Ich nickte stumm und folgte ihm zurück zur Veranda und dann ins Wohnzimmer. Holly riss mir den Hamster förmlich aus der Hand. Ihr Gesicht glühte vor Erleichterung, während sie das flauschige Tier an sich drückte und uns beide anstrahlte.
»Wo habt ihr ihn gefunden?«
»Im Garten«, antwortete ich. »Keith hat ihn vor Mr Perkins’ Katze gerettet.«
»Wirklich?« Erstaunen und eine unendliche Dankbarkeit lagen in Hollys Stimme. Hätte sie Keith nicht ohnehin schon als großen Bruder vergöttert, dann tat sie es spätestens jetzt. Ich erkannte die vertraute Wärme in ihren Augen, die auch immer dann darin auftauchte, wenn sie Stella oder mich ansah.
Der Anblick sollte mich beunruhigen oder wütend machen, schließlich ging es hier um Keith. Den Mann, der unsere Familie auseinandergerissen hatte. Doch je stärker ich mich an meinem Hass festzuklammern versuchte, desto mehr rutschte ich wie an einem glitschigen Seil daran ab. Ich könnte es weiter versuchen, mich immer wieder hochkämpfen – oder ich ließ einfach los und ließ mich fallen. Ohne zu wissen, was mich erwartete, wenn ich unten aufkam.
Ein Lächeln breitete sich auf Keiths Gesicht aus, als er von Holly zu mir sah. »Es war Teamwork.«
Etwas Warmes keimte in meiner Brust auf und krallte sich darin fest. Gespickt mit einer bittersüßen Wehmut, die ich mir selbst nicht erklären konnte. Ich erwiderte Keiths Lächeln knapp und blickte Holly nach, als sie ihren entflohenen Hamster zurück in seinen Käfig brachte. Wie selbstverständlich fingen wir an, das Wohnzimmer wieder aufzuräumen. Die Kissen landeten auf den Sofas, Tisch und Klavier wurden ebenso freigeräumt wie der Boden. Als wir fertig waren, kam Holly noch einmal herunter und wünschte uns eine gute Nacht. Sie sah wirklich fertig aus, aber nach einem ganzen Tag auf dem Food Festival und dem Schock am Abend grenzte es an ein Wunder, dass sie überhaupt noch stehen konnte. Bevor sie ging, umarmte sie erst überraschend Keith, dann mich.
»Danke«, flüsterte sie mir zu, bevor sie sich wieder von mir losmachte und in ihr Zimmer schlurfte.
Vielleicht war es nur eine dumme Vermutung, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mir soeben nicht nur dafür gedankt hatte, ihren Hamster wiedergefunden und gerettet zu haben. In ihrer Stimme hatte so viel mehr gesteckt, so viel Dankbarkeit für etwas Größeres als sie, unseren Stiefbruder oder mich. Ich erinnerte mich daran, wie sie vor einiger Zeit mit ihrer Kamera in die Küche geschossen gekommen war, um ein Foto davon zu machen, dass Keith und ich uns ausnahmsweise nicht an die Gurgel gingen, und ich begriff, dass ihr das viel mehr bedeutete, als sie nach außen dringen ließ. Anscheinend waren wir beide gut darin, Dinge zu verdrängen und unsere wahren Gefühle unter Verschluss zu halten.
Keith machte sich mit einem Räuspern bemerkbar. »Ich verschwinde auch. Gute Nacht.«
Ich reagierte nicht sofort, war zu langsam, weil ich mit meinen Gedanken noch bei meiner kleinen Schwester war, und konnte Keith nur nachsehen, wie er das Wohnzimmer verließ. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss.
Ich blieb zurück – verwirrt und mit dem plötzlich aufkeimenden Wissen, eine wichtige Chance verpasst zu haben. Wie ein Echo tauchten Fayes Worte in meinem Kopf wieder auf, aber sie waren keine Frage mehr, sondern hatten sich zu einer Tatsache manifestiert. Ich konnte mit den Konsequenzen meiner Entscheidung leben. Ich wollte damit leben. Bevor ich weiter darüber nachdenken und mich vielleicht eines Besseren besinnen konnte, setzte ich mich in Bewegung.
»Warte!« Ich hielt Keith vor dem Haus auf, bevor er in seinen Pick-up steigen und davonfahren konnte.
Er blieb neben seinem Wagen stehen, drehte sich jedoch nicht zu mir um. Jeder Muskel in seinem Körper schien erstarrt zu sein, aber ich wusste nicht, ob es Überraschung oder Abwehr war, die ihn dazu brachte, sich keinen Millimeter zu rühren. Langsam ging ich um ihn herum, und während mein Herz mit jedem Schritt ein bisschen schneller schlug, wurde mein Entschluss immer gefestigter.
»Ich schulde dir noch eine Antwort …«, flüsterte ich.
Keiths Augen weiteten sich für einen Sekundenbruchteil. Das einzige Anzeichen dafür, dass meine Worte überhaupt bei ihm ankamen, denn abgesehen davon war seine Miene unlesbar. Als wollte er nicht, dass ich sah, was dieses Gespräch in ihm auslöste.
Ich atmete mehrmals tief durch, während in meinem Kopf ein Plan heranreifte, der nur eine Bezeichnung verdient hatte: verrückt. Trotzdem schien es kein Zurück mehr zu geben. Nicht nach heute Abend. Nicht nachdem ich ihn mit Holly gesehen hatte und wie er sich seinen eigenen Ängsten gestellt hatte, damit sie nicht unglücklich war. Ja, es mochte nur ein Hamster sein, aber mit unlogischen Ängsten kannte ich mich selbst bestens aus. Es hatte Monate gedauert, bis ich überhaupt wieder dazu fähig gewesen war, mich in ein Auto zu setzen, und Jahre, bis ich mich traute, es selbst zu fahren. Und sogar heute begleitete mich noch immer ein Unbehagen bei jeder Autofahrt, das ich einfach nicht abschütteln konnte.
»Eine Nacht«, brachte ich heiser hervor. »Eine Nacht, dann hältst du dich von mir fern und wir reden nie wieder darüber.«
Etwas veränderte sich in seinen Augen, wurde fragend, beinahe provokant. »Denkst du, eine Nacht reicht aus?«
Ich starrte ihn an, während sich das Trommeln in meiner Brust zu verdoppeln schien. Mit dieser Gegenfrage hatte ich nicht gerechnet. Aber wenn ich mich schon auf eine Dummheit einließ, dann nur ein einziges Mal und dieses eine Mal musste ausreichen.
»Ja.« Ich hob das Kinn und hielt seinem bohrenden Blick stand. »Ich will nur dieses … was auch immer das zwischen uns ist, endgültig aus der Welt schaffen.«
Keith ließ sich Zeit mit der Antwort. Er ließ sich sogar so lange Zeit damit, dass mein Puls aus ganz anderen Gründen in die Höhe schoss. Würde er mich gleich auslachen und verkünden, das Ganze wäre nur ein Scherz gewesen? Dass er mich nie soweit hatte bringen wollen? Oder würde er ablehnen und seine süße Rache genießen, nachdem ich ihn von Anfang an nichts als meine Abneigung hatte spüren lassen?
Aber er lachte nicht und er behauptete auch nicht, sich einen grausamen Spaß erlaubt zu haben. Stattdessen trat er einen Schritt näher und blieb dicht vor mir stehen. Wir berührten uns nicht, dennoch hatte ich das Gefühl, von seiner Nähe, seinem Geruch und seiner Wärme, von seiner ganzen verdammten Präsenz eingenommen zu werden. Wenn es noch eine letzte Möglichkeit für einen Rückzug gab, dann jetzt. Aber ich nahm sie nicht wahr. Ich ließ die Chance verstreichen, denn wenn ich ganz ehrlich mit mir war, wollte ich das hier. Ich wollte seine Nähe, wollte seinen Mund wieder auf meinem fühlen, seine Finger und seine Lippen auf meiner Haut. Nur für eine Nacht. Und dann würde keiner von uns je wieder daran denken.
»Einverstanden.«
14
Ich war nervös. Ich konnte mich nicht daran zurückerinnern, wann ich das letzte Mal so nervös gewesen war. Vielleicht, als ich in meiner ersten Fahrstunde saß und das Lenkrad so fest umklammerte, dass mein Fahrlehrer sich Sorgen machte, ob er meine Finger amputieren müsste, um mich wieder loszumachen. Oder als mich Kellan Michaelson nach einer Verbindungsparty mit in sein Zimmer genommen und ich meine Jungfräulichkeit verloren hatte. Wobei ich selbst damals ruhiger gewesen war, dem Alkohol sei Dank. Jetzt flatterten meine Nerven wie ein ganzer Schwarm Schmetterlinge und lösten die verrücktesten Empfindungen in mir aus. Ein Rumoren im Bauch, ein Kribbeln in den Beinen, feuchte Hände und den Drang, mich auf der Stelle umzudrehen und zu verschwinden. Keith würde es nie bemerken, denn ich hatte noch nicht mal den Mut aufgebracht, an seine Tür zu klopfen.
Seit rund zehn Minuten stand ich in dem schmalen Flur und versuchte genug Mut zusammenzukratzen, um die Sache endlich durchzuziehen. Es war schließlich mein Vorschlag gewesen, oder nicht? Der Sommer hätte auch so weitergehen können, hätte eine endlose Tortur aus Blicken und verbotenen Berührungen sein können. Stattdessen begrenzte ich all das auf eine Nacht und dann war es vorbei. War das nicht der klügste Weg, die Sache anzugehen? Warum war ich dann so verflucht nervös?
Inzwischen hatte ich bereits zwei von Keiths neuen Nachbarn kennengelernt, als diese ihre Wohnungen verlassen und m
ich wie eine gruselige Stalkerin im Flur hatten stehen sehen. Rechts von ihm lebte eine nette ältere Dame, die ich schon ein paar Mal im Diner gesehen hatte. In dem Apartment gegenüber wohnte ein Mann, dessen Alter ich nicht sofort einschätzen konnte. Fünfundzwanzig oder dreißig vielleicht. Er trug die Uniform eines Feuerwehrmannes und hatte mir kurz zugelächelt, bevor er sich auf den Weg nach unten gemacht hatte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er nicht mehr so freundlich lächeln würde, wenn ich nach dem Ende seiner Schicht noch immer hier war, weil ich mich einfach nicht traute, endlich an diese verdammte Tür zu klopfen.
Zum Teufel damit. Ich war hier, also konnte ich es auch hinter mich bringen.
Das Geräusch meiner Fingerknöchel, die auf das Holz trafen, hallte dumpf in meinen Ohren wider. In den ersten Sekunden passierte … nichts. Vielleicht war Keith gar nicht zu Hause? Im selben Moment, in dem dieser Gedanke in meinem Kopf auftauchte, schalt ich mich selbst eine Idiotin. Natürlich war er da. Schließlich hatte ich ihm gesagt, dass ich kommen würde. Wie zwei Erwachsene hatten wir diesen Termin festgelegt … um miteinander zu schlafen. Hitze explodierte in meinen Wangen und weckte erneut den Drang in mir, mich irgendwo zu verkriechen. Gleichzeitig pochte mein Herz aufgeregt und meine Fingerspitzen kribbelten vor nervöser Erwartung. Als ich Keith gestern den Deal vorgeschlagen hatte, hatte ich mich so sicher und entschlossen gefühlt. Warum konnte ich dasselbe Gefühl nicht jetzt auch wieder heraufbeschwören?
Als die Tür endlich geöffnet wurde, hielt ich unbewusst den Atem an. Keith war wie immer dunkel gekleidet. Ein schwarzes T-Shirt, das sich eng an seinen trainierten Oberkörper schmiegte und keinen Zweifel an seiner Vergangenheit als Soldat ließ, und eine dunkelblaue Jeans, die ihm tief auf den Hüften saß. Er war barfuß und sein Haar kringelte sich vor Feuchtigkeit in seinem Nacken. Kaum, dass ich wieder dazu in der Lage war, Luft zu holen, drang mir der frische Duft seines Duschgels in die Nase.
Auch er musterte mich von oben bis unten und zog dabei einen Mundwinkel in die Höhe. Bevor ich hergefahren war, hatte ich eine lächerlich lange Zeit vor meinem Schrank gestanden und überlegt, was ich anziehen sollte. Dabei war es völlig egal, schließlich hatte Keith mich schon in allen möglichen Outfits gesehen, vom Alltagsoutfit über mein Schlafshirt bis hin zu einem Abendkleid. Er kannte mich verschwitzt und zerzaust nach einer Joggingrunde, genauso wie herausgeputzt für eine Spendengala oder ein Familiendinner. Trotzdem hatte ich mehrere Sachen anprobiert, bis ich mich für ein schwarzes Kleid mit Blumenmuster entschieden hatte. Es hatte einen breiten U-Boot-Ausschnitt, der meine Schultern frei ließ, und locker herabfallende Dreiviertelärmel. Der Stoff war dünn und fließend, sodass er bei jeder Bewegung mitschwang, und reichte mir bis zur Mitte der Oberschenkel. Dazu trug ich meine geliebten Cowboystiefel, die mich zudem ein paar Zentimeter größer machten. Kein Schmuck und so wenig Make-up, dass ich in diesem Outfit genauso gut zum Einkaufen oder abends ins Billy’s hätte gehen können. Einzig mit meinen Haaren hatte ich mir mehr Mühe gegeben, sodass sie nun in leicht zerzausten Wellen mein Gesicht umschmeichelten.
»Das hat ja lange gedauert«, kommentierte Keith trocken und trat einen Schritt zur Seite, damit ich hereinkommen konnte.
Jetzt gab es kein Zurück mehr – aber auch kein Zögern. Einen Moment lang hielt ich seinen Blick fest, dann setzte ich einen Fuß vor den anderen und betrat sein neues Zuhause. Bis vor Kurzem hatte ich nicht einmal gewusst, wo in der Stadt er sich eine Wohnung gemietet hatte. Auch wenn er es mir nach seiner unfreiwilligen Bekanntschaft mit meinem Baseballschläger angekündigt hatte, hatte ich ihm nicht wirklich geglaubt, dass er sich eine eigene Bleibe suchen würde. Nun musste ich mir eingestehen, dass ich ihn falsch eingeschätzt hatte. Keith war nicht zurückgekommen, um sich einen schönen Sommer zu machen und seiner Mutter auf der Tasche zu liegen. Er hatte sich einen Job und eine eigene Wohnung gesucht. Er war tatsächlich hierhergekommen, um neu anzufangen.
Gegen meinen Willen machte sich Bewunderung für ihn in mir breit. Ich an seiner Stelle hätte nicht den Mut gehabt, in eine Stadt zurückzukehren, in der jeder wusste, was vor sieben Jahren passiert war. Und wer die Schuld daran trug.
Ich spürte Keiths Blick auf mir, drehte mich aber nicht zu ihm um. Dafür war meine Aufmerksamkeit zu sehr von dem gefangen, was ich vor mir sah. Ich hatte mit einem typischen Single-Apartment gerechnet, ähnlich wie die Zimmer der Jungs im College – unordentlich und ohne viel Liebe zum Detail. Hier wurde ich mit dem kompletten Gegenteil überrascht.
Zugegeben, die Wohnung wirkte im ersten Moment noch etwas kahl und leer, aber wenn man bedachte, wie kurz Keith erst hier lebte, hatte er eine Menge herausgeholt. Die Balken an der Decke sorgten für eine gemütliche, rustikale Atmosphäre. Gepaart mit den wenigen, hauptsächlich dunklen Möbeln und der offenen Küche wirkte das Wohnzimmer warm und einladend, auch wenn noch drei Umzugskartons in der Ecke standen.
Ohne nachzudenken legte ich meine Tasche auf dem Esstisch ab, der die Kochnische vom restlichen Raum trennte. Große Fenster ohne Vorhänge ließen tagsüber wahrscheinlich genug Licht herein – jetzt hatte die Sonne bereits den Horizont erreicht und nur ein orangefarbenes Leuchten erhellte den Himmel draußen. Der warme Holzfußboden sorgte schließlich dafür, dass ich mich endgültig hier wohlfühlte. Aber es waren die Details, die meine ganze Aufmerksamkeit einforderten. Die Sitzbank auf der einen Seite des Esstisches zum Beispiel. Dunkles, glänzendes Holz und Armlehnen, die so kunstvoll geschnitzt waren, dass sie wie zusammengerolltes Pergament wirkten. Ich strich mit den Fingerspitzen darüber, überrascht davon, ein solches Kunstwerk in Keiths Wohnung zu finden, und schlenderte weiter.
Ein schwarzes Ecksofa nahm den größten Teil des Raumes ein. Kaum Kissen, keine Dekorationen. Davor stand ein langer Couchtisch aus dunklem Holz, der im ersten Moment so klobig wirkte wie eine alte Kiste. Erst beim Näherkommen bemerkte ich die filigranen Schnitzereien, die ihn von einer simplen Kiste unterschieden. Ähnlich war es auch bei der Kommode an der Wand. Grob und klobig auf den ersten Blick, aber auf den zweiten Blick waren so viele Details zu erkennen, dass es mir die Sprache verschlug.
»Woher hast du das alles?«, fragte ich und drehte mich endlich zu Keith um.
Er stand breitbeinig im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt, und beobachtete mich aufmerksam, aber mit unlesbarer Miene. »Ein paar Sachen sind vom Trödelmarkt, ein paar habe ich in der Werkstatt hergestellt. Und das Sofa ist aus meinem alten Zimmer.«
Ich blinzelte überrascht. »Du hast … das hier selbst gemacht?« Vage deutete ich hinter mich, obwohl ich im Grunde alles damit einschloss. Die Sitzbank, den Couchtisch, die Kommode und … waren das etwa Einbauschränke auf der anderen Seite des Zimmers?
Keith nickte stumm und schob sich die Hände in seine Hosentaschen.
»Aber … wie?«
Seine Lippen verzogen sich zu einem verlegenen Lächeln. »Ich war nie auf dem College. Nach der Highschool bin ich zur Army gegangen und als ich da endlich raus war, bin ich durch die Gegend gezogen und habe hier und da Jobs angenommen. Auf dem Bau, als Handwerker, in einer Tischlerei …« Er zuckte mit den Schultern, als wäre es nichts Besonderes, als wäre seine Wohnung nicht der Beweis für ein unleugbares Talent. »Seit ein paar Wochen arbeite ich in Jims Werkstatt. Nach Feierabend oder wenn gerade nicht viel zu tun ist erlaubt er mir, mich an den Materialien auszutoben, die wir nicht mehr brauchen. Oder an den Möbeln, die bei uns abgegeben wurden, weil ihre Besitzer sie nicht mehr haben wollten.«
Also hatte er all das hier tatsächlich selbst hergestellt. Mit seinen eigenen Händen. Ein Bild flackerte vor meinem inneren Auge auf, eine leise, fast verblasste Erinnerung, an die ich seit Jahren nicht mehr zurückgedacht hatte. Dad und Keith zusammen im Garten … Anfangs hatte sich Keith noch mehr gegen die Beziehung unserer Eltern gewehrt als ich. Mein Vater hatte versucht, irgendwie an ihn heranzukommen und ihn davon zu überzeugen, dass er nicht der Feind war und ihm auch nicht seine Mom wegnehmen wollte. Irgendwann hatte ich die zwei Seite an Seite im Gras sitzen sehen. Jeder von ihnen hatte ein Stück Holz in der einen und ein Messer in der and
eren Hand. Stella wäre vermutlich bei dem Anblick ausgeflippt, also blieb es ihr Geheimnis, dass Dad Keith heimlich beibrachte, wie man aus einem groben Stück Holz ein kleines Kunstwerk schnitzte.
Ich hatte dieses Geheimnis der beiden so lange bewahrt, dass ich es selbst vergessen hatte. Doch jetzt kehrte die Erinnerung unerwartet zurück.
»Callie …« Keith machte Anstalten, auf mich zuzukommen.
Ich schüttelte den Kopf und wich einen halben Schritt zurück. Nein. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Nicht heute. Nicht ausgerechnet jetzt.
»Schon gut«, brachte ich hervor und zwang das bittersüße Gefühl mit einem tiefen Durchatmen zurück. Irgendwie gelang es mir sogar, ein Lächeln zustande zu bringen, auch wenn es nicht allzu überzeugend sein konnte, so besorgt wie Keith mich betrachtete. Seine Stirn war gerunzelt und in seinen Augen lagen so viele verschiedene Emotionen, dass ich mich abwenden musste. Diese Schuld und das Mitleid in seinem Gesicht waren mehr, als ich ertragen konnte.
»Willst du etwas trinken? Essen bestellen?«
Ich sah zu ihm auf, gleichermaßen überrascht wie verwirrt. Eigentlich hatte ich gedacht, es wäre eindeutig gewesen, warum ich heute Abend zu ihm gekommen war. Hatte er plötzlich etwas anderes im Sinn?
Seine Mundwinkel zuckten, als wüsste er genau, in welche Richtung meine Gedanken gerade wanderten. Er hob die Hände in einer entwaffnenden Geste. »Du glaubst doch nicht, dass ich direkt über dich herfalle, sobald du einen Fuß in diese Wohnung gesetzt hast? Komm schon, Callie. Etwas mehr Einfühlungsvermögen könntest du mir schon zutrauen.«
Ich musste unwillkürlich lächeln, während die Anspannung aus meinen Schultern wich. »Pizza«, sagte ich. »Pizza wäre gut.«
»Alles klar.« Keith wandte sich ab, marschierte zur offenen Küche und kehrte mit Flyern der einzigen beiden Lieferservices, die von Montgomery bis in unsere Stadt lieferten, zurück.
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