Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 5

by Iosivoni, Bianca


  »Es ist dein Geburtstag. Hör auf, dich zu bedanken.«

  »Okay, ich bin schon still.« Ein letztes Mal strich Faye über den Anhänger, dann strahlte sie mich wieder an. »Hat Billy dich auch an die Sache mit dem Toilettenfenster erinnert?«

  Ich lachte auf. »Hat er.«

  »Das wird er uns noch vorhalten, wenn wir achtzig sind und er noch immer hier arbeitet, oder?« Sie deutete auf die Nische hinter sich. »Setz dich. Wir haben schon ohne dich angefangen.«

  »Weil Casey sonst verdurstet wäre«, kam es von Samantha. Ihre Augen funkelten belustigt durch die Gläser ihrer schwarzumrandeten Brille. Die gleiche Farbe hatten auch ihre Kleidung und ihr zu einem langen Zopf geflochtenes Haar. Zur Begrüßung umarmte sie mich so kurz, dass ich die Berührung kaum wahrnahm.

  »Gar nicht wahr!«, protestierte Casey, die mich wiederum so fest an sich drückte, dass ich nach Luft schnappte. »Ich muss es nur mal ausnutzen, einen freien Abend zu haben.«

  Etwas hilflos tätschelte ich ihr den Rücken, dann ließ sie mich wieder los und ich musste erst einmal tief durchatmen. Die beiden anderen Frauen stellte mir Faye als Allison und Sabine vor. Anscheinend arbeitete Allison in der örtlichen Tierarztpraxis, in der Faye freiwillig aushalf.

  »Wie ist es da draußen in der großen weiten Welt?«, wandte sich Casey an mich. Es war zwei Jahre her, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Alle wichtigen Informationen wusste ich nur von Faye: jung geheiratet, zwei kleine Kinder zu Hause, keine Ausbildung, aber dafür für immer an diese Kleinstadt gefesselt. Allein die Vorstellung genügte, dass ich keine Luft mehr bekam und in den Panikmodus verfiel.

  »Super«, war das Einzige, was mir dazu einfiel. »Auch wenn ich leider nicht mehr viel von der Welt sehe.«

  »Callie studiert Medizin in Woodshill, Oregon«, warf Faye erklärend ein.

  Wie immer, wenn jemand von meinem Studium erzählte, zog sich etwas in meinem Bauch zusammen. Ich hasste es, das Erstaunen und die Erwartungen in den Gesichtern um mich herum zu lesen. Das war noch schlimmer als die nagende Stimme in meinem Kopf, die mir immer wieder zuflüsterte, dass ich es nicht schaffen würde. Dass ich nicht gut genug war.

  Ich räusperte mich und beugte mich zu Faye. »Ich hole mir etwas zu trinken. Willst du noch was?«

  Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Auch die anderen hatten noch volle oder zumindest halb volle Gläser, also machte ich mich allein auf den Weg. Inzwischen waren noch mehr Menschen hier, beinahe so, als hätte die halbe Stadt beschlossen, den Freitagabend im Billy’s zu verbringen. An der Bar war jeder Sitzplatz belegt und auch dazwischen quetschten sich die Leute an den Tresen, um sich etwas zu trinken zu bestellen. Ich erkannte ein paar von ihnen aus meiner alten Highschool wieder. Sie begrüßten mich mit einem Nicken oder knappen Lächeln. Eine Truppe Bauarbeiter hatte sich an einem Tisch versammelt, um ihr Feierabendbier zu trinken und eine Partie Karten zu spielen. Und war das etwa Coach Henrickson am Ende der Bar?

  Ich kämpfte mich bis nach vorne durch und wartete, bis Billy in meine Richtung sah. »Eine Cherry Coke«, bestellte ich, wohl wissend, dass er mir keinen Alkohol ausschenken würde, nachdem ich mir diese Möglichkeit erfolgreich selbst zerstört hatte.

  Trotz der ganzen anderen Bestellungen musste ich nicht lange auf mein Getränk warten. Ich zog bereits einen zusammengeknüllten Schein aus meiner Hosentasche, aber er winkte ab. »Geht aufs Haus«, erinnerte er mich und zwinkerte mir zu.

  »Danke!« Lächelnd drehte ich mich um – und stieß mit jemandem zusammen. In letzter Sekunde packte ich mein Glas mit der zweiten Hand, bevor ich den Inhalt auf meinem Oberteil verschüttete. Als ich den Kopf hob, um mich zu entschuldigen, erkannte ich den Mann – und die Worte erstarben auf meinen Lippen.

  Vor mir stand Keith.

  »Sieh mal einer an. Mit dir hätte ich nicht hier gerechnet.« Seine Stimme war leise, aber ich stand dicht genug vor ihm, um jedes einzelne Wort zu verstehen. Oder um die Wärme wahrzunehmen, die von seinem Körper ausging.

  »Gleichfalls«, gab ich forscher zurück als beabsichtigt. »Ich hätte dich eher in der Hölle vermutet.«

  »Und ich dachte, wir wären eine Familie, Schwesterchen.«

  »Stiefschwester«, korrigierte ich ihn und bahnte mir mit dem Ellbogen einen Weg an ihm vorbei. »Denk nicht mal eine Sekunde daran, dass du und ich irgendetwas gemeinsam haben könnten.«

  Gemeinsame Eltern zum Beispiel. Oder eine gemeinsame Vergangenheit. Sieben Jahre lang war es mir gelungen, diese Person aus meinem Bewusstsein zu streichen. In meinen Erinnerungen hatte es nur die guten Momente gegeben, mit meinem Vater, Holly und auch mit Stella, aber keine einzige Sekunde mit Keith. Keine lautstarken Auseinandersetzungen, kein Kribbeln in meinem Bauch, wenn er mich ansah, kein Fahrunterricht, der tödlich endete. Keine Beerdigung, keine Trauer, keine Tränen. Und ich war verdammt gut damit gefahren, all das zu verdrängen. Doch kaum tauchte dieser Mann wieder in meinem Leben auf, schien es, als würde er einen ganzen Betonblock an ungewollten Erinnerungen und Empfindungen mit sich bringen. Dinge, mit denen ich mich genauso wenig auseinandersetzen wollte wie mit Keith selbst.

  »Du meinst unseren kleinen Moment am Flughafen? Als du mich mit den Augen ausgezogen hast?«

  Seine Worte ließen mich eiskalt erstarren. Mit einem Mal hämmerte mein Herz los, denn ich erinnerte mich sehr gut an diese Minuten. Wie er mich angesehen und welche Gedanken mir dabei durch den Kopf gegangen waren. Was ich gesagt hatte. Aber das vor ihm zugeben, damit er mich für den Rest meines Lebens damit aufziehen konnte? Niemals.

  »Ich habe dich nicht mit den Augen ausgezogen«, fauchte ich. »Das würde ich nicht mal dann tun, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst.«

  »In dem Fall muss die Menschheit ausgestorben sein, denn du hast es eindeutig getan.« Er rückte näher an mich heran und senkte seine Stimme zu einem leisen Raunen. »Und es hat dir gefallen.«

  Eine Gänsehaut breitete sich dort aus, wo sein warmer Atem meinen Hals streifte. Ich musste schlucken, um meine Stimme wiederzufinden – und den Tumult in meinem Inneren unter Kontrolle zu bringen.

  »Träum weiter«, fauchte ich und schob mich an ihm vorbei.

  Er murmelte noch etwas, das ich nicht mehr hörte, aber irgendetwas sagte mir, dass es besser so war. Sonst würde meine Cherry Coke in seinem Gesicht landen, bevor ich einen einzigen Schluck davon getrunken hatte.

  Als ich an unseren Tisch zurückkehrte, sah Faye mir mit gerunzelter Stirn entgegen. »Oh oh. Ich kenne diesen Ausdruck. Wen willst du umbringen?«

  »Keith«, antwortete ich knapp und setzte mich neben sie auf die gepolsterte Bank.

  Anders als erwartet, wirkte Faye nicht überrascht und für einen kurzen Moment begann sich Panik in mir auszubreiten. Bitte nicht Faye. Bitte nicht auch noch meine beste Freundin. Schlimm genug, dass Holly und Stella mir seine Rückkehr verheimlicht hatten, aber ich würde es nicht ertragen, wenn auch Faye Bescheid gewusst und mir gegenüber nichts davon erwähnt hätte.

  »Ich hatte keine Ahnung«, sagte sie sofort, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Holly kam heute Mittag mit ihrem Hamster zur Kontrolle in die Praxis und hat mir davon erzählt.«

  Seufzend lehnte ich mich zurück und nippte an meiner Limonade. »Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.«

  Casey hatte Fayes Freundinnen glücklicherweise in eine Diskussion verwickelt, sodass sie zu beschäftigt waren, um von unserem Gespräch Notiz zu nehmen. Oder davon, wie besorgt Faye auf einmal wirkte.

  »Wie geht es dir damit?«, fragte sie leise.

  Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal selbst die Antwort darauf. In mir schwirrten mehr unterschiedliche Emotionen herum als Bienen in einem Bienenstock. Wut war nach wie vor die dominierende von allen, doch sie verdeckte nur den eigentlichen Schmerz. Die Wunde, die nie richtig verheilt und jetzt wieder offen war. Aber da war noch mehr. Die Art, wie Keith mich immer wieder reizte und ich darauf ansprang, als wüsste er genau, welche Knöpfe er bei mir drücken musste. Oder wie er mich ansah, wenn wir uns ein stummes Duell liefer
ten. Mit diesem angedeuteten Lächeln und dem Funkeln in seinen Augen, als würde ihm all das einen Mordsspaß bereiten.

  »Keine Ahnung.« Frustriert fuhr ich mir mit der Hand durch das Haar. »Ehrlich gesagt will ich gar nicht darüber nachdenken. Es ist nur den Sommer über, dann bin ich wieder auf dem Campus und Holly ist auf ihrer Weltreise.«

  Drei Monate, die sich wie eine unendliche Wüste vor mir erstreckten. Drei Monate, in denen ich im schlechtesten Fall mit dieser Person unter einem Dach leben musste. Ich hoffte inständig, dass er vorher schon eine eigene Wohnung fand und ebenso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war. Doch bei meinem Glück rechnete ich nicht damit.

  »In einem Sommer kann viel passieren …«, gab Faye zu bedenken.

  »Wann bist du so weise geworden?«

  »Ich glaube, das wurde bei unserem Abschlusszeugnis mitgeliefert.«

  »Dann haben sie es in meinem Fall wohl vergessen.«

  Meine Worte entlockten ihr ein Lächeln, doch der mitfühlende Ausdruck in ihren Augen blieb bestehen. Sie hatte mich schon immer problemlos durchschaut und daran schien sich bis heute nichts geändert zu haben. Sporadische Treffen hin oder her.

  »Weißt du, was dir jetzt helfen würde?« Faye strahlte mich an.

  »Eine Axt, um Keiths Dasein ein Ende zu bereiten?«

  »Fast. Komm mit.« Sie stand auf und zog mich mit sich. Vorbei an den Tischen und herumstehenden Leuten direkt auf die Jukebox zu.

  »Ich ahne Böses …«, murmelte ich. Wenn Faye sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie sehr energisch werden. Mehr als man es ihr mit ihrem ruhigen Wesen zugetraut hätte.

  »Solltest du auch.« Sie schob ein paar Münzen in den Schlitz und drückte auf den bunten Tasten herum. »Wir werden jetzt nämlich tanzen.«

  »Oh nein, keine Chance.« Ich stemmte bereits die Fersen in den Boden, als die ersten Klänge von Do you love me von The Contours ertönten. Ich lachte auf, gleichzeitig verfluchte ich Faye dafür. Dieses Mädchen kannte mich eindeutig zu gut. Als Teenager hatten wir uns stundenlang die ganzen alten Tanzfilme angeschaut und waren zur Musik auf meinem Bett herumgesprungen.

  »Komm schon!« Faye zog mich auf die einzig freie Fläche neben der Jukebox. Umringt von rund fünfzig Leuten, Fremden wie Bekannten, begann sie zu tanzen. Und das mit den verrücktesten Bewegungen, die ich je gesehen hatte. Ich konnte gar nicht anders, als mitzumachen.

  Für ein paar wunderbare Minuten vergaß ich alles um mich herum und verlor mich in der Musik. Ich hob die Arme über den Kopf, schloss die Augen und blendete alles andere aus. Die Menschen um mich herum. Die stickige Luft. Den Lärm. Meine Wut auf Keith. Meine Enttäuschung über Holly und Stella. Mein Puls pochte im Takt, mein Herz hämmerte gemeinsam mit dem schnellen Rhythmus und ich wurde eins mit der Melodie.

  Bis sich ein Arm von hinten um mich schlang.

  Ich erstarrte mitten in der Bewegung, geriet ins Stolpern und hätte sicher nähere Bekanntschaft mit Billys Fußboden gemacht, wenn mich die Hand nicht festgehalten und zurückgezogen hätte. Als ich nach Luft schnappte, drang mir der säuerliche Geruch von zu viel Bier in die Nase und ich verzog das Gesicht. Wer auch immer der Kerl hinter mir war, er war eindeutig nicht mein Typ. Ich stand nicht auf solch aufdringliche Anmachen.

  Entschieden schob ich die fremde Hand beiseite und versuchte, einen gebührenden Abstand zwischen uns zu bringen, aber der Kerl riss mich einfach wieder an sich. Gleichzeitig presste er sich von hinten an mich, wodurch ich seinen feuchten Atem im Nacken spüren konnte. Zusammen mit der Ausbuchtung in seiner Hose, als er sich gegen mich drängte. Übelkeit breitete sich in mir aus. Um mich herum tanzten und lachten alle anderen noch immer. Faye tanzte mit dem Rücken zu mir mit ihren Freundinnen und inzwischen hatten sich mehrere Leute zwischen uns geschoben.

  Wieder versuchte ich den Arm des Fremden wegzuschieben, doch er hatte sich so fest wie ein Eisenring um mich geschlossen. Obwohl sich alles in mir dagegen wehrte, drehte ich mich zu dem Kerl um. Er war locker zwanzig Jahre älter als ich und sehr viel breiter gebaut, als ich zuerst angenommen hatte. Niemand, mit dem man sich anlegen wollte, und niemand, den ich kannte.

  »Ich bin nicht interessiert.« Ich versuchte, meiner Stimme einen kühlen Klang zu verleihen, aber sie war so krächzend, dass sie in den dröhnenden Bässen eines neuen Liedes unterging.

  »Na, na. Wer wird denn gleich so schüchtern sein?«

  Ich legte beide Hände auf seine Brust, um ihm einen festen Stoß zu verpassen. Es funktionierte. Er taumelte einen Schritt zurück, vermutlich mehr überrascht als beeindruckt von meinem Kraftaufwand. Bevor ich in der Menge untertauchen konnte, packte er mein Handgelenk. »Nicht so schnell, Kleine.«

  Wie bitte? Ich zog an meinem Arm. »Lass mich los.«

  Noch während ich den Befehl aussprach, suchte ich mit meinem Blick nach Billy. Doch zwischen all den Menschen um mich herum konnte ich ihn nicht ausmachen, geschweige denn bis zur Bar sehen. Hatte er nicht immer auch eine Security im Laden? Wo war der Kerl, wenn man ihn mal brauchte?

  Ich öffnete den Mund, um mich lautstark bemerkbar zu machen, als sich von hinten eine Hand auf die Schulter meines ungewollten Verehrers legte. Mit einem Ruck wurde er zurückgerissen und landete hart auf dem Boden. Ehe ich mich versah, hatte sich eine große Gestalt zwischen uns geschoben. Dunkle Kleidung, breite Schultern, schwarzes Haar. Mein Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus, als sich ausgerechnet Keith schützend vor mich stellte. Mit ihm hätte ich nicht gerechnet, sondern eher vermutet, dass er dem Mistkerl auch noch seelenruhig zuprostete, während dieser mich betatschte.

  Schon allein aufgrund seiner Größe machte Keith einen imposanten Eindruck, doch jetzt strahlte er eine Gefahr und Härte aus, die ich nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte. Vor meinem inneren Auge konnte ich bereits sehen, wie sich die ganze Szene abspielen würde. Prügelei, blutig geschlagene Gesichter, Rauswurf, Notaufnahme. Stella würde durchdrehen, wenn ihr Sohn eingeliefert wurde, selbst wenn es nur wegen einer Platzwunde wäre.

  Doch noch während das Horrorszenario in meinem Kopf Gestalt annahm, überraschte Keith mich zum zweiten Mal an diesem Abend. Denn statt sich auf den bulligen Mann zu stürzen, streckte er die Hand aus und half ihm auf die Beine. Vermutlich hätte schon sein finsterer Blick gereicht, um den Kerl in die Flucht zu schlagen, aber Keith murmelte noch etwas, das in der Musik und den Gesprächen um uns herum unterging. Was es auch war, der Fremde entriss ihm seine Hand und machte ohne einen weiteren Blick in meine Richtung auf dem Absatz kehrt. Ich wollte ihm hinterher sehen, aber Keith ließ mir keine Gelegenheit dazu. Er zog mich an den Leuten vorbei in eine ruhige Ecke neben dem Durchgang zu Toiletten und Lagerraum.

  »Alles in Ordnung?« Hier hinten war die Musik leiser, trotzdem beugte Keith sich zu mir hinunter, damit ich ihn verstand.

  In meiner Brust hämmerte es noch immer panisch und mein Puls befand sich auf demselben Level wie während einer Prüfung, für die ich nicht gelernt hatte, dennoch nickte ich.

  »Sicher?« Besorgte Falten erschienen auf seiner Stirn. »Sonst gehe ich zurück und der Kerl kann …«

  »Mir geht’s gut«, versicherte ich ihm und atmete tief durch, um mich selbst von meinen Worten zu überzeugen. »Was hast du ihm gesagt?« Schließlich war der Typ sicher nicht ohne Grund vor meinem Stiefbruder geflüchtet.

  »Nicht viel.« Keith zuckte mit einer Schulter. »Aber es ist gut möglich, dass ich ihm einen Finger gebrochen habe. Oder zwei.«

  Ich starrte ihn mit offenem Mund an, ohne mich entscheiden zu können, ob ich lachen oder ihm eine Predigt darüber halten sollte, wie sensibel das Nerven- und Knochensystem der menschlichen Hand war. Letztlich entschied ich mich für ein Kopfschütteln. Das hier war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für eine Lektion in Anatomie.

  »Lass uns eines klarstellen.« Seufzend lehnte ich mich gegen die Wand, da meine Knie noch immer zitterten. Nachdenklich sah ich auf die tanzende und feiernde Meute vor uns, ohne Keiths Gegenwart auch nur eine Sekunde lang ausblenden zu können. »Ich bin
dir dankbar für deine Hilfe. Das bin ich wirklich. Aber ich will sie nicht. Ich will keine Hilfe von dem Mann, der meinen Vater auf dem Gewissen hat, und ich hasse es, dass ich sie eben gebraucht habe.«

  Keith schwieg so lange, dass ich dazu gezwungen war, wieder zu ihm zu sehen. Wie ich wenige Sekunden zuvor hatte er seinen Blick geradeaus gerichtet, doch er schien nichts von unserer Umgebung wahrzunehmen, sondern in Gedanken weit weg zu sein. Seine Kiefermuskeln traten hervor, doch als er den Kopf in meine Richtung drehte, schien jede Anspannung verflogen zu sein.

  »Verstanden.« Er nickte mir zu. »Immerhin erschlägst du mich nicht mit einem Baseballschläger, weil ich mich eingemischt habe. Das ist ein Fortschritt.«

  Das entlockte mir fast ein Lächeln. »Nur weil ich gerade keinen hier habe.«

  Ehrliche Belustigung spiegelte sich in seiner Miene wider. »Trotzdem ein Fortschritt.«

  Bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte, stieß er sich von der Wand ab und verschwand in der Menge. Ich blieb allein zurück, zusammen mit einer seltsamen Mischung aus Faszination und Verwirrung.

  »Da bist du ja!« Faye tauchte neben mir auf und folgte meinem Blick mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht. »Alles in Ordnung? Du warst plötzlich weg.«

  Ich nickte, noch während sie sprach. Mein Puls hatte sich wieder beruhigt und auch meine Knie zitterten nicht mehr. Nur das schnelle Pochen in meiner Brust schien nicht aufhören zu wollen. Keith hätte sich nicht einmischen müssen, nicht nach dem, wie die Dinge zwischen uns standen. Aber er hatte eingegriffen, und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

  Ich folgte Faye, die sich an den Leuten vorbei einen Weg zur Bar bahnte, um sich einen weiteren Drink zu bestellen. Billy grinste uns an, als wäre es ein ganz normaler Abend, doch das war es nicht. Nicht mehr.

 

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