Never Too Close

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Never Too Close Page 8

by Moncomble, Morgane


  »Rede noch einmal so mit ihr und du kannst dich von deinen Beinen verabschieden.«

  Wie versteinert stehe ich da und warte auf eine gewalttätige Geste von Émilien, der meinem besten Freund bleich und ohne mit der Wimper zu zucken zuhört.

  »Violette weiß, wo du wohnst«, schüchtert Loan ihn weiter ein. »Eines Tages verlässt du ganz ruhig deine Wohnung, und PAFF.«

  Er bricht ab und lässt die Worte nachklingen. Nach einer Weile erkundigt er sich mit kontrollierter Kälte:

  »Hast du mich verstanden oder muss ich es wiederholen?«

  Émilien sagt nichts. Er beißt die Zähne zusammen und blickt mich aus dem Augenwinkel an, aber Loan sieht es und packt seinen Nacken fester. Émilien senkt den Blick, bis Loan wieder loslässt. Mit geballten Fäusten zieht Émilien sich zurück. Mein Herz beginnt wieder normal zu schlagen. Ich bin so erleichtert, dass ich die Schultern hängen lasse. Das war wohl nicht die beste Art, mich zu rächen.

  »Tut mir leid«, sage ich und lege Loan die Hand auf den Arm.

  Er betrachtet sie einen Moment lang, dann versenkt er endlich seinen Blick in meinem. Er sieht nicht zufrieden aus. Ganz und gar nicht.

  »Nächstes Mal bittest du deinen Freund. Solche Aufgaben liegen mir nicht.«

  Autsch. Das tat weh.

  Aber er hat recht, ich hätte ihn nicht darum bitten dürfen. Andererseits hatte er die Wahl. Und er hat sich nicht geweigert. Ich sehe zu, wie er sich umdreht und irgendwie unentschlossen an unseren Tisch zurückkehrt. Unser kurzer, verwirrender Tanz scheint schon vergessen. Das ist auch gut so.

  Ich nicke entschlossen, um mich selbst davon zu überzeugen, und kehre zu den anderen auf der Bank zurück. Ich bekomme gerade noch mit, wie Loan seine Jacke anzieht und verkündet, dass er nach Hause geht.

  So gut es geht verstecke ich mich hinter einer Säule und warte auf seinen Abgang, weil ich Jason aushorchen will.

  »Pass auf sie auf«, raunt Loan seinem Freund zu. »Émilien ist hier.«

  Sein bester Freund klopfte ihm mit einem Drink in der Hand auf die Schulter.

  »Ich hüte sie wie meinen Augapfel! Näher als drei Meter kommt dieser Depp nicht an sie heran.«

  Loan nickt und setzt seine Mütze auf.

  »Gut zu wissen.«

  Mit schlechtem Gewissen lehne ich mich an den kalten Stein. Ich fühle mich elend, weil ich ihn benutzt habe, um einen Typen eifersüchtig zu machen, der mir eigentlich völlig egal ist. Aber ich weiß, dass es morgen besser wird.

  Und dass dann alles wieder so ist, wie es gestern war.

  5

  Heute

  Loan

  »Du bist am Freitag ziemlich früh verschwunden«, meint Ethan beim Bauchmuskeltraining.

  Ich unterdrücke ein Seufzen und reagiere gleichgültig. Mir war klar, dass ich um ein solches Verhör nicht herumkommen würde. Ich bin sogar überzeugt, dass er und Jason wild über die Ursache meines voreiligen Rückzugs spekuliert haben. Aber mich interessiert nicht wirklich, was sie denken. Ich nehme mir also Zeit, eine angemessene Antwort zu finden, während ich weiter die hundert Kilo über meinen Kopf stemme.

  An diesem Montag habe ich frei, aber ich bin trotzdem in den Kraftraum der Feuerwache gekommen, um meine Ruhe zu haben. Ethan hat mich gefragt, ob er mitkommen kann, und ich habe nicht gewagt, abzulehnen.

  »Klar«, meine ich lakonisch.

  Der Freitagabend liegt hinter mir. Es ist nicht nötig, darauf zurückzukommen. Wahrscheinlich war es unvermeidbar, dass ich mich eines Tages sexuell zu Violette hingezogen fühlen würde. Okay, sie ist meine beste Freundin, aber sie ist deshalb nicht weniger eine Frau. Und was für eine Frau!

  Allerdings wäre es gelogen, wenn ich behaupten würde, dass es das erste Mal war, dass ich diese Art von Anziehung für sie empfunden habe. Es ist mir auch früher schon passiert … dass meine Fantasie mit mir durchgegangen ist, wenn ich sie in einem hübschen, vielleicht ein bisschen kurzen Kleid gesehen habe oder dass ich ein Zittern unterdrücken musste, wenn sie sich unschuldig mit der Brust an mich gedrückt hat. Aber ich habe nie wirklich darauf geachtet. In meinem Kopf war nur Lucie, und über das, was mein Körper wollte, bin ich einfach hinweggegangen. Heute ist Lucie nicht mehr da, obwohl sie immer noch in meinen Gedanken herumschwirrt.

  »Ich hatte übrigens ein kleines Gespräch mit Violette. Mir war völlig entfallen, dass sie bald Geburtstag hat.«

  Ich lächle flüchtig. Ich habe es nicht vergessen. Schon seit Monaten denke ich darüber nach und zermartere mir das Hirn, um etwas Denkwürdiges für sie zu organisieren. Ich hatte überlegt, sie für ein ganzes Wochenende ins Disneyland Paris einzuladen, auch wenn es ein Vermögen kostet – ich weiß, dass sie noch nie dort war. Aber Zoé hat mich daran erinnert, dass wir nicht allein sind.

  »Ja, sie wird zwanzig.«

  Als Ethan mir sagt, dass Violette anscheinend noch nichts geplant hat, richte ich mich mit schmerzenden Muskeln auf.

  »Ich weiß, zum Glück. Sonst würde Zoés und mein Plan nämlich ins Wasser fallen.«

  »Was habt ihr vor?«

  »Einen Abend zu Hause mit allen ihren Freunden. Das ist nichts Außergewöhnliches, aber ich weiß, was Violette gefällt. Sie mag es einfach. Und sie ist gern mit Leuten zusammen, die ihr wichtig sind.«

  »Das wird ihr gefallen«, meint Ethan lächelnd.

  Ich hoffe es.

  Was zählt, ist, dass alles wieder so ist, wie es war. Zumindest vor Freitagabend, als die Dinge ein bisschen eskaliert sind. Obwohl es mir leid tut, dass ich diesem Drecksack nicht den Kopf gegen die Wand geklatscht habe, bin ich froh, dass Émilien uns unterbrochen hat. Wer weiß, welche unzuverlässigen Dinge ich sonst gemacht hätte. Mir ist klar, dass Violette reif genug ist, um zu verstehen, dass uns diese innige Nähe zwar gefallen hat – wirklich sehr gefallen hat –, aber dass es dabei lediglich um plötzlich aufgeflammte Erregung ging. Unsere Freundschaft ist viel zu kostbar.

  Deshalb habe ich am nächsten Tag auch so getan, als wäre nichts passiert. Ich will nicht, dass es zwischen uns komisch wird.

  »Hast du heute Abend schon was vor? Kommt doch zu mir und wir trinken gemütlich einen Aperitif.«

  Ich denke einen Augenblick nach, dann nicke ich und wische mir mit dem Handtuch die verschwitzte Stirn ab.

  »Klingt gut. Ich rufe Jason an, wenn ich daheim bin.«

  »Und die Mädchen?«

  »Nein, Zoé würde sich Jason nie freiwillig auf mehr als drei Meter nähern, wenn Violette nicht dabei ist.«

  Ethan wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich zucke ausweichend mit einer Schulter und mache mich auf den Weg zur Dusche. Er folgt mir. Unterwegs begrüßen wir ein paar unserer Kollegen. Ich erkläre ihm, dass Violette den Abend mit Clément verbringt – einem Typen, den sie erst seit ein paar Wochen kennt.

  In der Umkleide streife ich meine Shorts und Schuhe ab und blicke Ethan an.

  »Na, das scheint dich ja sehr zu entzücken«, bemerkt er eher spöttisch als misstrauisch.

  Ich nutze die Gelegenheit, um eine der Kabinen zu betreten und mir dort in aller Ruhe das Hemd auszuziehen. Die Duschkabinen sind nicht komplett geschlossen, daher können Ethan und ich uns bis zum Hals sehen. Zum Glück ist mein Rücken hinter der Wand verborgen.

  Ich warte noch ein wenig und genieße das wohlige Gefühl des Wassers auf meiner nackten Haut, ehe ich schließlich antworte:

  »Ich mag ihn nicht.«

  Beim Gedanken an diesen Clément sehe ich wieder rot. Nein, ich mag ihn definitiv nicht. Auch wenn ich im Moment keinen konkreten Grund dafür habe.

  »Ist er ein Idiot?«, fragt Ethan und seift sich ein.

  »Keine Ahnung. Ich hab noch nie mit ihm geredet.«

  »Aber wieso …«

  »Ich mag ihn eben nicht, Punkt. Sein Aussehen, seine perfekten Zähne und seine Mädchenstiefel.«

  Mein Freund lacht vor sich hin und schüttelt den Kopf.

  »Loan, bist du etwa eifersüchtig?«

  Damit habe ich
gerechnet. Es war zu erwarten. Ich halte durch und wasche mir mit schnellen, präzisen Bewegungen die Haare. Ich habe es viel zu eilig, nach Hause zu kommen.

  »Nein. Normalerweise mische ich mich nicht in ihre Beziehungen ein (bis gestern …) Aber Violette ist viel zu nett. Sie will unbedingt das Beste in allen Menschen sehen und ist deshalb manchmal ein bisschen blind. So wie bei diesem Arsch Émilien. Ich hab sie machen lassen und mich nicht darum gekümmert, aber sie hat mir erst gesagt, warum er sie verlassen hat, als er schon so weit weg war, dass ich ihn mir nicht mehr schnappen konnte! Ich war blöd.«

  Wenn ich an den Abend denke, an dem Violette mir erzählt hat, warum sie sich getrennt haben, bereue ich, dass ich ihn am Freitag nicht zu Brei geschlagen habe. Es war die Gelegenheit, von der ich geträumt hatte.

  »Und jetzt hast du Angst, dass es mit ihrem Neuen auch so ist. Sieht sie denn unglücklich aus?«

  »Nein … Absolut nicht, sie lächelt die ganze Zeit. Sobald er ihr schreibt, leuchtet ihr ganzes Gesicht auf und sie zieht sich zurück, um allein zu sein.«

  Plötzlich fühle ich mich wie ein Idiot. Denn so gesehen gibt es wirklich keinen Grund zur Panik. Im Gegenteil, sie scheinen sich miteinander wohlzufühlen.

  Außerdem nehme ich an, dass Zoé mich zwingen wird, ihn zu unserer Überraschungsparty einzuladen. Mist. Ethan lacht laut auf. Ich drehe den Wasserhahn zu und schüttle mir die Haare trocken.

  »Gib’s zu, du bist eifersüchtig.«

  Dieses Mal spanne ich den Kiefer an und werfe ihm einen bitterbösen Blick zu, während ich nach meinem Handtuch greife.

  »Wenn ich es dir doch sage, das stimmt nicht!«

  »Ich meine nicht eifersüchtig, als ob du sie lieben würdest«, besänftigt mich Ethan. »Sondern eifersüchtig in dem Sinn, dass du plötzlich erkennst, dass auch Violette jemanden finden könnte, während du noch immer nicht weitergekommen bist, seit Lucie dich verlassen hat.«

  Bei seinen Worten erstarre ich in der Bewegung. Lucies Namen zu hören tut mir immer noch weh. Jason und Violette meiden das Thema. Sie wissen, dass ich es nach wie vor nicht ertrage. Es ist erst sechs Monate her.

  Leider wird mir klar, dass an Ethans Argumenten durchaus was dran ist. Genau genommen liegt er absolut richtig. Ich bin wirklich eifersüchtig, aber nicht auf Clément. Sondern auf Violette. Weil sie ihr Leben weiterlebt. Weil sie jemanden hat, der sie glücklich macht.

  Im Gegensatz zu mir.

  »Hast du was von ihr gehört?«, flüstert Ethan, als ich mir hastig und beunruhigt das T-Shirt anziehe.

  Ich mag nicht darüber reden. Ich antworte mit einem knappen »Nein«, das ihm klar machen soll, dass ich das Thema wechseln will. Ich will mit ihm nicht über Lucie reden. Und auch mit niemandem sonst.

  »Du solltest darüber hinwegkommen, Loan. Es ist nicht gut, auf der Stelle zu treten. Ich habe viele nette Freundinnen, mit denen ich dich bekannt machen kann, wenn du willst«, witzelt er, um die Stimmung zu heben. »Feministinnen, Nicht-Feministinnen …«

  Tief im Inneren ist mir bewusst, dass er recht hat. Trübsal blasen hilft nicht, und erst recht hilft es nicht, mich an meiner besten Freundin zu reiben, um mein Begehren zu stillen. Aber ich kann nicht anders. Seit Lucie mich verlassen hat, warte ich auf sie und lasse ihr ihre Freiheit, denn das ist alles, was ich tun kann. Ich will ihr beweisen, dass sie sich in mir getäuscht hat. Deshalb habe ich auch seit sechs Monaten keine Frau mehr angerührt. Ich bemühe mich, alles richtig zu machen.

  Ich behalte meinen Ärger für mich, verlasse die Duschkabine und sage mit ruhiger Stimme:

  »Nein danke, Ethan. Sie wird zurückkommen, das weiß ich.«

  Ich höre ihn neben mir seufzen, während ich meine Jeans anziehe. Er glaubt nicht daran. Er hat Mitleid mit mir, genau wie Jason und Violette. Und das kotzt mich an, obwohl ich mir sicher bin, dass sie es gut meinen.

  Ich packe meine verschwitzten Klamotten in die Sporttasche, werfe sie mir über die Schulter und blicke meinen Freund entschlossen an.

  »Ich werde jedenfalls alles dafür tun.«

  Auf dem Heimweg rufe ich Jason an und schlage ihm vor, den Abend bei Ethan zu verbringen. Er freut sich und sagt, dass er in ungefähr einer Stunde bei mir ist, nachdem er geduscht und sich umgezogen hat.

  Das Wohnzimmer zu Hause ist verlassen. Ich gehe in mein Zimmer, ziehe meinen Mantel aus und werfe ihn auf mein Bett. Ich spüre, wie sich Mistinguette an meinem Bein reibt.

  »Komm her, meine Schöne.«

  Ich bücke mich, um sie auf den Arm zu nehmen, und gebe ihr einen Kuss auf das weiße Fell. Ich liebe dieses Kaninchen. Wie Violette schon bei unserer ersten Begegnung meinte – die Kleine ist ein zähes Kerlchen. Anfangs ist sie vor mir geflüchtet. Doch dann habe ich sie auf meine Weise gezähmt, und zwar so gut, dass sie jetzt manchmal nichts mehr von Violette wissen will.

  »Warte, ich hole deine große Freundin«, sage ich zu dem Tier und setze es auf mein Kopfkissen.

  Ich klopfe an die Tür der Mädchen.

  »Was?«, antwortet eine ungeduldige Stimme.

  Zoé.

  »Nichts Besonderes. Ich wollte nur wissen, ob ihr noch lebt. Ist Violette da?«

  Ich lege den Kopf an die Tür und warte, bis Zoés Stimme wieder ertönt.

  »Sie duscht gerade!«

  Tatsächlich höre ich durch die Badezimmertür Wasser rauschen. Ich klopfe zweimal laut genug, damit Violette mich hört.

  »Kann ich reinkommen?«

  »Klar!«

  Ich drücke die Klinke herunter, gehe mit meinen verschwitzten Sachen in der Hand hinein, schließe die Tür hinter mir und werfe meine Wäsche in die Waschmaschine. Der Spiegel über dem Waschbecken ist komplett beschlagen. Ich wische mit dem Ärmel darüber, bis ich mich klar sehen kann und starre ein paar Sekunden lang mein Spiegelbild an. Meine Gedanken gehen im Geräusch der Dusche zu meiner Rechten unter. Eigentlich habe überhaupt keine Lust, heute Abend zu Ethan zu fahren und über Jasons Sexgeschichten zu lachen. Leider muss man auch sagen, dass von ihm nur selten was Neues kommt.

  Mein Blick schweift zum Duschvorhang. Undeutlich erkenne ich die Gestalt von Violette, die sich die Haare wäscht, was immerhin ausreicht, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich schlucke, versuche nicht daran zu denken, dass sie völlig nackt nur einen Meter von mir entfernt steht. Dieser Körper, den zu berühren ich noch vor zwei Tagen viel zu sehr genossen habe …

  »Scheiße!«, schimpft Violette hinter dem Vorhang. »Ich Tollpatsch!«

  Zu hören, wie ihr etwas herunterfällt – vermutlich ihr Duschgel –, holt mich schlagartig in die Realität zurück. Verärgert schüttle ich den Kopf und stelle fest, dass ich den Ansatz einer Erektion habe.

  Ich muss wirklich aufhören, über Violette zu fantasieren, und zwar schnell.

  Ich verlasse das Bad, fliehe in mein Zimmer und warte darauf, dass meine körperlichen Impulse sich beruhigen. Nachdem ich zehn Minuten lang mein Zimmer aufgeräumt habe, kehre ich wieder in das noch immer verlassene Wohnzimmer zurück. Mit leerem Kopf setze ich mich auf die Couch. Obwohl ich weiß, dass mit Violette nichts laufen wird, hört mein Körper nicht auf mich. Die monatelange Abstinenz beginnt sich bemerkbar zu machen.

  Als ich mich gerade dazu aufraffen will, etwas zu essen, platzt eine wütende, nur in ein blaues Handtuch gehüllte Violette herein. Mein Handtuch übrigens. Stirnrunzelnd stelle ich fest, dass ihr Ärger mir gilt.

  »Also wirklich, du!«

  Autsch. Das klingt gar nicht gut.

  Ihre zierliche Gestalt baut sich auf der anderen Seite des Küchentresens vor mir auf. Ihre Haut glänzt wie nass vor Schweiß. Haarsträhnen haben sich aus ihrem Dutt gelöst und kleben an ihren Wangen. Leider fühle ich mich verunsichert.

  »Du willst mich wohl verarschen, Loan!«

  Ich hebe eine Augenbraue.

  »Was habe ich denn verbrochen?«

  Ich bin wirklich neugierig. Ich erinnere mich nicht, etwas Dummes getan zu haben. Eigentlich sollte ich derjenige sein, der ihr Vorwürfe macht, weil sie
sich mein Handtuch ausgeliehen hat, so wie sie auch manchmal abends meine Zahnbürste benutzt. Aber ich sage nichts, weil es mich im Grunde nicht stört.

  »Könnte es sein, dass du alle meine Schoko-Bons gegessen hast?«

  Ah. Darum geht es. In diesem Fall muss ich zugeben, dass ich schwach geworden bin. Ich bin eigentlich kein großer Esser, aber an dem Abend hatte ich einen Bärenhunger. Und so leid es mir für Violette auch tut, lachte mich ihre Schokolade an. Ich wollte sie nicht enttäuschen.

  »Tut mir leid«, sage ich nur. »Muss ich jetzt sofort mit der Todesstrafe rechnen oder bekomme ich einen fairen Prozess?«

  Sie wirft mir einen bitterbösen Blick zu, der mich auffordert, keine blöden Witze mehr zu machen. Eigentlich habe ich längst begriffen, dass Schokolade ihr Leben ist. Ich sollte sie ihr besser nicht leichtfertig stehlen. Ernsthaft: Wenn Schokoladismus eine Religion wäre, wäre sie eine tiefgläubige Anhängerin.

  »Du gehst mir auf den Keks, Loan. Ich wollte mir eben welche gönnen, um mich zu entspannen, und was war? Nichts! Null! Nada! Nic!«

  »Nic?«

  »Das ist polnisch«, erklärt sie, die Hände in die Hüften gestemmt. »Aber egal! Was zählt, ist, dass du die ganze Tüte verdrückt hast, die ich für MICH gekauft hatte! Scheiße.«

  Ich schaue sie an und unterdrücke ein Lachen. Es passiert mir oft, dass ich lachen muss, wenn sie mich anschreit, und Gott weiß, wie sehr sie es hasst. Aber was soll ich sonst tun, wenn die Vorwürfe mit Lichtgeschwindigkeit aus ihr heraussprudeln und sie dabei mit großen Gesten ihre Verbitterung unterstreicht?

  Dann und wann nicke ich, ohne wiederholen zu können, was sie mir ins Gesicht schreit. Plötzlich hört sie auf. Sekundenlang starren wir uns stumm an. Vielleicht erwartet sie eine Antwort … Ich versuche es ein wenig unsicher:

  »Okay?«

  Es klingt mehr nach einer Frage. Sie beruhigt sich sofort und verschränkt die Arme vor der Brust. In ihren Augen liegt ein Anflug von Misstrauen, der mich davon abhält, sie aufzuziehen.

 

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