Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us

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Was auch immer geschieht 01 - Finding back to us Page 17

by Iosivoni, Bianca


  »Diesmal sind nur gute Lieder drauf, das schwöre ich.«

  Wie zum Henker war er an meinen iPod gekommen? Wollte ich es überhaupt wissen? Eher nicht. Ich gab mir alle Mühe, ihn böse anzufunkeln, konnte mein Schmunzeln aber nicht unterdrücken. Verrückter Kerl.

  »Wenn ich mir wieder Adele und Ed Sheeran anhören muss, kriegst du Ärger, Kumpel.«

  Statt einer Antwort zuckte er nur mit den Schultern, doch sein gespielt unschuldiger Gesichtsausdruck sprach Bände. Er trat einen Schritt zur Seite, um Holly zu begrüßen und ich meinte, ein leises »Danke« von ihm zu hören. Da hatten wir also den iPod-Dieb.

  Als Parker sich mir wieder zuwandte, musterte er mich von oben bis unten. An diesem Abend trug ich ein schwarzes Kleid, das mit winzigen Blümchen bedruckt war, dazu einen schmalen Gürtel und meine braunen Cowboystiefel. Kein ungewöhnliches Outfit, aber anders als sonst hatte ich mir heute mehr Mühe damit gegeben, mich zu schminken. Der dunkle Kajal brachte meine grauen Augen zum Leuchten und der farblose Gloss ließ meine Lippen voller wirken.

  Misstrauisch zog ich die Brauen zusammen. »Warum siehst du mich so an?«

  Parker betrachtete mich bewundernd. »Du siehst fantastisch aus.«

  Ein tiefes Räuspern ertönte hinter mir. »Das wollte ich auch gerade sagen.«

  Ich erstarrte beim Klang von Keiths Stimme und warf Parker einen fassungslosen Blick zu, den er mit einem frechen Grinsen erwiderte. Er musste genau gesehen haben, dass Keith näher gekommen war, und sofort eins und eins zusammengezählt haben. Nur das erklärte diesen plötzlichen Anfall von Bewunderung in seinen Augen, wo es ihn doch sonst nicht scherte, ob er mich im Kleid oder in einer Jogginghose sah.

  Zögerlich drehte ich mich um und unterdrückte den Impuls, zurückzuzucken, weil Keith mir sehr viel näher war, als ich gedacht hatte. Nahe genug, um Parker die Hand hinzuhalten.

  »Keith Blackwood.«

  »Donovan Parker.« Als er Keiths Hand schüttelte, zuckte ein Muskel in seinem Kiefer, als würde ihm irgendetwas Schmerzen bereiten.

  »Er ist Hollys und mein Stiefbruder«, fügte ich widerwillig hinzu, als die beiden nicht sofort wieder voneinander abließen, sondern ein stummes Kräftemessen begannen.

  »Stiefbruder?« Parker warf mir einen überraschten Blick zu. »Warum habe ich noch nie was von ihm gehört?«

  Vermutlich weil er sieben Jahre lang weg gewesen war und ich ihn völlig aus meinem Gedächtnis verbannt habe. Aber statt die Worte laut auszusprechen, presste ich nur die Lippen aufeinander und zuckte mit den Schultern.

  Die Anspannung zwischen den beiden war deutlich spürbar, auch wenn ich nicht begriff, woher sie stammte. Parker war mein bester Freund und Keith war … Nein. Er konnte unmöglich eifersüchtig sein. Oder?

  Hilfesuchend sah ich mich um, doch alle anderen unterhielten sich, als würden sie nichts von der seltsamen Stimmung bemerken.

  »Ich hole mir etwas zu trinken. Will sonst noch jemand etwas?«, fragte ich laut genug, dass nicht nur Parker und Keith mich hörten.

  Nachdem ich ihre Aufmerksamkeit hatte, nahm ich die Bestellungen der Leute um mich herum auf. Ein Bier für Parker, eine Coke für Holly und einen bunten alkoholfreien Cocktail für Stella. Faye war dank Thomas bereits bestens versorgt und Keith lehnte dankend ab.

  Ich ließ die Truppe zurück und schlängelte mich an den anderen Gästen vorbei in Richtung Bar, wo ich Billy unsere Bestellungen zurief. Er hob den Daumen und zwinkerte mir wie ein stolzer Onkel zu, als wäre es eine großartige Leistung, jetzt ganz offiziell Alkohol trinken zu dürfen.

  Plötzlich erklang erneut ein Räuspern neben mir. »Miss Robertson?«

  Ich wandte mich um und fand mich Braden gegenüber, der in seiner Uniform an der Bar stand und die Hände in die Hüften stemmte. Aber im Gegensatz zu allen anderen Gästen wirkte er weder gut gelaunt noch in Partystimmung. Sein Gesicht war todernst.

  Ich runzelte die Stirn. »Bitte sag mir nicht, dass du als Stripper engagiert worden bist.«

  Seine Mundwinkel zuckten kurz, aber es gelang ihm, die ernste Miene beizubehalten. »Ich muss dich leider festnehmen.«

  Wie bitte? Mir wurde eiskalt. Ich starrte Braden an, während ein Gedanke den nächsten jagte. Was hatte ich getan? War ich zu schnell gefahren? Hatte ich eine Ampel übersehen? Das war nur ein einziges Mal gewesen, als ich mit Holly einkaufen gefahren war, um Süßigkeiten für unseren Serienmarathon zu besorgen. Aber das war doch noch lange kein Grund, um mich festnehmen zu wollen.

  Bradens Lippen begannen zu beben, dann lachte er lauthals auf. »Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen!«

  »Das ist nicht komisch!«, empörte ich mich, doch er lachte noch immer und zog mich in eine kurze Umarmung. Ich antwortete mit meiner Faust auf seinem Oberarm, musste aber selbst lächeln. Das war wirklich nicht nett von ihm gewesen.

  Grinsend trat er einen Schritt zurück. »Aber jetzt mal im Ernst. Was hast du ausgefressen? Ich habe noch nie jemanden gesehen, der schuldiger aussah als du gerade eben.«

  »Gar nichts!« Ich schüttelte so vehement den Kopf, dass mir einige Haarsträhnen ins Gesicht flogen und an meinem Lipgloss hängen blieben. Igitt. Jetzt wusste ich wieder, warum ich das Zeug so gut wie nie benutzte. »Bist du im Dienst? Oder hast du die Uniform nur an, um mir Angst einzujagen?«

  »Weder noch«, antwortete er gut gelaunt und nahm ein Glas von Billy entgegen. »Die trage ich nur, um Frauen aufzureißen.«

  Ich verdrehte die Augen. Männer. Wobei er Wasser zu trinken schien, also musste er entweder noch fahren oder aber Braden war tatsächlich im Dienst und nur schnell hergekommen, um mich an meinem Geburtstag zu erschrecken. Wie aufmerksam von ihm.

  »Ich glaube, ich habe da hinten deine Schwester herumschwirren gesehen«, sagte ich und deutete vage in Richtung der Jukebox, wo ich Katelyn und auch Holly zuletzt gesehen hatte.

  »Danke.« Er trank sein Glas in wenigen Schlucken aus und stellte es auf der Theke ab. Dann schob er einen Schein darunter und lächelte mir zu. »Happy Birthday.«

  Damit verschwand er in der Menge und ich sah ihm mit einem Kopfschütteln nach. Braden Scott war der leibhaftige Beweis dafür, dass Menschen sich ändern konnten. Er hatte nicht nur äußerlich eine Wandlung vollzogen, sondern auch, was seine Persönlichkeit anging. War er früher schüchtern und in sich gekehrt gewesen, verströmte er heute ein ruhiges Selbstbewusstsein, um das ihn andere nur beneiden konnten.

  Während ich auf unsere Getränke wartete, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen den Tresen und ließ meinen Blick durch die Bar wandern. Das Billy’s war nicht der schönste – oder sauberste – Ort, um seinen Geburtstag zu feiern, aber er war genauso mein Zuhause wie alles andere in dieser Stadt. So sehr ich die Gerüchteküche und das Kleinstadtleben verabscheute, so sehr fühlte ich mich hier verwurzelt. Ich beobachtete Faye dabei, wie sie in Thomas’ Umarmung versank, während Stella sich mit Parker unterhielt und Holly und Katelyn die Köpfe zusammensteckten, als würden sie irgendetwas aushecken. Zu ihnen hatten sich auch meine Schulfreundinnen Samantha und Casey gesellt, beide bereits mit einem Glas oder einer Flasche in der Hand. Selbst auf die Entfernung bemerkte ich, wie Samantha Parker mit ihren Blicken verschlang, und konnte mir ein amüsiertes Schnauben nicht verkneifen. Sie war leider so gar nicht sein Typ, aber ich würde sicher nicht diejenige sein, die ihr diese Hiobsbotschaft mitteilte.

  Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, während ich sie dort beisammenstehen sah. Sie waren alle da. Alle Menschen, die mir etwas bedeuteten. Nur Keith schien auf einmal verschwunden zu sein. Eigentlich sollte ich froh darüber sein. Geradezu erleichtert. Doch was auch immer ich empfand, es hatte nichts mit Fröhlichkeit oder Erleichterung zu tun.

  »Hier deine Bestellung, Kleines.« Billy stellte die Getränke neben mir ab. »Geht aufs Haus. Happy Birthday.«

  »Du bist der Beste.« Ich balancierte das Tablett in einer Hand, froh darüber, seit meinem sechzehnten Lebensjahr gekellnert zu haben. Nur dieser Tatsache war es zu verdanken, dass ich nichts verschüttete, als ich be
i den anderen ankam und die Getränke verteilte.

  »Wer ist das?« Parker beugte sich zu mir hinunter, während er mir die Frage stellte.

  »Wer?« Ich folgte seinem Blick, doch bei den vielen Menschen war es unmöglich, festzustellen, wen er meinen könnte. Die Mädels hatten sich inzwischen zur Jukebox verzogen und tanzten dort.

  »Die Brünette mit den ewiglangen Haaren.«

  Diesmal bemerkte ich, wohin sein Blick ging, nämlich geradewegs zu Faye, die sich mit erhobenen Händen und einem seligen Ausdruck im Gesicht zur Musik bewegte.

  »Oh nein.« Ich packte Parker am Kinn und drehte seinen Kopf zur Seite, damit er aufhörte, sie mit den Augen auszuziehen. »Das ist meine beste Freundin Faye und sie ist glücklich verlobt.«

  Gespielt beleidigt schob er die Unterlippe vor. »Und ich dachte, ich wäre dein bester Freund.«

  »Du bist mein bester schwuler Freund, Blödmann!« Ich rief die Worte so laut, dass er zusammenzuckte.

  »Scheiße, Robertson, das war ein Witz!«, zischte er.

  Ich zuckte mit den Schultern. »Mir ist egal, ob du Männlein oder Weiblein ins Bett zerrst, solange du die Finger von Faye lässt.«

  Er verdrehte die Augen und murmelte etwas in sein Bier, das ich nicht verstand.

  »Callie? Hast du einen Moment für mich?« Wie aus dem Nichts tauchte Stella auf und griff nach meiner Hand, noch bevor ich meine Flasche zum Mund geführt hatte. Im Vorbeigehen drückte ich sie Parker in die Hand und warf ihm einen warnenden Blick zu, der so viel besagte wie Finger weg. Faye schien glücklich zu sein und ich würde nicht zulassen, dass mein sogenannter bester Kumpel dieses Glück für eine schnelle Nummer gefährdete.

  »Was gibt’s?«, fragte ich, als Stella in einer ruhigen Ecke am Rande der Bar stehen blieb und sich zu mir umdrehte.

  Mit einem Mal wirkte sie so nervös, wie ich sie selten gesehen hatte. Wenn überhaupt jemals. Nicht mal bei ihrer eigenen Spendengala war sie so unruhig gewesen. Jetzt rieb sie sich die Handflächen an ihrer grauen Hose, nur um sich anschließend die Finger zu kneten. Plötzlich überkam mich eine dunkle Vorahnung. War irgendetwas passiert? Ging es um Keith? Hatte sie gesehen, wie er mich am Klavier berührt und was er zu mir gesagt hatte? Die Vorstellung, dass sie irgendwelche Schlüsse zog, obwohl im Grunde überhaupt nichts passiert war, verursachte mir Übelkeit.

  »Ich habe noch eine Kleinigkeit für dich«, sagte sie so leise, dass ich sie kaum verstand. Dann begann sie in ihrer Handtasche herumzukramen. »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel. Ich weiß, dass ich die letzte Person bin, die dir dieses Geburtstagsgeschenk geben sollte, aber …« Stella brachte den Satz nicht zu Ende, sondern zog eine schmale Schatulle hervor. Sie war in schwarzen Samt gewickelt und schien nur darauf zu warten, von mir geöffnet zu werden.

  Ich rührte mich nicht, schien nicht dazu in der Lage zu sein, auch nur einen Finger zu bewegen. Gleichzeitig begann mein Herz alarmiert loszutrommeln.

  »Was ist das?« Irgendwie brachte ich die Worte hervor, obwohl ich die Antwort darauf überhaupt nicht wissen wollte. Denn was es auch war, wenn es Stella derartig viel Unbehagen bereitete, konnte es auch für mich nichts Gutes bedeuten.

  Als sie merkte, dass ich mich nicht bewegte, übernahm Stella das Öffnen der Schatulle für mich. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken und fast hätte ich sie angefleht, es nicht zu tun und die Schatulle wieder in ihrer Tasche verschwinden zu lassen.

  Ich wollte nicht hinschauen, konnte meinen Blick aber auch nicht von dem schwarzen Samt lösen, der nun im Inneren zum Vorschein kam – oder von der filigranen Kette, die darauf gebettet war. Im schummrigen Licht glänzte sie silbern, aber das war es nicht, was meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern der Anhänger in der Mitte. Er bestand aus einem blutroten Edelstein, der in eine silberne Fassung eingebettet war. Für einen Juwelier mochte dieses Schmuckstück nicht viel wert sein, aber mir bedeutete es die Welt. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit ich es zuletzt gesehen hatte. Seit meine Fingerspitzen das letzte Mal über den kühlen Stein gestrichen hatten. Und das war es auch. Eine Ewigkeit. Mehr als mein halbes Leben.

  »Dein Vater hat sie aufbewahrt«, begann Stella zu erzählen. Ihre Stimme zitterte, als hätte sie Angst vor meiner Reaktion. »Er wollte, dass du sie zu deinem einundzwanzigsten Geburtstag bekommst.«

  Heißer Schmerz schoss durch meine Brust und breitete sich in meinem Körper aus. Das Atmen fiel mir so schwer, als hätte sich eine riesige Klaue um meinen Oberkörper gelegt und würde ihn jetzt Stück für Stück zerquetschen, während die Erinnerungen auf mich einströmten.

  Mom hatte die Kette immer getragen. Völlig egal, welcher Tag es war. Ob sie arbeiten ging oder mit mir spielte, während Holly in ihrem Kinderwagen schlief. Ob sie mit Dad in der Küche zu einer Musik tanzte, die nur sie beide hörten, oder ob sie krank im Bett lag und mit jedem Atemzug schwächer wurde. Einmal hatte sie mir erzählt, wie ihr diese Kette beim Saubermachen heruntergefallen war, aber wie durch ein Wunder dabei nicht zersplitterte. Der Stein und das Silber mochten den einen oder anderen Kratzer abbekommen haben, aber die Kette war unzerstörbar. Genau wie die Liebe zwischen ihr und meinem Vater.

  Seit Moms Tod hatte ich sie nicht mehr gesehen. Anfangs hatte ich noch danach gesucht, es aber irgendwann aufgegeben, weil ich gedacht hatte, Dad hätte sie zusammen mit Moms anderen Sachen weggegeben. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass er sie aufgehoben hatte. Für mich. Und dass es schließlich Stella sein würde, die sie mir schenkte, weil mein Vater es nicht mehr tun konnte.

  Ich spürte, wie der Druck auf meine Lungen zunahm, und meine Augen zu brennen begannen.

  »Callie?« Die Stimme meiner Stiefmutter drang durch den Nebel in meinen Gedanken.

  Ich riss den Kopf hoch und blickte in ihr besorgtes Gesicht. Auf ihrer Stirn hatten sich kleine Falten gebildet und in ihren Augen lag etwas Wachsames, als könnte sie meine Reaktion noch immer nicht einschätzen. Ich nickte verspätet, obwohl sogar diese kleine Bewegung eine einzige Lüge war. Denn in Wahrheit war nichts in Ordnung. Überhaupt nichts.

  Bevor ich darüber nachdenken oder mich selbst davon abhalten konnte, glitten meine Finger unter das kühle Metall und nahmen die Kette aus der Schatulle. Ein Teil von mir wollte sie wegwerfen, vernichten, im Klo runterspülen und nie wiedersehen, genauso wie ich mich nicht all den Erinnerungen stellen wollte, die dieses Schmuckstück in mir weckte. Gleichzeitig wusste ich, wie absurd das war. Ich würde dieses Erbstück niemals verlieren oder auf andere Weise loswerden. Dafür hingen zu viele wertvolle Momente daran.

  Ich atmete stockend aus und stellte fest, dass meine Brust schmerzte, weil ich nicht weitergeatmet hatte. Dann schloss ich die Finger um den Anhänger und sah Stella an. In ihrer Miene spiegelte sich noch immer Unsicherheit. Ich wusste nicht, wie es mir gelang, aber irgendwie brachte ich ein Lächeln zustande.

  »Danke«, flüsterte ich, aber es war nicht viel mehr als ein Krächzen, das aus meiner Kehle kam.

  Stella berührte mich am Arm. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Du bist ganz blass geworden. Am besten du setzt dich hin und …«

  Mein Kopfschütteln unterbrach sie, doch der besorgte Ausdruck in ihren Augen blieb bestehen.

  »Ich brauche nur einen Moment.« Nur ein paar Minuten Ruhe, um mich zusammenzureißen und durchzuatmen. Um überhaupt wieder atmen und etwas fühlen zu können.

  »Bist du sicher?« Sie klang skeptisch. Kein Wunder, schließlich war sie Ärztin. Wahrscheinlich glaubte sie, dass ich gleich eine Panikattacke bekam oder in Ohnmacht fiel. Aber das würde nicht passieren. Ich war nie zusammengebrochen, hatte mich nie so sehr gehen lassen, dass nur noch ein Häufchen Elend von mir übrig blieb.

  »Ja.« Es fühlte sich an, als hätte mir jemand das Lächeln aufgeklebt, das ich jetzt zur Schau trug, und es schien auch Stella nicht zu überzeugen. Zwar hielt sie mich nicht noch einmal auf, aber ich spürte ihren besorgten Blick auf mir, als ich mich durch die Menge schlängelte. Warme Körper drückten sich gegen mich und es war, als würde ich durch Wasser waten, de
nnoch kämpfte ich mich weiter, bis ich die einzige Tür erreichte, die nicht nach draußen ins Freie führte.

  Ich stieß sie auf und stolperte in einen schlecht beleuchteten Gang. Die Luft war so muffig und abgestanden, als hätte Billy schon viel zu lange nicht mehr durchgelüftet. Dafür drangen die Musik und die vielen Stimmen aus der Bar nur noch gedämpft zu mir durch. Ich ging weiter, vorbei an den Toiletten und einem Zigarettenautomaten, auf dem sich alle mögliche Flyer, Postkarten und kostenlose Magazine stapelten, bis ich eine weitere Tür erreichte. Direkt auf Augenhöhe stand in Großbuchstaben Privat darauf. Ich las das Wort, begriff dessen Bedeutung, aber es war mir schlichtweg egal. Mechanisch öffnete ich auch diese Tür und betrat einen dunklen Raum. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten.

  Durch das einzige Fenster auf der gegenüberliegenden Seite drang ein fahler Lichtschein herein. Vermutlich von einer Straßenlaterne. Nach und nach erkannte ich mehr von meiner Umgebung. Die Wände verschwanden hinter den Regalen, die mit Getränken jeder Art bestückt waren. Wein, Whiskey, Bier, Tequila bis hin zu mehr Limonaden, als man im Supermarkt finden konnte. In der Mitte stand ein einzelner Schreibtisch, säuberlich aufgeräumt mit einer ausgeschalteten Lampe, einem Notizbuch und zwei Stiften darauf und einem Holzstuhl davor.

  Ich durchquerte den Raum mit zitternden Knien und lehnte mich gegen die Schreibtischkante. Erst als ich sicher war, dass der Tisch mich hielt und ich mich nicht mehr darauf verlassen musste, dass meine Beine mein Gewicht trugen, wagte ich es, tief durchzuatmen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Langsam klärte sich meine Sicht wieder und der Tunnelblick, mit dem ich vor Stella geflohen war, weitete sich, bis ich meine Umgebung ganz wahrnehmen konnte. Doch mit der Klarheit kehrte der Schmerz zurück, schoss heiß wie flüssiges Feuer durch meine Adern und setzte sich in meiner Brust fest. Genau dort, wo es am meisten wehtat.

  Ich wusste nicht, wie lange ich so dasaß und mich auf meine Atmung konzentrierte, und darauf, das Brennen in meinen Augen zu vertreiben. Gleichzeitig schlossen sich meine Finger so fest um die Kette, dass sich die Kanten des Anhängers in meine Haut bohrten. Aber es war ein guter Schmerz. Die Art, die einen nicht entzweiriss, sondern erdete und zurück ins Hier und Jetzt brachte. Zumindest hoffte ich das, da ich nicht wusste, wie lange ich noch die Stücke meines Selbst zusammenhalten konnte, bevor alles auseinanderbrach.

 

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