Never Too Close

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Never Too Close Page 1

by Moncomble, Morgane




  Inhalt

  Titel

  Zu diesem Buch

  Widmung

  Prolog

  Erster Teil

  1

  2

  3

  4

  5

  6

  7

  8

  9

  10

  11

  Zweiter Teil

  12

  13

  14

  15

  16

  17

  18

  19

  20

  21

  22

  23

  Dritter Teil

  24

  25

  26

  27

  28

  29

  30

  31

  32

  33

  34

  35

  36

  37

  38

  39

  40

  41

  Danksagung

  Die Autorin

  Die Romane von Morgane Moncomble bei LYX

  Impressum

  MORGANE MONCOMBLE

  NEVER TOO CLOSE

  ROMAN

  Ins Deutsche übertragen

  von Ulrike Werner-Richter

  Zu diesem Buch

  Violette und Loan sind beste Freunde – nicht mehr und nicht weniger. Seit sie vor einem Jahr an Silvester gemeinsam in einem Aufzug eingeschlossen waren und Loan, der von Beruf Feuerwehrmann ist, Violette vor einer Panikattacke bewahren konnte, sind die beiden unzertrennlich. Doch ihre Beziehung ist rein platonisch. Denn auch wenn sie inzwischen in derselben Wohnung leben und so gut wie alles miteinander teilen, ist da eine Grenze zwischen ihnen, von der sie sich beide geschworen haben, sie niemals zu überschreiten. Zumindest bis jetzt. Denn als Violette den gutaussehenden Clément kennenlernt, wird ihr klar, dass sie ihr erstes Mal nicht mit irgendeinem Mann verbringen will, egal wie attraktiv er ist – sie will es mit jemandem erleben, dem sie bedingungslos vertraut. Jemandem wie Loan. Als sie diesem ihren Vorschlag unterbreitet, ist er zunächst alles andere als begeistert. Zu viel steht für sie beide auf dem Spiel, und Violette als Freundin zu verlieren, wäre das Schlimmste für ihn. Doch Violette lässt nicht locker, und schließlich willigt er ein. Es ist ja nur dieses eine Mal … oder?

  Für meine Mutter

  Prolog

  Ein Jahr zuvor

  Violette

  Ich sehe toll aus. Ich sehe toll aus. Ich sehe …

  »Autsch!«

  Ich lasse das Glätteisen fallen, um meine verbrannte Hand zu erlösen, und springe hastig beiseite, damit es nicht auch noch auf meinem Fuß landet. Verdammt! Mit dem schmerzenden Finger im Mund hebe ich es wieder auf. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Ich sehe toll aus.

  Der Spiegel zeigt allerdings etwas anderes.

  Ich entkräusele die letzte meiner blonden Locken und achte darauf, das Glätteisen auszuschalten, ehe ich es ablege – ich bin gerade erst in diese Wohnung eingezogen und sollte vielleicht noch ein wenig warten, bis ich das Haus in Schutt und Asche lege.

  Für ein natürlicheres Aussehen fahre ich mir mit den Fingern durch die Haare, ehe ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe.

  Toll ist vielleicht nicht die exakteste Bezeichnung für mein Aussehen an diesem Silvesterabend, aber egal. Es geht schon. Immer noch besser als Anfang der Woche, als ich mich krank und hundeelend herumgeschleppt habe.

  Scheißgrippe.

  Ich trage transparenten Lipgloss auf, während ich versuche, mir mit einer Hand die High Heels anzuziehen. Wie eigentlich immer bin ich spät dran. Dabei habe ich extra zwei Stunden früher angefangen, mich fertig zu machen, um genau dieses Problem zu vermeiden. Aber das scheint unmöglich zu sein.

  Die grünen Paillettenshorts liegen auf der Couch. Ich schaffe es reinzuschlüpfen, ohne eine Laufmasche in meine Strumpfhose zu reißen. Erste Herausforderung erfolgreich bestanden! Nachdem ich meine weiße Bluse abgebürstet und einen kurzen schwarzen Blazer angezogen habe, schaue ich mich in der Wohnung um.

  »Hab ich was vergessen?«

  Scheint nicht so. Also stopfe ich mein Handy und meine Schlüssel in die Tasche und lasse die Tür hinter mir zufallen. Schritt zwei: Well done! In diesem Augenblick vibriert es unter meinen Händen. Meine neue Freundin Zoé ruft an. Ich gehe dran, während ich den Fahrstuhlknopf drücke.

  »Hallo?«

  »Hi, ich bin’s. Alles klar?«

  »Bestens. Und bei dir?«

  Der Aufzug befindet sich im obersten Stockwerk und braucht unendlich lange. Ich fluche leise vor mich hin. Zoé wird mich umbringen. Sie hasst unpünktliche Menschen.

  »Sag bitte nicht, dass du zu spät kommst.«

  »Ich? Auf keinen Fall«, leugne ich, während ich wie bescheuert immer wieder auf den Knopf drücke, als ob der Fahrstuhl dadurch schneller würde.

  »Sicher?«

  Sie kommt mir misstrauisch vor. Ich befürchte fast, dass sie im Aufzug steht, wenn sich die Türen öffnen, mit dem Finger auf mich zeigt und »LÜGNERIN!« ruft.

  »Wenn ich es dir doch sage! Wo bist du gerade?«

  »Vor der Bar gegenüber von Claires Wohnung.«

  »Siehst du mich etwa nicht?«, erkundige ich mich, als wäre ich überrascht.

  »Äh … nein.«

  Ich weiß, dass sie mir nicht glaubt. Obwohl ich in Mathe eine totale Niete bin, rechne ich kurz nach. Wenn ich mich beeile, kann ich in einer Viertelstunde dort sein. Ich gehe zu Fuß. Zum Glück habe ich daran gedacht, mein Pfefferspray einzustecken – mein Vater wollte mich nicht aus dem Jura nach Paris ziehen lassen, ohne mich mit einer Großpackung davon zu versorgen. Er hat kein Vertrauen in diese Stadt. Als ob sich alle Perversen der Nation hier versammeln würden.

  »Bist du blind oder was? Ich sehe dich doch! Ich winke dir sogar gerade.« Der Aufzug macht »Ding«. Ich huste, um es zu übertönen, und betrete die Kabine. »Okay, weißt du was? Bleib, wo du bist, ich komme zu dir.«

  »Okay.«

  Mit Sicherheit bringt Zoé mich um. Ich kenne sie zwar erst seit September, aber sie ist sehr emanzipiert und nimmt vor allem kein Blatt vor den Mund. Schon bei unserer zweiten Begegnung hat sie mir in der Toilette unserer Hochschule, der École supérieure des arts et techniques de la mode, ihre Brüste gezeigt und mich gefragt, ob ich ebenfalls der Ansicht wäre, dass sie auffällig groß seien. Ich musste ihre Brüste berühren. Zweimal.

  Ich lege auf, während sich die Türen schließen. Gerade will ich meine Strumpfhose noch einmal zurechtziehen, als sich eine kräftige Hand zwischen die Türen des Fahrstuhls drängt.

  Ein Typ steigt zu, begrüßt mich höflich und stellt sich vor mich. Langsam gleitet die Kabine nach unten. Die Stille nervt mich. Soll ich vielleicht ein Gespräch beginnen? Konversation gehört zu meinen starken Seiten, zumindest wenn mein Vater mich daran erinnert, keinesfalls über Pinguine zu reden – darauf komme ich später noch zurück. Immerhin bin ich erst vor Kurzem hier eingezogen, und es wäre vielleicht keine schlechte Idee, mich mit den Nachbarn gut zu stellen.

  Die Art, wie der Typ mir den Rücken zukehrt, veranlasst mich jedoch, den Mund zu halten. Vermutlich ist er in Eile – oder ein Arsch.

  Plötzlich erzittert der Aufzug und bringt mich ins Wanken.

  Ich stütze mich an der rechten Wand ab, während mein Nachbar langsam seine verschränkten Arme löst. Der Aufzug bockt noch einmal, dann steht er still. Ich rühre mich nicht, denn ich habe Angst, etwas kaputtzumachen. Wer mich kennt, weiß, dass das nicht abwegig ist.

  Sekundenlang stehe ich
wie versteinert, bis die Information mein Gehirn erreicht. Wir stecken fest. Wir stecken fest! Als ich den Ernst der Lage begreife, reiße ich die Augen auf und schlucke. Atmen, Violette. Einfach weiteratmen. Das ist weder der richtige Zeitpunkt noch der Ort für eine Panikattacke. Seit ich in Paris wohne, hatte ich keine mehr und habe auch nicht vor, wieder eine zu bekommen. Ich bemühe mich also, meine Atmung zu kontrollieren, während der Mann schimpfend den Notfallknopf drückt.

  »Was ist los?«

  Es sieht mir ähnlich, nachzufragen, was los ist, obwohl die Antwort auf der Hand liegt. Trotzdem will ich es hören – will den Klang einer anderen Stimme hören. Ich muss wissen, dass ich nicht allein bin.

  Keine Panik, Violette, keine Panik.

  »Stecken wir fest?«

  Jetzt gerate ich doch in Panik. Scheiße! Ich sehe zu, wie mein Nachbar versucht, die Türen mit beiden Armen auseinanderzustemmen. Er drückt und drückt, bis es ihm gelingt, doch er lässt sofort wieder los.

  »Wir sind zwischen zwei Etagen«, murmelt er vor sich hin.

  »Oh mein Gott.«

  Mit einer Hand auf der Brust dränge ich mich an die Rückwand der Kabine. Ich zähle meine Atemzüge, merke aber sehr schnell, dass ich durcheinanderkomme. Als letzte Hoffnung suche ich den Blick meines Nachbarn. Ich will, dass er mich beruhigt und mir versichert, dass so was ständig passiert, aber in aller Regel schnell wieder in Ordnung kommt. Leider starrt er nur auf sein Handy, vermutlich auf der Suche nach einem Netz.

  »Sagen Sie mir bloß nicht, dass wir hier … für länger festhängen …«

  »Beruhigen Sie sich, ich bin bei der Feuerwehr«, sagt er, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.

  »Glauben Sie, das macht es besser? Feuerwehrmann oder nicht, Sie stecken mit mir in diesem verdammten Fahrstuhl fest und ich habe keine Ahnung, wieso diese Information mich beruhigen sollte.«

  Zum ersten Mal seit dem Betreten der Kabine schaut der Mann mich an. Und was kommt mir als Erstes in den Sinn? Es muss einen Gott geben. Wäre das nämlich nicht der Fall, würde ein solcher Blauton nicht existieren, eine unglaubliche Mischung aus Lapislazuli und Azur. Ein dunkles Blau wie eine sternlose Sommernacht. Sofort verliebe ich mich in diese Augen. Ernst und geduldig blicken sie mich an. Sieht aus, als wäre er so etwas gewohnt. Trotzdem erkenne ich in ihnen einen ungläubigen Schimmer.

  »Wenn ich dir empfehle, dich zu beruhigen, dann weil ich weiß, dass es keinen Sinn hat, der Panik nachzugeben.«

  Mein Herzrasen beruhigt sich trotzdem nicht wirklich. Meine Kehle zieht sich immer mehr zusammen, genau wie die Wände. Die Kabine ist zu klein und mir ist heiß, viel zu heiß.

  »Ich leide unter Klaustrophobie«, presse ich als Erklärung hervor.

  »Atme tief durch die Nase ein und aus. Ungefähr zehnmal.«

  Ich gehorche und schlucke Tränen der Frustration hinunter. Ich hasse mich in diesem Zustand. Und dabei hatte ich es so gut unter Kontrolle! Jeder andere könnte mit einer solchen Situation gelassen umgehen, nur ich nicht. Was hier gerade passiert, ist einer meiner schlimmsten Albträume.

  »Konzentrier dich auf positive Gedanken, das sollte funktionieren. Und keine Panik, alles wird gut.«

  »Leichter gesagt als getan, Monsieur von der Feuerwehr«, flüstere ich.

  Er geht über meine sarkastische Bemerkung hinweg, ohne mit der Wimper zu zucken, kommt zu mir in den hinteren Teil der Kabine, setzt sich und lehnt sich mit ausgestreckten Beinen an die Wand.

  Ich gehorche, bin aber immer noch am Durchdrehen. Keine Ahnung, wie er es fertigbringt, in dieser Situation ruhig zu bleiben. Dann fällt mir ein: Er ist Feuerwehrmann. Er kennt vermutlich Schlimmeres.

  Ich fühle mich, als würde mein Herz unter meinen Fingern davonrennen. Ich versuche, bewusst durch die Nase zu atmen, zapple aber in der engen Kabine herum. Konzentrier dich auf positive Gedanken, Violette. PO-SI-TIV. Eine Katze, die vor einer Gurke erschrickt? Eine rappende Oma? Die Herbst-Winter-Kollektion von Valentino? Offenbar ist das alles nicht positiv genug, sondern beunruhigt mich nur noch mehr. In meiner Qual trete ich meinem Nachbarn auf den Fuß.

  Er schreit vor Schmerz auf. »Oh, sorry!«, rufe ich.

  »Jetzt setz dich endlich und hör auf, dich zu bewegen.«

  Mir gefällt nicht, wie er mit mir redet, auch wenn er so leise spricht, als hätte er Angst, jemanden aufzuwecken. Aber ich versuche, mich in seine Lage zu versetzen – am Silvesterabend mit einer klaustrophobischen Irren im Aufzug festzustecken. Nach einigen Sekunden Rebellion setze ich mich neben ihn.

  Er schließt die Augen und lehnt den Kopf an die Wand. Ich nutze die Gelegenheit, um ihn verstohlen zu betrachten. Merkwürdigerweise beruhigt es mich, ihn anzusehen. Er ist nicht übel. Eigentlich sogar ziemlich süß. Der Feuerwehrmann hat an den Schläfen kurzes und oben längeres, kaffeebraunes Haar. Seine Kiefermuskeln sind ständig in Bewegung und seine Augen haben mich vorhin geradezu geblendet.

  Mit gerunzelter Stirn erkenne ich einen seltsamen Fleck an seinem Hals. Zunächst denke ich an ein Muttermal, ehe mir klar wird, dass es unter seiner Jacke verschwindet und sich bis zum Kinnansatz hinaufzieht. Die Haut ist dort rosiger und glänzender. Wie nach einer Verletzung.

  Ich wende den Blick ab, weil ich es unhöflich finde, ihn anzustarren, auch wenn er es nicht sieht.

  »Erzähl mir von dem schlimmsten Einsatz, den du je erlebt hast.«

  Es ist mir so herausgerutscht. Wenn ich ihn sprechen höre, muss ich vielleicht nicht ständig daran denken, dass ich mich in einem derart engen Raum befinde, und fühle mich weniger schuldig, Zoé und die anderen zu versetzen. Mein Nachbar hat mich gehört, das weiß ich. Trotzdem hält er die Augen geschlossen.

  »Das willst du nicht hören.«

  »Wie kommst du darauf? Schließlich habe ich dich darum gebeten!«

  Ich kann den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Er scheint ein wenig älter zu sein als ich. Wenn er schon Feuerwehrmann ist, kann es nur so sein. Ich bin fast neunzehn.

  »Wenn das so ist, will ich eben nicht darüber reden.«

  Okay. Wenn er Spielchen spielen will …

  »Gut, dann vom zweitschlimmsten.«

  Dieses Mal öffnet er die Augen und schenkt mir einen müden Blick.

  »Du gibst wohl nie auf?«

  »Selten. Und schon gar nicht bei knurrigen Typen wie dir. Entweder du redest oder ich bekomme eine Panikattacke. Du hast die Wahl!«

  Er erkennt meinen flehenden Gesichtsausdruck. Ich will es ihm nicht zeigen, aber ich habe Angst. Angst vor einer Panikattacke, weil ich so etwas nur zu gut kenne. Es ist die Hölle. Ich habe keine Lust zu glauben, dass ich heute Nacht sterben muss. Eigentlich wollte ich feiern und ein paar Cocktails trinken, um das neue Jahr angemessen zu beginnen.

  Er wendet den Blick ab und starrt vor sich hin. Ich muss ein paar Sekunden warten, ehe er beginnt:

  »Es war in einem Mietshaus in Paris, ein bisschen so wie dieses hier.«

  Erst jetzt, da mein Herz wieder mit einer akzeptablen Frequenz klopft, stelle ich fest, dass er eine schöne Stimme hat. Ein wenig rau, aber nicht so, als hätte er zu viel geraucht. Sie klingt eher, als wäre eines seiner Stimmbänder leicht beschädigt.

  »Als wir ankamen, schlugen Flammen aus einem Fenster. Draußen standen Menschen. Meine Kollegen kümmerten sich um sie. Alle waren in Panik. Wir sagten ihnen, sie sollten sich beruhigen und auf die Sanitäter warten.«

  Ich hänge an seinen Lippen. Die ganze Szene spielt sich vor meinem inneren Auge ab.

  »Diejenigen, die noch im Haus festsaßen, riefen um Hilfe und flehten uns an, sie zu retten«, fährt er fort. Seine Stimme klingt wie weit entfernt, wie in den Flammen verloren. »Einige schrien sogar, dass ihre Füße brennen würden.«

  Instinktiv halte ich mir eine Hand vor den Mund. Er hatte recht – das will ich wirklich nicht hören. Um meine Schwäche nicht zuzugeben, beiße ich mir auf die Lippe und lasse ihn seine Geschichte fortsetzen.

  »An einem der Fenster im dritten Stock brannte es noch nich
t. Eine Familie wartete darauf, dass wir sie rausholten. Ein Mann, seine Frau und ihre ungefähr fünfzehnjährige Tochter. Ich habe keine Sekunde gezögert. Ich nahm die Schiebeleiter, ging in den Hof und kletterte an der Fassade hoch.«

  »In den dritten Stock?«

  »Jep. Die Leiter war ein Stück zu kurz, aber ich kletterte Stockwerk für Stockwerk nach oben. Als ich bei ihnen ankam, bat mich der Vater, seine Tochter mitzunehmen. Ich sah sofort, dass es nicht mehr lange dauern würde, das Feuer hatte sich bereits in den Raum gefressen. Es war unglaublich heiß … Ich habe der Kleinen gesagt, sie sollte sich an mir festklammern, und den Eltern befohlen, nacheinander gleich hinter uns runterzusteigen. Aber die Leiter reichte nicht bis ganz nach oben. Ich wusste, es würde zu lange dauern.«

  Er zieht die Beine an und stützt die Ellenbogen auf die gespreizten Knie. Sein Blick ist auf seine Hände gerichtet, als suche er nach einer Antwort auf etwas. Vielleicht darauf, wie er sie alle hätte retten können.

  »Ich hatte mit der Tochter gerade den ersten Stock erreicht und die Mutter den zweiten, als das Feuer in der dritten Etage voll ausbrach. Der Vater erkannte, dass er nicht mehr schnell genug hinunterklettern konnte.«

  Er unterbricht sich. Der Rest macht mir Angst. Atemlos frage ich nach dem Ende: »Ist er verbrannt?«

  »Nein. Er ist gesprungen, weil er hoffte, die untere Etage erreichen zu können. Aber er landete zerschmettert auf dem Bürgersteig. Vor den Augen seiner Familie.«

  Ich reibe mir die Augen und mir wird plötzlich schlecht. Ich kann Menschen, die einen so furchtbaren Job ausüben, nur bewundern. Sicher, sie retten Leben. Allerdings sind sie auch Zeugen des Todes. Und zwar ständig. Das ist etwas, was ich nicht ertragen könnte.

  »Haben Mutter und Tochter es geschafft?«

  »Ja«, seufzt er und reibt sich den Hals. Er sieht müde aus. »Ich konnte sie rechtzeitig hinunterbringen und kümmerte mich darum, dass sie mit Sauerstoff versorgt wurden.«

  »Eine schreckliche Geschichte.«

  »Ich habe dich gewarnt.«

  »Warum machst du das?«

  Er runzelt die Stirn, ohne mich anzusehen. Schon seit dem ersten Moment fällt mir auf, dass er es vermeidet, meinem Blick zu begegnen. Was ich nicht verstehe. Oder vielleicht doch: Es bedeutet, dass ich immer noch halbtot aussehe. Und das finde ich alles andere als gut.

 

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