Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition)

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Der letzte erste Song (Firsts-Reihe 4) (German Edition) Page 4

by Bianca Iosivoni


  Im Vergleich dazu waren meine eigenen Befürchtungen vollkommen lächerlich – so viel konnte ich mir eingestehen. Und im Grunde hatte Emery recht. Ich war einfach nur feige. Wieso sollte ich mich dieser Furcht nicht ebenfalls stellen können? Weil allein beim Gedanken daran, wieder als Sängerin auf der Bühne zu stehen und mich so verletzlich zu machen, jeder Fluchtinstinkt in mir erwachte? Wollte ich mich wirklich mein Leben lang von einer einzigen schlimmen Erfahrung beeinflussen und einschränken lassen? Gott, ich hatte es satt, dass mir alle vorschreiben wollten, was ich tun konnte und was nicht. Ganz egal, ob es dabei um meine Mutter oder meine eigenen Ängste ging. Ich hatte es so satt.

  »Einverstanden.«

  Emerys Kopf ruckte zu mir herum. »Wie bitte? Was? Ich glaube, ich habe mich eben verhört.«

  Ich stieß die Luft langsam aus. »Ich gehe zum Vorsingen. Aber nicht, weil ich in die Band will, sondern um mir und dir zu beweisen, dass ich es kann.«

  »Ha! Das ist die Grace Watkins, die ich kenne.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit. »Heute Abend ist der nächste Termin. Ich komme mit.«

  »Das solltest du auch«, murmelte ich und schlug mein Französischbuch auf, als unsere Dozentin den Hörsaal betrat. »Schließlich hast du mir das eingebrockt.«

  Mason

  »Hey, Mann!«

  Ich drehte mich um und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen an. Luke joggte auf mich zu und wirkte trotz der Augusthitze und dem langen Tag, der bereits hinter uns lag, geradezu ekelhaft frisch und wach. Genau genommen sah er so aus, als würde er gleich einen Marathon rennen wollen, während ich mich so fühlte, als hätte ich bei der Hell Week der Navy SEALs mitgemacht.

  »Was gibt’s?« Ich begrüßte ihn per Handschlag. Zwar war ich gerade auf dem Weg zu meinem letzten Kurs, aber das hielt mich nicht davon ab, hier mit ihm stehen zu bleiben und eine Pause einzulegen. Alles war besser, als bei Professor Ivanovich im Hörsaal zu sitzen und seiner monotonen Stimme zu lauschen, während man mit aller Macht dagegen ankämpfte, einfach einzuschlafen. Und das galt für die guten Tage.

  Heute war definitiv kein solcher Tag. Es war bereits später Nachmittag und mittlerweile war ich bei meinem … Scheiße, ich wusste gar nicht mehr, beim wievielten Kaffee ich gerade war. Dass Grace mich gestern so früh geweckt und spontan zu einer Sporteinheit gezwungen hatte, hatte meinen ganzen Schlafrhythmus durcheinandergebracht. Und ich hasste es, wenn ich nicht genügend Schlaf bekam. Schlafen war großartig und rangierte auf der Liste der Dinge, die ich am liebsten tat, ganz weit oben. Gleich hinter Sex, guter Musik, Burger essen und die Jungs beim Zocken fertigmachen.

  Als hätte er meine Gedanken gelesen, sprach Luke auch schon weiter: »Später bei Trev, Dylan und mir? Gestern kam das neue DLC raus und …«

  »Ich kann nicht«, unterbrach ich ihn und rieb mir mit Daumen und Mittelfinger über die Augenlider. »Heute Abend ist ein Vorsingen für die Band.«

  »Schon wieder?« Luke starrte mich an. »Ich dachte, ihr hättet längst eine neue Sängerin gefunden. Läuft die Suche nicht seit letztem Semester?«

  »Jepp.«

  Die Wahrheit war, dass einfach niemand Hazel ersetzen konnte. Sie hatte Waiting for Juliet nicht nur gegründet, sondern auch noch eine perfekte Mezzosopranstimme, mit der sie sogar manche Sopran- und Alt-Parts singen konnte. Nicht ganz so hoch oder tief selbstverständlich, aber das Spektrum war breit gewesen, ihre Stimme stark und ihre Ausstrahlung auf der Bühne umwerfend. Ich hatte immer gewusst, dass wir sie als Sängerin verlieren würden, wenn sie ihren Abschluss machte, allerdings hätte ich nie gedacht, dass es so schwierig sein würde, eine würdige Nachfolgerin für sie zu finden. Oder dass sich so viele Menschen bewerben würden, die nicht mal einen einzigen verdammten Ton halten konnten.

  »Was ist mit der kleinen Blonden, die ihr vor den Ferien bei einigen Proben dabei hattet?«

  Ich verzog das Gesicht. »Du meinst die, die mit ihrer Stimme fast Fensterscheiben zersplittern lassen konnte? Nichts weiter. Sie war ein bisschen zu sehr an Pax interessiert.«

  Fragend runzelte Luke die Stirn.

  Ich seufzte übertrieben. »Pax ist aktuell zwar wieder solo und steht auch auf Mädels, aber Blondie war eben nicht sein Typ. Sie wollte das nicht akzeptieren und hat ihm nachgestellt. Bis er sie der Campus-Security gemeldet hat, weil sie nachts in sein Zimmer einbrechen wollte.«

  »Du verarschst mich.«

  »Nope.« Ich breitete die Arme aus. »Du glaubst gar nicht, was da für Leute aufkreuzen … Da war auch noch dieser Typ, der so von sich selbst überzeugt war, dass er meinte, jeder weitere Kandidat wäre Zeitverschwendung. Nur dass er dann selber keinen Ton treffen konnte.«

  Luke grinste. »Soll ich euch Ohrstöpsel besorgen?«

  Ich schnaubte. »Besorg uns lieber jemand Anständiges als Frontfrau oder meinetwegen auch als Frontmann.«

  »Na klar. Ich melde mich, wenn ich das nächste Mal über so jemanden stolpere.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Viel Erfolg beim Vorsingen, Mann. Und komm vorbei, falls doch noch ein Wunder geschieht und ihr jemanden für die Band findet. Ich werde Trev und Dylan solange fertigmachen.«

  »Als ob!«, rief ich ihm nach, denn wir wussten alle, dass Luke immer der Erste war, der draufging. Völlig egal, ob es sich dabei um Egoshooter, Horror-, Action- oder Survivalgames handelte. Zum Glück war sein Optimismus, was Videospiele anging, unerschütterlich.

  Kopfschüttelnd sah ich ihm nach, dann machte ich mich seufzend auf den Weg in den Hörsaal. Im Grunde hatten wir alle eine Medaille verdient, wenn wir es schafften, bei Professor Ivanovich wach zu bleiben. Irgendwie gelang es ihm, sogar das spannendste Thema sterbenslangweilig zu gestalten, indem er seinen Text, den er wahrscheinlich vor Ewigkeiten mal auswendig gelernt hatte, stur herunterbetete. Als es endlich vorbei war, brannten meine Augen davon, so lange auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand gestarrt zu haben, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich mit guter Musik auf den Ohren irgendwo hinzulegen und endlich Ruhe zu haben. Morgen früh würde ich noch mal mit Grace trainieren, aber wenn mich das Mädchen wieder um vier Uhr morgens weckte, würde ich sie eigenhändig in den Fluss werfen, bevor ich mich zurück in mein Bett legte und weiterschlief. Und ja, vier Uhr fünfundvierzig zählte immer noch als vier und nicht als fünf Uhr.

  Es war noch warm draußen, als ich um kurz nach acht aus dem Gebäude kam und mich in den letzten Sonnenstrahlen streckte. Meine Motivation für dieses erneute Vorsingen ging gegen null, weil ich genau wusste, dass wieder nur Leute aufkreuzen würden, die entweder nicht singen konnten oder aus anderen Gründen nicht in unsere Band passten. Es war echt frustrierend. Wir brauchten eine Frontfrau oder einen Frontmann. Selbst wenn ich bei einigen Songs mitsang, konnte ich nicht den gesamten Part übernehmen, ohne die Gitarre zu vernachlässigen. Und ganz egal, wie groß mein Selbstbewusstsein war und wie viele Frauen während unserer Auftritte loskreischten und mir hinterher ihre Telefonnummer andrehen wollten, ich wusste, dass meine Stärke bei der Gitarre lag und nicht im Gesang. Das war keine falsche Bescheidenheit, sondern die Wahrheit. Ich war gut, aber nicht gut genug, um für immer die Leadstimme zu sein.

  Abgesehen davon wäre es schön, wenn sich zur Abwechslung auch mal jemand anderes um die ganze Organisation, das Aussuchen der Songs, die wir coverten, die Diskussionen mit den Dozenten, wann wir den Raum für unsere Proben nutzen konnten, und all das andere Zeug kümmern würde. Früher war das Hazels Aufgabe gewesen, und nach ihrem Weggang war ich für sie eingesprungen, aber das war eigentlich nur übergangsweise gedacht gewesen. Nur so lange, bis wir eine neue Sängerin gefunden hatten – damit ich auch wieder Zeit für meine eigenen Songs hatte.

  Stirnrunzelnd sah ich auf meine Hände hinab. Es war Wochen her, seit ich zuletzt an einem eigenen Stück gearbeitet hatte. Mit dem ersten Song hatte ich schon letzten Winter fertig werden wollen, und jetzt hatten wir bereits August. Neben der Suche nach einem Ersatz für Hazel und dem ganzen Auf und Ab mit Jenny in den letzten Monaten hatte ich einfach keinen Kopf dafür gehabt. Und das ärgerte mich am allermeisten.
r />   »Yo, Maze!«

  Ich riss den Kopf hoch.

  Jesse, unser Keyboarder, blieb neben mir stehen. In einer Hand balancierte er einen Pappkarton mit vier Bechern, mit der anderen schlug er in meine ein. »Bereit für Runde dreihundertzweiundzwanzig?«

  Ich schnaubte und nahm mir einen Kaffee. »Bringen wir es hinter uns.«

  Wenn sogar Jesse, unser Optimist und Goldjunge – den Spitznamen hatte er sich aufgrund seines blonden Lockenkopfs eingefangen – solche Sprüche raushaute, stand es wirklich schlecht um uns. Zum Teufel, es konnte doch nicht so schwierig sein, eine gute Sängerin auf dem Campus zu finden, oder?

  Kapitel 3

  Mason

  »Maze. Jesse. Was geht?« Kane begrüßte uns per Handschlag, genau wie Pax, der dafür sogar die Sticks ablegte, die er sonst ständig in den Händen hatte. Sogar während seiner Seminare. Einmal hatte ihn ein Dozent aus dem Kurs geworfen, weil ihm das ständige Geklacker auf den Geist gegangen war. Aber statt einfach seine Sachen zu packen und sich über die Freistunde zu freuen, hatte Pax eine Grundsatzdiskussion losgetreten, die den ganzen Kurs unterhielt und über eine halbe Stunde andauerte. Danach hatte der Dozent genervt aufgegeben und war mit seinem Lehrplan völlig durcheinandergekommen, weil so viel Zeit verstrichen war. Man sollte sich wirklich nicht mit Pax auf eine Diskussion einlassen. Der Kerl mochte zurückhaltend wirken, hatte aber Tricks drauf, als wäre er bei einem Strafverteidiger in die Lehre gegangen.

  Jesse verteilte den Kaffee, den wir alle bitter nötig hatten, um ein weiteres Vorsingen durchzustehen. Vodka oder Valium wären noch besser gewesen, aber wenn uns jemand von der Collegeverwaltung dabei erwischte, wie wir im Proberaum des PAC Alkohol tranken, würden wir das Gebäude in Zukunft nur noch von Weitem sehen. Und, bei aller Verzweiflung, Waiting for Juliet war uns allen zu wichtig, um dieses Risiko einzugehen. Betrinken konnten wir uns hinterher noch woanders.

  »Wie viele kommen heute?« Kane trank einen Schluck und stellte den Becher dann neben sich auf den Boden, bevor er nach seinem E-Bass griff und an den Saiten zupfte.

  »Keine Ahnung, Mann.« Pax hatte seinen Platz hinter dem Schlagzeug eingenommen und trommelte gedankenverloren mit den Sticks auf den Tomtoms. Jesse stand am Keyboard und nahm den Rhythmus mit einer Hand auf den Tasten auf, während er mit der anderen seinen Kaffee hielt.

  Ich lächelte. Die Jungs und ich waren ein eingespieltes Team, aber ohne Hazel als Sängerin fehlte uns ein wichtiges Kernstück. Und die Hoffnung, sie ersetzen zu können, wurde mit jedem gescheiterten Vorsingen immer kleiner. Ich ließ meinen Blick von einem zum anderen wandern.

  Jesse mit seinen goldblonden Locken und den ewigen Sneakers und Hoodies, obwohl er Sport mindestens genauso hasste wie Tate und Elle. Dafür kam er mit seiner gewitzten Art und seinem Humor aus jeder noch so kniffligen Situation heraus. Oder er wickelte die Frauen einfach mit seinem jungenhaften Charme um den Finger. Manchmal erinnerte er mich ein bisschen an meinen Kumpel Luke, nur dass Jesse im Gegensatz zu Luke den Eindruck machte, auf Wolken zu schweben, weil er nie etwas erlebt hatte, das ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholte. Von uns allen hatte er die größten Pläne nach dem College: Millionen verdienen, die Welt bereisen, ein Supermodel heiraten und maßgeblich daran beteiligt sein, die Heilung für eine tödliche Krankheit zu finden. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

  Kane war eine ganz andere Hausnummer. Der Kerl war riesig, noch dazu schweigsam und machte einen grimmigen Eindruck. Sogar Türsteher überlegten es sich zweimal, ob sie sich mit ihm anlegen wollten. Er und Hazel waren von Anfang an ein Teil der Band gewesen, doch obwohl ich schon nach drei gemeinsamen Proben Hazels halbe Lebensgeschichte kannte, wusste ich fast nichts über Kane. Sicher, ich kannte seine schrägen Vorlieben, was seinen Kaffee anging, dass er ein Ass im Billardspielen und ein fantastischer Bassist war, aber das war’s im Grunde auch schon. Dass er Musik studierte, hatte ich nur durch Zufall erfahren, weil wir zwei, drei gemeinsame Kurse besuchten.

  Und dann war da noch Pax mit seinen dunkelbraunen Haaren und den Klamotten, die mal Richtung Emo, mal Richtung Punk und dann wieder Richtung Grunge gingen. Nicht, dass ich da einen Unterschied erkennen würde, aber Tate hatte ihn mal auf einer Party analysiert und diese Begriffe waren hängen geblieben. Wahrscheinlich nur deshalb, wie Tate mit einem dramatischen Augenrollen angemerkt hatte, weil sie nicht nur auf Mode zutrafen, sondern auch Musikgenres waren.

  Pax war der Nächste, der gehen würde. Er war seit diesem Semester ein Senior, was bedeutete, dass wir uns nächstes Jahr um diese Zeit wieder nach einem neuen Bandmitglied umsehen mussten, weil unser Drummer seinen Abschluss gemacht hatte. Ich liebte diese bunt gemischte Truppe, mit der ich seit Anfang des Studiums zusammenspielte, aber sie nacheinander gehen zu sehen und Ersatz suchen zu müssen, kotzte mich an. Warum musste sich ständig etwas ändern? Warum konnten Menschen nicht einfach bleiben, wenn sie es versprachen?

  Shit. Ich rieb mir über den Nacken. Diese Gedanken gehörten nicht hierher. Sie hatten ja nicht mal etwas mit der Band zu tun – zumindest nicht nur. Ich warf einen kurzen Blick auf mein Handy und fluchte innerlich. Keine Nachricht. Natürlich nicht. Ich wusste doch, dass sie sich nicht melden würde, wenn wir wieder mal getrennt waren. Jenny liebte ihre Freiheit, und das respektierte ich. Ich gab ihr all den Freiraum, den sie wollte. So oft, wie sie ihn brauchte. Ich wünschte nur, sie würde endlich verstehen, dass Freiraum das Letzte war, was ich in unserer Beziehung wollte. Falls man überhaupt noch von Beziehung reden konnte, denn in unseren sogenannten Pausen waren wir, darauf hatte Jenny kurz nach unserem Highschoolabschluss bestanden, beide Single. Frei und ohne Konsequenzen.

  »Whoops«, machte Jesse und hob den Kopf. »Da kommt der erste Bewerber.«

  Ich folgte seinem Blick zur Tür, wo ein dürrer Kerl stand und mit nervös piepsiger Stimme fragte, ob er hier richtig fürs Vorsingen war. Ich seufzte innerlich. Das würde ein verdammt langer Abend werden …

  Eine gefühlte Ewigkeit später stand ich vor der Entscheidung, ob ich mir lieber die Haare ausreißen, jemandem meinen Stift irgendwo reinrammen oder dem Nächstbesten, der mir in die Schusslinie kam, die ganzen zerknüllten Zettel mit meinen nutzlosen Notizen und Kritzeleien an den Kopf werfen sollte. Da Ersteres schmerzhaft und außerdem schwierig war, weil ich seit meinem ersten Tag bei der Army denselben kurz geschorenen Viertelzoll-Schnitt trug, und das Zweite eindeutig zu blutig war, entschied ich mich für Option Nummer drei.

  »Hey!« Jesse fasste sich an den Kopf und fischte eine schneeballgroße Papierkugel aus seinen Locken. »Lass den Scheiß, Maze!«

  »Ich lass den Scheiß, wenn wir nicht mehr hier abhängen und American Idol spielen müssen.«

  Kane warf einen Blick auf sein Handy. »Wir sind seit einer Stunde hier. Ich finde, wir können für heute Schluss machen. Wer bis jetzt noch nicht da war, will sowieso nicht in die Band.«

  Ich nickte und stand von meinem Platz auf der Tribüne auf. »Lasst uns abhau…«

  Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, betrat meine Mitbewohnerin den Proberaum. Dicht gefolgt von … Grace Watkins. Ich blinzelte verblüfft. Bedeutete das etwa …? Nein, das konnte nicht sein. Letzten Sommer hatte ich Grace praktisch auf den Knien rutschend anflehen müssen, bei dem Gig für Hazel einzuspringen und die restlichen Songs zu singen. Und obwohl wir eine gute Show abgeliefert hatten, wussten wir beide, dass sich dieses Ereignis nicht wiederholen würde. Dafür waren wir zu verschieden – zudem war ich mir ziemlich sicher, dass sie mich nicht besonders gut leiden konnte. Außerdem hatte sie den Gefallen, den ich ihr schuldete, doch bereits eingefordert. Meine schmerzenden Muskeln und der Schlafmangel waren der beste Beweis dafür. Was wollte sie jetzt also hier?

  »Halt! Keiner bewegt sich.« Emery hob beide Zeigefinger und fixierte nacheinander jeden Einzelnen von uns. »Ihr habt noch eine Kandidatin zum Vorsingen.«

  »Wen denn?« Jesse musterte sie ungläubig von oben bis unten. »Dich etwa?«

  »Oh, ich würde dir gerade so gern zeigen, wie sehr du mich mal kannst …«

  Er
grinste. »Nur zu, Süße.«

  »Hey«, mischte ich mich ein und kam langsam die Stufen der Tribüne hinunter. »Vergiss nicht, dass sie diejenige ist, die mir letztes Jahr die Nase gebrochen hat.«

  Emery schnaubte. »Wie oft muss ich das eigentlich noch sagen? Sie war nicht gebrochen! Nur angeknackst. Außerdem hast …«

  »Außerdem«, fiel ich ihr ins Wort und warf meinem Bandkollegen einen finsteren Blick zu. »Hat sie einen Freund.«

  Der mein bester Kumpel war. So gern ich Jesse auch hatte, Dylan war wie ein Bruder für mich. Und Jesse würde sich echt keine Freunde machen, wenn er weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Emery flirtete.

  »Also …« Ich wandte mich Grace zu. »Du willst vorsingen?«

  Sie presste die Lippen aufeinander, nickte aber. Ich musterte sie einen Augenblick lang. Irgendwie war es eine Erleichterung, dass selbst Grace Watkins an diesem Mittwochabend nicht mehr so frisch aussah wie sonst. Sogar beim Sport schaffte sie es, keuchend, verschwitzt und mit geröteten Wangen gut auszusehen. Nicht perfekt, aber gerade deshalb wahnsinnig attraktiv. Jetzt konnte ich die Augenringe ausmachen, die unter ihrem Make-up hindurchschimmerten. Sie wirkte müde, war blass und … hatte die Hände zu Fäusten geballt? Das war neu. Das kannte ich sonst nur von Emery oder Tate – und dann war es normalerweise am klügsten, schleunigst in Deckung gehen. Oder sie nur noch mehr zu provozieren.

  Ich runzelte die Stirn. »Bist du sicher?«

  Denn im Moment wirkte Grace eher so, als wollte sie auf ihren mörderisch hohen Absätzen kehrtmachen und so schnell wie möglich von hier verschwinden. Merkwürdig. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie jemals nervös erlebt zu haben. Nicht vor den Prüfungen am Semesterende, nicht vor diesem Auftritt an Elles Geburtstag letztes Jahr, nicht beim Jahresabschlusskonzert oder anderen Veranstaltungen, an denen wir beide mitgewirkt hatten.

 

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