Um zehn nach Mitternacht bin ich fast fertig mit dem Aufbau der Möbel. Mir ist heiß vor Anstrengung und wegen der bullernden Heizung. Reflexartig greife ich nach dem Halsausschnitt meines T-Shirts, um es auszuziehen. Als ich bemerke, was ich da mache, erstarre ich. Auf keinen Fall darf ich hier mein T-Shirt ausziehen. Selbst wenn ich einem Hitzschlag zum Opfer fiele, käme das nicht in Betracht.
»Warum tust du das?«, unterbricht sie mich.
Ich drehe mich zu ihr um, begreife aber nicht, was sie mich fragt.
»Warum tue ich was?«
»Das hier. Mir Hilfe anbieten.«
Ich zucke mit den Achseln. Es erscheint mir völlig selbstverständlich. Menschen zu helfen ist schließlich mein Job.
»Weil ich gern helfe.«
Ich wende ihr den Rücken zu, um konzentriert die letzten Schrauben festzuziehen.
»Trotzdem«, fährt Violette fort, »ehe ich dich im Aufzug gezwungen habe, mit mir zu reden, kam es mir vor, als würdest du mir nicht über den Weg trauen. Nach einigem Nachdenken bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es nur zwei mögliche Gründe für deine plötzliche Großzügigkeit gibt.«
Ich schüttle den Kopf, befestige eine zweite Schraube und grinse in mich hinein. Sie hat also nachgedacht und eine Antwort gefunden. Natürlich bin ich neugierig.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Also entweder bist du ein Masochist, oder du bist gestört und fühlst dich aus irgendeinem Grund, der vermutlich mit deiner schmerzlichen Vergangenheit zu tun hat, wie ein Magnet von durchgeknallten Leuten wie mir angezogen.«
Ich nicke langsam und tue, als würde ich überlegen. Falls ich tatsächlich nur die Wahl zwischen diesen beiden Antworten habe, würde ich eher von der ersten Option ausgehen. Obwohl es mir nicht wie Folter vorkommt, sie zu ertragen.
Hinter meinem Rücken wird Violette ungeduldig.
»Und? Ist es nun Masochismus oder die schmerzliche Vergangenheit?«
»Ich habe ebenfalls eine Theorie«, sage ich und richte mich auf. »Du schaust zu viele Serien.«
Sie lächelt verschmitzt.
»Komm schon, beantworte einfach meine Frage.«
Ich verdrehe die Augen. Himmel nochmal, sie lässt wirklich nicht locker.
»Die Frage ist blöd.«
»Wow, tolle Antwort«, spottet sie. »Ich bin ganz neidisch.«
Dieses
Mädchen
ist
völlig
verrückt.
»Na gut«, seufze ich. »Wenn ich dir bei unserem ersten Treffen im Aufzug distanziert erschienen bin, dann deshalb, weil ich immer distanziert gegenüber Leuten bin, die ich nicht kenne. Es fällt mir nicht leicht, Menschen zu vertrauen.«
Sie betrachtet mich mit verwirrender Geduld. Ich zucke die Schultern und lasse den Schraubenzieher auf die Couch fallen. Tatsächlich kann ich meine Freunde an einer Hand abzählen, aber zumindest bin ich mir hundertprozentig sicher, dass sie zuverlässig sind.
»Als du panisch wurdest und angefangen hast, mir dein Leben zu erzählen, ohne dir auch nur die Mühe zu machen, zwischen den einzelnen Sätzen Luft zu holen, war mein erster Gedanke: ›Wo kommt dieses Mädchen her?‹ Der zweite war: ›Ich will sie kennenlernen‹. Es ist albern, ich weiß … und vermutlich werde ich dich in dem Verdacht bestärken, dass ich ein Serienmörder bin, aber in diesem Moment wusste ich, dass wir uns verstehen könnten.«
Ich merke sofort, wie lächerlich meine Worte klingen. Ich ärgere mich, so etwas gesagt zu haben. Bestimmt hält sie mich jetzt für einen alten Sack. Aber im Grunde glaube ich, sie versteht, was ich meine. Versteht, dass es für mich platonische Liebe auf den ersten Blick war.
»Was hat dich überzeugt? Gib’s zu, es war die Anekdote über mein mündliches Abitur.«
Ich lache aufrichtig und fahre mir erleichtert durchs Haar.
»Unter anderem. Aber ich würde sagen: eine Mischung aus deiner Offenheit, deiner Tollpatschigkeit und deinem Blumenduft. Natürlich nicht zu vergessen die grünen Paillettenshorts.«
Ihr Lächeln wird so breit, dass ich mich frage, wie weit es noch gehen kann, denn es nimmt bereits ihr halbes Gesicht ein. Sie schiebt sich eine Locke hinters Ohr, verschränkt die Arme und zwinkert schelmisch.
»Loan Millet … Träume ich oder machst du mir gerade eine Liebeserklärung?«
Ich lache ebenfalls und lege mir die Hand auf die Brust.
»Tut mir leid, aber mein Herz ist schon vergeben.«
4
Heute
Violette
Es ist Freitagabend.
Unglaublich, wie schnell diese Woche vergangen ist! Ich habe sie wirklich kaum wahrgenommen. Überhaupt habe ich nur sehr wenig wahrgenommen und weder Loan noch Clément gesehen. Loan hatte nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub viel auf der Feuerwache zu tun, Clément hatte in dieser Woche mündliche Prüfungen. Kurz und gut, ich habe mich fünf Tage lang mit Zoé begnügt.
Ich wiederhole: Fünf. Tage.
Zum Glück ist jetzt Wochenende. Wie geplant gehen wir heute Abend aus. Ich stoße die Tür des ESMOD-Gebäudes auf, schaue auf die Uhr und mummle mich in meinen Schal ein. Es ist halb neun abends. Wenn ich mich beeile, kann ich die anderen noch einigermaßen rechtzeitig treffen … Ich verdrehe die Augen, als ich mir beim Denken zuhöre. Wem genau will ich hier was vormachen? Jeder weiß, dass sich die hier anwesende Violette auf jeden Fall verspätet, wenn sie einen Satz mit »Wenn ich mich beeile …« beginnt.
Zunächst schreibe ich Loan und frage, wo er ist. Seine Antwort lässt nicht lang auf sich warten: »Auf dem Weg. Ich hol dich ab.«
»Violette?«
Ich zucke zusammen, als hätte man mich auf frischer Tat ertappt, ehe ich mich umdrehe. Beim Anblick dieser grauen Augen entspanne ich mich sofort. Lächelnd gehe ich auf Clément zu. Ich bin angenehm überrascht, ihn dort auf mich warten zu sehen.
»Guten Abend, schöner Fremder. Was machen Sie hier?«
Er lächelt mir zu. Seine Hände stecken tief in den Manteltaschen.
»Ich bin natürlich gekommen, um dich zu entführen. Auf dem Programm stehen Häagen-Dazs-Eis auf den Champs Elysées und eine Fahrt mit dem Riesenrad. Damit du dich an mich kuschelst und ich es auf unanständige Weise genießen kann.«
Ich bin jetzt bei ihm. Er ist nur ein paar Zentimeter größer als ich, aber er schüchtert mich nach wie vor ein. Clément sieht so perfekt aus, dass ich Angst habe, mit meiner Dyspraxie und meinem Gequatsche neben ihm unangenehm aufzufallen. Verdammt, jetzt fange ich schon an, Loans dämliche Begriffe zu benutzen! Jedenfalls bin ich in seiner Gegenwart noch immer nicht ganz ich selbst. Ich will nicht, dass er sofort Angst bekommt.
»Ich würde mich liebend gern an dich kuscheln … Aber ich gehe heute Abend mit meinen Freunden weg.«
Er verzieht das Gesicht und steckt seine eisigen Hände in meine Manteltaschen. Sein Gesicht ist nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Habe ich schon erwähnt, wie toll ich ihn finde?
»Okay, aber in aller Regel fragt ein Entführer sein Opfer nicht nach seiner Meinung …«
Amüsiert schaue ich ihm direkt in die Augen. Obwohl wir uns nicht oft gesehen haben, haben wir ständig telefoniert – wenn er Zeit hatte. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir schon längst zusammen sind, auch wenn wir eigentlich noch keine Beziehung haben, denn bisher haben wir uns nicht mal geküsst. Manchmal frage ich mich übrigens, worauf er noch wartet.
»Stimmt. Ich hoffe, dein Kofferraum ist groß genug.«
»Ich bin verrückt nach dir, Violette«, sagt er daraufhin – ein Geständnis, das ihm offenbar ungewollt entwischt ist.
Verblüfft schaue ich ihn an. Seine Augen lügen nicht, das fühle ich, das weiß ich. Er ist nicht der nächste Émilien. Er mag mich. Und, Himmel, ich ihn auch.
»Gut, dann entführ mich Montagabend. Ich werde so tun, als wäre ich überrascht.«
»Montagabend … Perfekt.«
Ich lächle ihn an. Mein Herz schlägt etwas schneller als sonst. Mit se
inen Händen in meinen Taschen steht er so dicht vor mir, dass ich seinen Atem an meinen Lippen spüre. Sein Blick verweilt für einen Moment auf meinem Mund, sodass ich fast vermute, dass er es versuchen wird.
Innerlich feuere ich ihn an: »Gib mir ein K, gib mir ein U, gib mir ein S, gib mir ein S! Gib mir einen Kuss!« Als ich mich ihm kaum merklich nähere, wendet er plötzlich den Blick ab und starrt über meine Schulter. Ich warte noch einige Sekunden. Als sein Blick nicht zu mir zurückkehrt, runzle ich die Stirn.
»Was ist los?«
Mit einer Kopfbewegung deutet er auf etwas hinter mir.
»Da ist ein Typ, der uns anstarrt.«
Neugierig drehe ich mich um. Als ich Loan sehe, der neben seinem Auto steht und uns beobachtet, setzt mein Herz einen Schlag aus. Es ist ein dummer Reflex, aber ich entferne mich ein wenig von Clément. Mein bester Freund steht dort mit verschlossener Miene und wirkt ziemlich überrascht.
»Ach, das ist Loan«, beruhige ich Clément und winke meinem Freund zu, dass ich komme.
Clément hebt eine Augenbraue. Peinlich berührt räuspere ich mich und trete so weit zurück, dass er seine Hände wieder in Besitz nehmen kann.
»Ich muss los. Er holt mich ab.«
Clément runzelt verwirrt die Stirn.
»Ist er … dein Freund? Muss ich ihm die Fresse polieren, meinen Degen ziehen oder so?«
»Nein«, lache ich. »Loan ist mein Kumpel und bester Freund.«
»Bester Freund wie in ›Ich wohne mit meinen beiden BFFs zusammen‹?«
Ich beiße mir auf die Unterlippe und schäme mich. Dieser Moment musste ja eines Tages kommen …
»Unter anderem, ja. Ich wohne mit Zoé und ihm zusammen. Aber du musst dir ganz sicher keine Sorgen machen. Loan und ich sind wirklich nur Freunde.«
Als Wiedergutmachung biete ich ihm einen zerknirschten Schmollmund an. Clément schaut mich einen Moment lang nachdenklich an. Dann seufzt er und kommt wieder näher. Und dieses Mal, obwohl Loans Blick mir fast die Wangen verbrennt, zucke ich nicht mit der Wimper.
»Ist das wahr?«
»Ich lüge nie«, flüstere ich. »Außer natürlich wenn ich sage, dass ich nie lüge …«
»Du kleine Gaunerin!«
Ehe ich ihm ausweichen kann, umfasst er mein Gesicht und küsst mich. Ich schließe die Augen und genieße das Gefühl seiner weichen Lippen auf meinen. Es gelingt mir sogar, Loans Anwesenheit für eine Nanosekunde zu vergessen. Lang genug, um mir darüber klar zu werden, dass ich es sehr, sehr angenehm finde. Und dass ich mehr will. Lieber Himmel, es ist das erste Mal, dass ich bete, entführt zu werden.
»Das war nett … aber jetzt muss ich gehen.«
»Bis Montag! Ich wünsche dir einen schönen Abend.«
Ich schenke ihm ein letztes Lächeln und gehe zu Loan, der inzwischen Zeit hatte, sich an sein Auto zu lehnen. Ich mustere sein Outfit, ehe ich mich auf die Beifahrerseite setze. Loan trägt schwarze Jeans, ein langes T-Shirt mit der Aufschrift »NO PANTS ARE THE BEST PANTS« und eine seiner grauen Mützen, der ein paar braune Strähnen entwischt sind. Ich stelle fest, dass sein Bart in einer Woche Zeit hatte, wieder nachzuwachsen.
Mit Bart gefällt er mir besser als ohne.
»Können wir bitte noch kurz bei der Wohnung halten? Ich muss mich umziehen. Es dauert nicht lang. Versprochen.«
»Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Violette.«
Ich werfe ihm einen amüsierten Blick zu, den er hoheitsvoll ignoriert. Sein Blick ist auf die Straße gerichtet. Trotz seines Scherzes wirkt er distanziert. Ich glaube, es liegt daran, dass ich mir Zeit für Clément genommen habe, während er warten musste. Oder weil ich mich vor seinen Augen habe küssen lassen. Er mag keine öffentlichen Zuneigungsbekundungen.
Nach einem langen Schweigen, das mir Unbehagen bereitet, öffnet Loan endlich den Mund und beginnt im Plauderton:
»Wer war das?«
»Clément.«
»Sollte der Name mir was sagen?«
»Nein, ich habe ihn erst letzte Woche kennengelernt.«
Loan biegt an einer Kreuzung ab und hält vor einer roten Ampel. Er sieht mich immer noch nicht an.
»Cool. Also seid ihr zusammen?«
»Ich glaube, so kann man es ausdrücken.«
Danach fragt er mich nichts mehr. Der Weg zu uns nach Hause erfolgt in tiefer, peinlicher Stille. Ebenso wie der Weg zum Club. Obwohl es mir schwerfällt, verkneife ich es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass ich weniger als zwanzig Minuten zum Umziehen gebraucht habe.
»Mamma mia!«, ruft Jason, als er mich sieht, und begutachtet mein Outfit. »Violette, Loan muss heute Abend ein Auge auf dich haben, wenn er nicht will, dass dich jemand angräbt.«
Mein bester Freund und ich haben uns endlich zu Jason durchgekämpft, der an der Bar auf seine Bestellung wartet. Die Musik ist ohrenbetäubend, aber er spricht laut genug, dass ich ihn hören kann. Ich lächle über sein Kompliment.
»Nur ein Auge?«
»Das andere ist ihm schon herausgefallen, glaube ich.«
Ich muss lachen und schaue Loan an, der ein amüsiertes Lächeln aufsetzt. Ich muss zugeben, dass ich nach Cléments Kuss in Feierstimmung war. Ich wollte heute Abend schön aussehen, und zu erkennen, dass es mir teilweise gelungen ist, macht mich sehr froh. Ich trage einen nagelneuen schwarzen, rückenfreien Body, hoch taillierte Röhrenjeans und schwarze High Heels.
Jasons Schmeichelei freut mich, und ich gebe ihm einen Wangenkuss. Daraufhin greift er sich ans Herz und tut, als müsse er sterben. Loan gibt ihm einen sehr männlichen Klaps auf den Rücken.
»Immer schön den Ball flach halten, Kumpel. Ich hab dich im Blick.«
»Keine Sorge, ich weiß schon, dass sie unantastbar ist. Ich bin doch nicht lebensmüde.«
Jason bekommt seine Getränke und fordert uns auf, ihm zu folgen. Mit einer Hand auf meinem Rücken bedeutet mir mein bester Freund, dass ich vor ihm hergehen soll. Ich erkenne Zoé auf der letzten Bank in der Reihe, zwischen Alexandra und Chloé, beide ebenfalls ESMOD-Mädchen. Ethan, ein Kollege und Freund von Loan, ist ebenfalls da, mit einem Typen, den ich nicht kenne. Als wir endlich ankommen, kreischt Zoé zur Begrüßung überdreht auf.
»Da kommt die Schönste!«
Ich gebe die obligatorischen Küsschen, ehe ich mich zu ihnen setze. Schnell integrieren mich die Mädels und erzählen mir alles Mögliche, während die Jungs ihr »Weiberradar« aktivieren – die Bezeichnung stammt wenig überraschend von Jason.
Plötzlich beugt Zoé sich mit leuchtenden Augen zu mir. Ich merke sofort, dass sie schon mindestens zwei Drinks hatte.
»Weißt du noch, wie wir das letzte Mal hier waren?«
Oh ja, ich erinnere mich … Kleine – aber nicht zu vernachlässigende – Info: Damals, vor etwa acht Monaten, habe ich Zoé gestanden, dass ich noch Jungfrau bin. Seitdem hat sie sich in den Kopf gesetzt, mir dabei zu helfen, mich entjungfern zu lassen. Sie nahm wirklich kein Blatt vor den Mund. Schnell wurde daraus ein kleines Spiel zwischen uns – manchmal ziemlich nervig, da sie immer wieder versucht, mich mit dem erstbesten Kerl zu verkuppeln. Wir nannten es »Operation Spargel«. Zu unserer Verteidigung muss man sagen, dass wir beide völlig betrunken waren.
Eine Weile war ich mit Émilien zusammen, aber nachdem das vorbei war, schleppte Zoé mich in Bars und Clubs und erklärte mir, ich müsse mir nur den heißesten Typen aussuchen und ihn als krönenden Abschluss mit nach Hause nehmen. Nur, dass das für mich eben nicht so einfach war …
»Und?«, erkundigt sich Zoé, die mir zur Hilfe kommt. »Wen hast du dir geangelt?«
Ich öffne den Mund, um ihr Édouard vorzustellen, aber in dem Moment fällt mir auf, dass er weg ist. Ich bin allein mit meinen sieben leeren Shotgläsern. Warum zum Teufel mache ich das nur? Ach ja. WEGEN SEX. Ich fühle mich wie am Rand eines Abgrunds und lasse mich jammernd meiner besten Freundin in die Arme fallen. Sie streichelt mir das Haar wie meine Mama. Nein, nicht meine Mama. Mein Papa. Nur mein Papa.
»Ich kann das nicht,
Zoé«, schniefe ich an ihrer Schulter. »Ich glaube, ich würde mich wohler fühlen mit jemandem, den ich kenne.«
»Jason kann ich dir nicht empfehlen. Seiner ist garantiert zu klein.«
Ein Mädchen in einem hautengen Kleid geht an mir vorbei und schubst mich so, dass ich das Gleichgewicht verliere. Bitterböse sehe ich ihr hinterher und beschimpfe sie matt als blöde Kuh.
Zoé betrachtet mich ernst und nippt an ihrem Cocktail. Sie erinnert mich an einen Ermittler im Fernsehen.
»Gehen wir doch mal unseren Freundeskreis durch.«
Ich habe zu viel getrunken, um ihr beim Denken behilflich zu sein. Plötzlich leuchtet ihr Gesicht auf und sie strahlt mich an.
»Aber natürlich! Die am besten qualifizierte Person wäre Loan!«
Ich lache und unterdrücke einen Brechreiz. Ich spüre, dass mir der Alkohol hochkommt.
»Du hast zu viel getrunken«, sage ich.
»Quatsch, ich bin sicher, er ist bestens bestückt. Er spielt den braven Kerl, er trinkt nicht, er bringt keine Mädchen nach Hause, regt sich nie auf, blablabla … Aber es sind oft die brav wirkenden Typen, die im Bett am schärfsten sind.«
Ich rümpfe die Nase. Meine Gedanken wandern zu Loan, der erst seit Kurzem Single ist. Aber mir bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Zoé fährt fort:
»Die anderen Angeber besorgen es dir eine Minute lang in Missionarsstellung und gehen dir am Ende mit ›Das war gut, was?‹ auf die Nerven.«
Ich muss so lachen, dass ich kurz glaube, ich hätte mir in die Hosen gemacht. Als sie merkt, was sie gerade gesagt hat, stimmt Zoé in mein Lachen ein. Erst nachdem wir uns nicht mehr vor Lachen krümmen, wische ich mir die Augen und werde wieder traurig.
»Ich werde wohl mein Leben lang Jungfrau bleiben.«
In diesem Moment kommt Alexandra zu uns und steckt sich einen Zettel in den BH. Wäre ich nicht so betrunken, würde ich es vielleicht subtiler ausdrücken … aber Alexandra hat halb Paris gevögelt. Zwischen ihr und Zoé fühle ich mich wie eine Kartoffel in einer Portion Pommes.
»Glaubt ihr, ich lande eines Tages in einer langweiligen Zeitschrift unter der Rubrik »Ungewöhnliches« mit meinem Bild und dem Titel ›Violette, 60 Jahre: einmal Jungfrau, immer Jungfrau‹?«
Never Too Close Page 6