Daniel, den er inzwischen sicher längst wieder vergessen hatte. Aber ich nicht.

  Bist du sicher, dass du noch Nachtisch essen möchtest?

  Eine simple, beinahe unschuldige Frage, aber darin schwang so viel mehr mit. Am Samstag waren wir vor dem offiziellen Semesterstart mit ein paar Leuten ausgegangen. Im Diner hatte ich nur einen Salat bestellt, anschließend jedoch mit den Desserts geliebäugelt – die Auswahl von Eiscreme über New York Cheesecake bis hin zu Mini-Donuts war einfach zu verlockend gewesen. Zumindest bis Daniel diesen Spruch rausgehauen hatte. Es war nur ein Scherz gewesen, und der ganze Tisch hatte gelacht. Mich eingeschlossen. Aber gegen das Ziehen in meinem Bauch war ich machtlos gewesen. Genauso wenig wie gegen meinen Entschluss, doch kein Dessert zu bestellen, auch wenn Daniel sich entschuldigt und regelrecht darauf bestanden hatte, dass ich eins nahm. Keine Chance. Weil ich mein Leben lang zu viele solcher Kommentare gehört hatte und sie sich in meinem Bewusstsein verankert hatten. Und dabei spielte es offenbar keine Rolle, ob ich zu Hause in Montana, in einem Umkleideraum bei einer Miss-Wahl irgendwo in den Staaten oder an der Blackhill University in West Virginia war. Kommentare wie diese verfolgten mich und kamen immer wieder, ganz egal, wie sehr ich dagegen ankämpfte und versuchte, sie aus meinem Gedächtnis zu verbannen.

  Oh, Schätzchen, wie siehst du nur aus? Keine Sorge, das kriegen wir schon wieder hin.

  Mit diesen Worten hatte mich Mom am Anfang der Sommerferien zu Hause willkommen geheißen, mich in die Arme genommen und mir anschließend die Wange getätschelt, als müsste sie mich trösten, weil ich mittlerweile fast so etwas wie ein Normalgewicht erreicht hatte. Die nächsten Wochen über waren nur noch Salate, Smoothies und Fitnessdrinks auf den Tisch gekommen, gepaart mit jeder Menge strenger Blicke und den üblichen Sticheleien von ihrer Seite aus. Und zum Abschied hatte sie mir einen neuen Ernährungsplan in die Hand gedrückt. Ich hatte ihn wortlos eingesteckt, obwohl ein Teil von mir mich selbst dafür verachtete.

  Denn im Grunde war ich zufrieden mit meinem Gewicht. Ich hatte nie zu viel auf den Rippen gehabt, sondern war immer eher zu dünn gewesen. Im Gegensatz zu meiner Schwester Gillian, die Kurven besaß, auf die jede Frau neidisch sein konnte, war ich immer ein Strich in der Landschaft gewesen. Als alle anderen Mädchen in meinem Jahrgang Brüste bekamen, musste ich meinen BH noch ausstopfen, um wenigstens halbwegs mithalten zu können und nicht wie ein zu klein geratener, knochiger Junge zu wirken. Erst ein paar Jahre später war das nicht mehr nötig gewesen, aber ich war noch immer so schlank gewesen, dass mich Lehrerinnen in der Schule sogar darauf angesprochen hatten. Ob ich auch genügend essen würde und dass ich jederzeit zu ihnen kommen konnte, wenn ich irgendwelche Probleme hätte. Das hatte schlagartig aufgehört, als ich den ersten Schönheitswettbewerb gewann. Plötzlich sorgte sich niemand mehr um mein Gewicht – abgesehen von Mom, für die es immer ein, zwei Kilo weniger sein könnten.

  Inzwischen hatte ich einen gesunden Body-Mass-Index. Mein Bauch mochte nicht mehr so trainiert und flach sein wie früher, sondern weich, weil ich hin und wieder etwas Süßes aß und weniger Sport machte als früher. Und das war in Ordnung. Zumindest war es das, bis ich diesen Sommer zurück nach Hause gefahren war.

  »Runter auf den Boden. Dreißig Liegestütze!« Masons laute Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Ohne dass ich es gemerkt hatte, waren wir hinter dem Performing Arts Center angekommen. Um diese Zeit war wirklich noch niemand hier unterwegs. Wir waren völlig allein. Keine Zuschauer. Genau so, wie ich es gewollt hatte.

  Ich zögerte nicht, stellte keine Fragen. Innerhalb von Sekunden kniete ich auf dem Gras, nahm die richtige Haltung ein, hievte mich hoch und wieder runter. Einmal. Zweimal. Dreimal. Zehnmal. Fünfzehnmal. Meine Muskeln begannen zu schmerzen und zu zittern. Gott, war ich wirklich so aus der Übung? Ich drückte mich ein weiteres Mal hoch und wieder hinunter. Meine Handgelenke gaben fast unter mir nach. Mein Atem kam nur noch in kurzen, flachen Stößen.

  »Komm schon, Watkins!« Er ging neben mir in die Hocke. »Zwanzig Liegestützen müssen drin sein! Das ist das Minimum für den halbjährlichen Army Physical Fitness Test. Wenn du das nicht hinkriegst, kannst du das Training auch gleich sein lassen.«

  Ich stemmte mich ein letztes Mal hoch, dann gaben meine Arme unter mir nach und ich sank ins weiche Gras. Mein ganzer Körper zitterte, aber Mason war noch nicht fertig mit mir. Er hatte gerade erst angefangen. Als Nächstes waren Sit-ups an der Reihe. Okay, wenigstens darin hatte ich Übung.

  Dachte ich. Nach dreißig begannen die Schmerzen, nach vierzig das Muskelzittern und nach fünfzig war ich völlig erledigt.

  Eine Hand tauchte in meinem Blickfeld auf. Ich zögerte kurz, ergriff sie dann jedoch und ließ mich schwungvoll in die Höhe ziehen.

  »Was kommt als Nächstes?«, keuchte ich, eine Hand auf dem Bauch, die andere in die Seite gestemmt, um mich wenigstens halbwegs aufrecht halten zu können.

  »Zwei Meilen laufen«, antwortete Mason und nahm ein paar Schlucke aus seiner Wasserflasche. »W
ir variieren zwischen Sprinten und Joggen. Dein Ziel ist es, die Strecke in weniger als neunzehn Minuten zu schaffen. Kriegst du das hin?«

  Ich war kurz davor, laut aufzulachen – ob vor Belustigung oder Verzweiflung wusste ich nicht einmal selbst –, aber dafür taten meine Bauchmuskeln zu sehr weh. Stattdessen nickte ich nur und trank selbst etwas Wasser. »Klar!«

  Mason lief los, und ich hetzte ihm nach. Wir ließen das PAC – das Performing Arts Center – hinter uns, schlugen aber nicht den Weg zurück zu den Wohnheimen ein, sondern bogen an der nächsten Kreuzung ab. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich auf meine Atmung zu konzentrieren und das kurz darauf einsetzende Seitenstechen zu ignorieren, um auf den Weg zu achten. Außerdem musste ich aufpassen, ob Mason gerade auf der Stelle joggte, weil wir darauf warteten, dass eine Ampel umschaltete, oder ohne Vorwarnung lossprintete. Er war ein unnachgiebiger Trainer, und obwohl ich ihn innerlich dafür verfluchte, war ich ihm gleichzeitig auch dankbar. Denn es war genau das, was ich wollte. Genau das, was ich brauchte. Ein hartes Training, um wieder in Form zu kommen. Und vielleicht würde ich dann auch endlich all diese Kommentare vergessen können, die mich bis ans andere Ende des Landes verfolgt hatten.

  Kapitel 2

  Grace

  Einen Tag später tat mir noch immer alles weh. Meine Arme und Beine brannten, meine Handgelenke schmerzten und von meinen Bauchmuskeln wollte ich gar nicht erst anfangen. Die fühlten sich nämlich so an, als würde ich nie mehr etwas essen können. Mason war beim Training brutal gewesen, aber genau das hatte ich gewollt: ein brutales militärisches Workout. Und obwohl mir alles wehtat, war das Wunder geschehen: All die Worte in meinem Kopf waren verstummt. Zumindest für den Moment. Und ich fühlte mich besser. Innerlich. Dort, wo es keine Muskeln gab, die vor Anstrengung zittern konnten.

  Ich blieb auf dem großen Platz mit dem Memorial Fountain stehen und atmete tief durch. Die Sonne brannte vom Himmel, und um mich herum herrschte der reinste Trubel. In dieser Woche hatte mein zweites Jahr an der Blackhill University ganz offiziell begonnen. Ich gehörte schon längst nicht mehr zu den Neuen, war kein Freshman mehr, sondern ein Sophomore im dritten Semester. All die Leute, die zusammen mit mir ihren Highschoolabschluss gemacht hatten – mit Ausnahme einer gewissen Emery Lance –, waren schon ein Jahr weiter. Aber ich hatte erst herausfinden müssen, was ich eigentlich tun wollte. Zu einem Ergebnis zu kommen, ebenso wie zu der Erkenntnis, dass ich mein Studium so weit entfernt von meiner Heimatstadt wie möglich beginnen wollte, hatte lange gedauert. Aber jetzt war ich hier, zweitausend Meilen von meinen Eltern und den Erinnerungen an die verkorksten Sommerferien entfernt, und könnte nicht glücklicher darüber sein. Endlich hatte ich wieder das Gefühl, frei atmen zu können.

 

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