Never Too Close

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Never Too Close Page 13

by Moncomble, Morgane


  Ich ahne, dass er nicht reden will, aber ich kann nicht nach Hause gehen. Denn wenn ich das tue, weiß ich nicht, ob ich ihn je wiedersehe. Und so ignoriere ich meine zitternden Knie und meine schamroten Wangen.

  »Habe ich etwas getan?«

  Für den Bruchteil einer Sekunde, nur einen winzigen Augenblick, erkenne ich einen Anflug von Leid und Schuldbewusstsein in seinen Augen. Doch sofort wird er wieder so stoisch und eisig wie die Schneekönigin.

  »Du solltest nach Hause gehen.«

  Er will die Tür ein für alle Mal schließen, aber ich reagiere schnell und blockiere sie mit dem Fuß.

  »Loan, warte!«, flehe ich mit Tränen in den Augen. »Wenn du wegen irgendwas böse auf mich bist, tut es mir leid. Was auch immer es sein mag, ich entschuldige mich. Ich … ich möchte nicht, dass du sauer auf mich bist.«

  Den letzten Satz flüstere ich so leise, dass mir am Ende die Stimme versagt. Mein ganzer Körper zittert, während er mich weiterhin ungerührt anstarrt. Das ist Folter.

  Ich habe das Gefühl, dass mir jemand auf der Suche nach etwas das Herz durchwühlt. Weise mich nicht zurück, weise mich nicht zurück, weise mich nicht zurück …

  »Ich vermisse meinen besten Freund«, hauche ich mit flehendem Blick.

  Plötzlich kneift Loan die Augen zusammen und spannt den Kiefer an. Ich gerate in Panik, weil ich nicht weiß, was dieser Ausdruck bedeuten soll, und betrachte seinen Adamsapfel, der sich in seinem Hals auf und ab bewegt.

  »Ich möchte dich im Augenblick nicht sehen, Violette.«

  Violette. Nicht Violette-Veilchenduft. Nur Violette.

  »Geh jetzt.«

  Entsetzt presse ich die Lippen zusammen, aber ich weigere mich noch, meinen Fuß aus dem Türspalt zu nehmen. Ich fühle mich unendlich verloren. Meine Seele schreit »Warum?«, aber mein Mund bleibt verschlossen. Ich habe zu viel Angst vor der Antwort. Vielleicht ist es eine bessere Idee, ihn erst einmal nachdenken zu lassen. Immerhin hat er gesagt: »im Augenblick«. Nichts ist endgültig, oder?

  Er muss sich der Heftigkeit seiner Äußerung bewusst geworden sein, weil er noch einmal bekräftigt:

  »Das geht vorbei. Vielleicht. Aber im Moment brauche ich alles andere als deine Freundschaft.«

  Meine Damen und Herren, hiermit präsentiere ich Ihnen den dritten Stoß. Mitten ins Herz, genau wie ich erwartet hatte. Und er tut weh … unendlich weh. So sehr, dass sich mein Fuß ganz von selbst zurückzieht und ich einen Schritt zurückweiche, als hätte er mich verbrannt. Die Ratlosigkeit muss auf meinem Gesicht zu lesen sein, denn Loan senkt den Blick, ehe er mir die Tür vor der Nase zuschlägt.

  Ich stehe da wie eine Idiotin und starre benommen die Nummer seiner Wohnungstür an. Eine Ohrfeige wäre ausdrucksstärker gewesen. Unfähig, mich zu bewegen, lasse ich endlich meinen Tränen freien Lauf. Ich kann noch nicht verarbeiten, was gerade geschehen ist. Dabei gibt es nichts, das leichter zu verstehen wäre:

  Es ist das erste Mal, dass Loan Millet mir das Herz bricht.

  10

  Heute

  Violette

  Nie wieder trinke ich so viel. Alkohol ist teuflisch.

  Ich öffne die Augen. Mein Mund ist trocken. Wieso habe ich eigentlich einen trockenen Mund, nachdem ich mich betrunken habe wie eine Quartalssäuferin? Auf dem Nachttisch rechts von mir steht ein Glas Wasser, und zwei weiße Pillen liegen für mich bereit. Ich stütze mich auf einen Ellenbogen und nehme sie in die Hand, um sie zu schlucken. Die Anstrengung bringt den Raum gefährlich zum Schaukeln. Stöhnend lasse ich mich wieder in die Kissen fallen.

  Ich kenne diese Kissen. Es sind nicht meine.

  Ich drehe den Kopf nach links und meine Nase trifft auf die von Loan, der selig schlummert. Ich verhalte mich mucksmäuschenstill und begnüge mich damit, ihm beim Schlafen zuzusehen. Ich spüre, wie sein regelmäßiger Atem aus seinen leicht geöffneten Lippen dringt. Warum muss er so schön sein?

  Ich hebe eine Hand, achte nicht auf die Kopfschmerzen, die trotz Aspirin stärker werden, und streiche mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Seine Stirn, der Umriss seiner geraden und schmalen Nase, die Konturen seines eckigen, männlichen Kinns. Er liegt mir zugewandt auf der Seite. Er schläft mit nacktem Oberkörper, hatte aber offenbar nicht den Mut, seine Jeans auszuziehen, ehe er unter die Decke kroch.

  Plötzlich fällt mir etwas auf. Mit gerunzelter Stirn betrachte ich die verbrannte Haut unter seinem Ohr. Seit einem Jahr sehe ich sie tagtäglich unter seinen T-Shirts und kenne sie in- und auswendig. Die Narbe kreuzt seinen Hals und verschwindet hinter seiner Schulter. Mehr habe ich bisher noch nicht gesehen. Loan zieht sich grundsätzlich nicht vor Leuten aus und ich weiß, dass es etwas mit seinen Narben zu tun hat.

  Als ich versuche, mich so diskret wie möglich über ihn zu beugen, um seinen Rücken genauer zu betrachten, fällt mein Blick auf sein Gesicht. Er ist wach und beobachtet mich. Mein Magen krampft sich zusammen: ertappt. Einen Moment lang glaube ich, dass er wütend ist, aber er sieht mich nur mit einem rätselhaften Ausdruck an.

  Ich versuche zu lächeln. Er steht auf und holt sein Hemd, wobei er mir natürlich nicht den Rücken zukehrt.

  »Warum zeigst du dich nie mit nacktem Oberkörper, wenn ich bei dir bin?«

  Ich sehe, dass er die Stirn runzelt, während er in das Hemd schlüpft. Er ist sichtlich müde. Mir ist klar, dass er nicht darüber reden will, aber ich wüsste es schon gern. Schließlich sind wir beste Freunde und erzählen uns alles. Warum nicht das? Ich würde ihn nie verurteilen, das müsste er eigentlich wissen.

  »Nicht nur in deiner Gegenwart«, stellt er richtig und reibt sich das Gesicht. »Und ich glaube, du weißt warum.«

  »Ich habe zumindest einige Theorien«, gestehe ich und sehe zu, wie er mit offenem Hemd zu seiner Kommode geht. »Aber ich wünsche mir, dass du es mir von dir aus erzählst.«

  Er verkrampft sich kurz und dreht sich dann um. Er steht vor dem Bett. Sein starrer Blick lässt mich vermuten, dass es gleich Ärger gibt. Zwar will ich am Tag nach meinem Geburtstag nicht streiten, aber etwas sagt mir, dass ich nicht aufgeben sollte. Nie vertraut er mir etwas über sich selbst, aus seiner Vergangenheit oder über seine Familie an.

  Heute habe ich vor, ihn um einen sehr großen Gefallen zu bitten: der Erste zu sein. Daher denke ich, dass ich ihn besser kennenlernen sollte, um ganz sicher zu gehen.

  »Nicht sauer sein«, sagt er mit sanfter Stimme. »Sogar Lucie hat es nie gesehen …«

  Sein Flüstern klingt so unglücklich, als ob allein der Name seiner Exfreundin ihm noch Schmerzen bereitet. Ich blicke verwirrt zu ihm auf. Wie bitte? Lucie hat nie seinen Rücken gesehen? Das ist unmöglich! In vier Jahren Beziehung muss sie ihn doch gesehen haben! Loan scheint zu erraten, was mir durch den Kopf geht, denn er wendet verlegen und genervt den Blick ab.

  »Ich lüge dich wirklich nicht an«, sagt er und zuckt mit den Schultern. »Sogar beim Sex hatte ich immer ein T-Shirt oder ein offenes Hemd an. Sie durfte die Narbe weder sehen noch berühren, und sie hat meine Entscheidung immer respektiert.«

  Ich versuche, diese Information zu verdauen. Kaum zu glauben, dass Loan immer ein T-Shirt anhatte, wenn er mit Lucie schlief …

  »Okay.«

  Sein Körper entspannt sich sofort. Man könnte meinen, dass er während unseres Gesprächs die ganze Zeit den Atem angehalten hat. Er will mir einfach nicht mehr verraten, es ist seine Entscheidung. Aber eines Tages werde ich ihn festnageln und verlangen, dass er sein Hemd fallen lässt.

  Plötzlich bekomme ich etwas ins Gesicht. Ich zucke überrascht zusammen und stelle fest, dass er mich gerade mit Sportshorts beworfen hat.

  »Zieh die über und mach die Augen zu. Ich habe da was für dich«, sagt Loan, wobei er mich anstrahlt.

  Er scheint meine Fragen völlig vergessen zu haben und wirkt richtig aufgeregt. Ich bändige meinen Kater und ziehe die Shorts an, ehe ich die Decke zurückschlage.

  Er führt mich. Ein Schauder läuft über meine nackten Arme, als er sich an meinen Rücken schmiegt, um mich vorwä
rts zu leiten. Ich höre, wie er die Tür öffnet. Wir gehen den Flur entlang. Er ist mir so nah, dass ich spüre, wie sein männlicher und beruhigender Duft mich einhüllt, und außerdem … Oh.

  Der Schauder verwandelt sich in eine regelrechte Welle, die heiß in meinem Unterleib brennt. Es ist mir peinlich, das, was ihn zum Mann macht, an meinem Po zu spüren, aber schließlich ist es nicht seine Schuld … Es ist Morgen.

  Loan scheint zu verstehen, warum ich erstarre, denn er weicht ein Stück zurück und flüstert: »Entschuldige …«

  Ich versuche, die Hitze zu löschen, die sich auf meinen Wangen ausbreitet, und höre, wie er eine zweite Tür öffnet. Vermutlich die zu meinem Zimmer.

  »Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

  Loan lässt mich los und tritt ein Stück zurück, um meine Reaktion zu beobachten. Ich gehorche mit klopfendem Herzen. Das Erste, was ich sehe, ist … mein Zimmer; es hat sich keinen Deut verändert. Na ja, er scheint es aufgeräumt zu haben, wofür ich ihm dankbar bin, denn es war dringend nötig. Ich versuche, nicht zu enttäuscht zu wirken und setze ein kleines Lächeln auf. Loans Ausdruck zeigt mir, dass es nicht wirklich gelungen ist. Also lege ich noch einen drauf:

  »Wow. Das ist … Danke Loan, dass … du mein Zimmer aufgeräumt hast.«

  Zu meiner größten Überraschung lacht er. Er baut sich vor mir auf, schaut mir tief in die Augen und hebt mein Kinn mit dem Zeigefinger sanft an.

  »Da oben, Violette.«

  Ich wende den Blick zur Decke und habe auf der Stelle Pipi in den Augen. Von Emotionen überwältigt schlage ich die Hände vor den Mund und lasse mich von Loan zu meinem Bett führen. Aus der Nähe betrachtet ist es noch berührender.

  Die gesamte Decke meines Zimmers ist mit Fotos von ihm und mir und unseren Freunden bedeckt. Den Kopf in den Nacken gelegt drehe ich mich und betrachte uns. Er, wie er mein Gesicht von hinten umschließt, um mir einen Kuss zu stehlen; wir beide, wie wir Sprühsahne direkt aus der Dose essen; ich lachend auf seinem Rücken; er als knallharter Pirat und ich als raffinierte Marie Antoinette auf Ethans Kostümfest; wir beide, wie wir eng umschlungen auf der Couch dösen, von Zoé fotografiert, ohne dass wir es gemerkt haben; wir beide auf einem Selfie, wie wir Gesichter schneiden; ich, am Fuß des Eiffelturms in seine Arme gekuschelt und ein weiteres Selfie von ihm und mir, auf dem wir lächelnd eine völlig desillusionierte Mistinguette über unsere Köpfe halten …

  Hunderte von Erinnerungen, eine kostbarer als die andere, vergangene Momente, die nie wiederkehren werden, einige, deren Einzelheiten, vielleicht sogar wichtige Details, ich längst vergessen hatte, aber trotzdem unsterblich gemachte Erinnerungen. Und jetzt sind sie über meinem Kopf plakatiert. An dem Platz, der ihnen zusteht, in der Nähe der Sterne.

  »Loan …«

  Ich kann es immer noch nicht fassen. Wie lange er wohl dafür gebraucht hat? Ich merke, dass ich weine, als ich spüre, wie eine salzige Perle über meine Lippen rollt. Ich wische sie fort, weil mir Loans neugieriger Blick bewusst ist. Er hat mich keine Sekunde aus den Augen gelassen, während ich mein Geschenk genossen habe.

  »Ich freue mich, dass es dir gefällt.«

  »Viel mehr als das, Loan … Danke.«

  Den ganzen Tag lang überlege ich, wie ich »die Sache« mit Loan besprechen soll. Vielleicht beim Abendessen: »Hi Loan, alles klar? Übrigens wünsche ich mir, dass du mich entjungferst. Könntest du mir mal das Brot reichen?« Nein, das geht nun wirklich nicht.

  Was ist die größte Schwäche eines Mannes (abgesehen von Sex)? Sofort kommen mir die Worte meiner Oma väterlicherseits in den Sinn: »Liebe geht durch den Magen.« Vielleicht würde sie meiner Definition von Liebe nicht unbedingt zustimmen, aber das sollte klappen.

  Jedenfalls fällt mir nichts Besseres ein, und ich kann es kaum erwarten, diese Last loszuwerden. Clément konnte gestern die Finger nicht von mir lassen, ganz zu schweigen von seinem Geschenk. Ein Paar wunderschöne silberne Ohrringe.

  Endlich kommt Loan aus der Dusche und betritt das Wohnzimmer. Ich springe auf die Füße und stelle mich ihm mit Unschuldsmiene in den Weg. Die Show kann beginnen …

  »Hey.«

  Misstrauisch hebt er eine Augenbraue.

  »Hey …«

  »Hast du vielleicht Lust, essen zu gehen? Nur du und ich.«

  Jetzt scheint er überrascht zu sein. Er blickt zu Zoé hinüber, die nur die Schultern zuckt, und wendet sich wieder mir zu. Er nimmt an und ich lege ihm nahe, sich schick anzuziehen. Als er, immer noch argwöhnisch, wissen will warum, sage ich ihm, dass ich ihn ins 114 Faubourg ausführe. Automatisch weicht er einen Schritt zurück. Sogar Zoé hört auf, sich die Nägel zu lackieren. Beide sprechen gleichzeitig.

  »Warum gehst du mit mir nie so schick aus?«, empört sich meine beste Freundin, während Loan mit unsicherer Stimme antwortet:

  »Okay, da steckt irgendwas dahinter … Warte. Sag bloß, du bist schwanger.«

  Ich werde blass. Schwanger? Man müsste schon gewisse Dinge tun, um schwanger zu werden.

  »So ein Quatsch«, begehre ich auf und erröte.

  »Wie auch immer, ich besitze kein schickes Outfit.«

  »Stimmt nicht. Los, beweg dich.«

  Ich schubse ihn vor mir her und wische Zoés Proteste mit einer Handbewegung beiseite. Wir gehen in sein Zimmer und ich wende mich sofort dem Schrank zu, in dem ich nach etwas Anständigem suche. Loan behält mich im Auge, schließt die Tür und lehnt sich dagegen.

  Schnell bin ich wieder bei ihm und werfe ihm eine schwarze Röhrenjeans und ein gleichfarbiges Hemd zu. Er sagt nichts, sondern zieht sein T-Shirt aus und lässt es auf den Boden fallen. Seine Jogginghose folgt und Loan steht in weißen Boxershorts vor mir. Sofort wende ich den Blick ab, zumindest bis er seine Jeans angezogen hat.

  Ich blicke auf, als er das Hemd anzieht. Schweigend knöpft er es zu, als mir etwas Ungewöhnliches auffällt. Ein dunkler Punkt zeichnet sich unmittelbar über seiner Jeans ab. Ich sehe ihn zum ersten Mal, weil er nie mit nacktem Oberkörper herumläuft. Vermutlich ein Tattoo auf der Leiste, aber was?

  Schon angezogen ist Loan wirklich sexy, aber das ist noch gar nichts dagegen, wenn er halb nackt ist. Sein Oberkörper schreit geradezu nach Liebkosungen. Mein faszinierter Blick gleitet über die kraftvolle Form seiner trainierten Bauchmuskeln und ich erröte angesichts des athletischen V, das unter seinem Gürtel verschwindet und meiner lebhaften Phantasie alles Weitere überlässt.

  »Was machst du da?«, höre ich Loans raue Stimme.

  Erst jetzt wird mir meine Geste bewusst; ich bin auf ihn zugegangen, um ihn daran zu hindern, die letzten Knöpfe seines Hemdes zu schließen. Mit gerunzelter Stirn blickt er mich an.

  »Ist das ein Tattoo?«

  Er nickt, ohne den Mund zu öffnen.

  »Was stellt es dar?«

  Er schaut mir lange in die Augen, weil er vermutlich hofft, dass ich die Sache auf sich beruhen lasse. Aber ich halte entschlossen durch. Du wirst es mir sagen, Millet, ob es dir gefällt oder nicht … Als hätte er meine Gedanken gelesen, seufzt Loan und knöpft seine Jeans auf. Die Geste bringt mich zum Erbeben. Ich werde blass, als ich merke, dass er es mir nicht sagen, sondern zeigen will. Er zieht den Bund seiner Boxershorts leicht hinunter und enthüllt ein paar Härchen. Am liebsten würde ich weglaufen. Unsere Nähe raubt mir plötzlich den Atem.

  Und doch muss ich hinschauen. Meine Füße scheinen am Boden zu kleben. Mit roten Wangen präge ich mir das Wort ein, das auf seine warme weiße Haut tätowiert ist. Ehe ich mir dessen bewusst werde, folgen meine Finger der Kurve jedes Buchstabens; Loan zuckt zusammen. Ich spüre seinen Atem auf meinen Haaren, aber ich hebe den Kopf nicht. Ich habe zu viel Angst vor meinem eigenen Spiegelbild in seinen Pupillen.

  »Als ich klein war, hat meine Mutter mich ihren ›tapferen Krieger‹ genannt«, flüstert er kaum hörbar.

  Warrior

  Genau das macht ihn aus. Ich gehe davon aus, dass seine Mutter tot ist und möchte ihm mein Mitgefühl aussprechen, aber es gelingt mir nicht. Ich weiß ohnehin, d
ass er es nicht zu schätzen wüsste.

  Also hebe ich den Kopf und blicke ihm fest in die Augen. Er erwidert meinen Blick intensiv, voller Schmerz und … Verlangen. Ich bilde es mir nicht ein, es ist Verlangen – dafür würde ich die Hand ins Feuer legen.

  Und plötzlich ist es, als ob die Erde aufgehört hätte, sich zu drehen. Nichts existiert mehr, außer dem unbändigen Wunsch, mit ihm zu verschmelzen. Mein Blick fällt auf seinen Mund; seine Lippen sind leicht geöffnet und er atmet stoßweise. Fasziniert sehe ich zu, wie er schluckt. Sein Mund kommt gefährlich nahe, so gefährlich, dass ich die Augen schließe. Und dann …

  11

  Heute

  Violette

  In der Wohnung schlägt eine Tür zu.

  Wir erschrecken beide, und meine Hand zuckt von seiner Haut zurück. Ich sehe, wie er in die Wirklichkeit zurückkehrt, genau wie ich. Er fährt fort, sich das Hemd zuzuknöpfen. Mist. Was war das gerade? Ein zweiter Fauxpas, das war es.

  Ich räuspere mich betreten und verkünde, dass ich mich umziehen gehe. In meinem Zimmer öffne ich den Schrank und denke nach. Wenn Zoé von meinem Manöver wüsste, würde sie mir wahrscheinlich raten, ihn heiß zu machen. Wenn ich sexy aussehe, fällt es Loan schwerer, mir meinen Wunsch abzuschlagen. Aber irgendwie wäre es eine Falle, und das stört mich. Andererseits kann er schließlich auch Nein sagen.

  Meine Wahl fällt auf ein graues Kleid mit weißem Kragen im Preppy-Style. Es ist kurz, aber dank des Schulmädchenstils sieht es nicht billig aus. Ich schminke mich vor meinem Spiegel, nur Mascara und hautfarbenen Lippenstift, dann löse ich meine goldenen Locken und binde sie mit schwarzem Band zu zwei Zöpfen rechts und links zusammen. Nervös betrachte ich mich.

  Trotz meiner eklatanten Müdigkeit finde ich mich hübsch.

  Aber vielleicht etwas zu brav. Ich stöbere unter meinem Bett und hole ein Paar schwarze Wildlederstiefel hervor, hochhackig, elegant und sexy. Das Ergebnis ist, wie ich zugeben muss, wirklich begeisternd. Nur dass ich natürlich sofort an Clément denken muss … meinen schönen Clément. Ich sollte auf uns vertrauen. Auf mich vertrauen. Und doch kreisen seine Worte in meinem Kopf. Ich will, dass alles perfekt ist, denn Clément bedeutet mir sehr viel. Es wird nur dieses eine Mal sein, ein guter, loyaler Dienst unter Freunden.

 

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