»Merk dir Folgendes«, füge ich noch hinzu, »du bist der beste Freund, den ich je hatte. Und ich will mehr, viel mehr. Ich will alles.«
Jetzt öffnet Loan die Augen. Sein Saphirblick kreuzt meinen und dessen Intensität macht mich fast fertig. Ohne Zögern scheint er mich zu mustern und einzuschätzen. Atemlos, mit hängenden Armen und pochenden Schläfen stehe ich vor ihm.
Loan reagiert immer noch nicht. Plötzlich sagt er mit leiser, rauer Stimme:
»Ich bin dir nicht mehr böse wegen Lucie … Nichts davon war deine Schuld. Der Fehler lag allein bei mir.«
Eine tragische Stille umgibt uns. Kaum zu glauben, dass ich erst vor wenigen Sekunden mein Herz auf dem Boden der Kabine ausgebreitet habe. Ist das etwa alles, was er dazu zu sagen hat? Schon gut, ich bin ja ganz froh, dass er nicht mehr sauer auf mich ist, aber das ist mir doch jetzt egal.
»Ich weiß, dass ich ziemlich viel geredet habe, aber hast du den Teil mitbekommen, in dem ich gesagt habe, dass ich in dich verliebt bin? Wenn nicht, kann ich es wiederholen.«
Ein Lächeln huscht über Loans Gesicht, als hätte er versucht, es zu unterdrücken, aber es wäre ihm dann doch entwischt. Er schüttelt sacht den Kopf und blickt mich fest an. In diesem Moment habe ich den Eindruck, dass auch er »Ich liebe dich« sagt.
»Ich habe es gehört … Ich habe nichts anderes gehört.«
Ich ignoriere mein Herz, das kurz davor ist, mir aus der Brust zu springen, und nicke. Wie ein Volltrottel warte ich darauf, dass er mir antwortet. Kennt er seine Rolle überhaupt? Ich hätte ihm das Drehbuch geben sollen, damit er seinen Text zumindest ablesen kann. Im Augenblick fühle ich mich echt beschissen.
»Und …?«, ermuntere ich ihn mit schwindender Zuversicht. »Das sollte der Moment sein, in dem du mich in den Arm nimmst, mich küsst und mir sagst, dass ich umwerfend bin …«
Ein Blitz zuckt durch seine dunklen Augen. Ich sehe, wie er die Lippen zusammenpresst und sich dann gefährlich nähert. Plötzlich macht es Ping! und die Aufzugtüren öffnen sich für Zoé, die uns ungeduldig anschaut.
Loan und ich starren zurück, als hätte sie uns auf frischer Tat ertappt. Sieht aus, als wären die Götter gegen mich.
»Oh, sorry, findet hier im Aufzug etwa eine Pyjamaparty statt, zu der ich nicht eingeladen bin?«, fragt meine beste Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Wie hast du es geschafft, die Tür zu öffnen?«, staune ich mit feuerroten Wangen.
Loan gibt sich schweigsam. Zoé schaut mich an, als wäre ich ein bisschen dumm.
»Ich habe auf den Knopf gedrückt, Einstein.«
»Ah. Eben hat er noch festgesteckt …«
Sie nickt extrem langsam und mir wird klar, dass sie mir nicht glaubt. Aber wozu erklären? Ich reiche ihr die Plastiktüten, die sie mir eilig aus der Hand nimmt.
»Du hast ganz schön lange gebraucht. Übrigens hast du mir noch nicht gesagt, was du morgen anziehen willst.«
Zusammen steigen wir die Treppe hinauf, Zoé redet für uns drei. Loan und ich tun so, als wäre nichts passiert, als hätte ich ihm nicht gerade eine Liebeserklärung gemacht. Lakonisch gebe ich Zoé ab und zu eine Antwort, während ich mir der Blicke Loans hinter mir sehr bewusst bin. Die Sache im Aufzug ist nicht unbedingt nach Plan verlaufen …
Noch immer hat er mir nicht gesagt, was er von alldem hält, ob er mich liebt oder ob er lieber will, dass wir Freunde bleiben. Und ich muss ehrlich zugeben, dass mich angesichts der zweiten Möglichkeit ein Anflug von Panik überkommt.
»Dreimal darfst du raten!«, ruft Zoé Jason zu, als wir die Wohnung betreten. »Sie haben in aller Ruhe im Fahrstuhl gestanden und sich angehimmelt.«
»Sehr betrüblich«, sagt Jason und wirft uns einen finsteren Blick zu.
Weil Zoé den Tisch deckt, nehme ich die Gelegenheit wahr, mich an Loan heranzuschleichen, der sich im Flur die Jacke auszieht. Als ich meine Hand auf seinen Arm lege, wirkt er angespannt.
»Sag … Du weißt, du … du musst mir nicht sofort antworten.«
»Violette …«
»Ich meine es ernst«, lüge ich. »Heute verbringen wir den Abend mit Freunden und morgen muss ich wegen dieses Vorstellungsgesprächs früh aufstehen. Danach hast du alle Zeit der Welt für eine Antwort. Okay?«
Er schaut mich mit undurchdringlicher Miene an, und einen Moment lang fürchte ich, dass ich seine Zuneigung fälschlicherweise für Liebe gehalten habe. Sollte das jedoch der Fall sein, will ich nicht, dass er vor der wichtigsten Präsentation meines Lebens alle meine Hoffnungen zerstört.
»Okay«, willigt er ein und küsst mich auf die Stirn.
Ich nicke und gehe ins Wohnzimmer, wo wir gut gelaunt zu Abend essen. Trotzdem muss ich ihn immer wieder anschauen … und stelle fest, dass irgendetwas nicht stimmt.
Als würde er darüber nachdenken, wie er am besten aus dieser Misere herauskommt.
36
Heute
Violette
Heute ist der Tag. Der Tag meines Vorstellungsgesprächs, der Tag, auf den ich monatelang, wenn nicht sogar mein ganzes Leben gewartet habe. Ich weiß, dass es keine große Sache ist, aber es bedeutet mir viel. Wenn sie mich für ein Praktikum nehmen und ich einen guten Eindruck mache, behalten sie mich vielleicht.
Gestern hat Jason bei Zoé übernachtet. Weil Loan zur Arbeit musste, als ich noch schlief, haben die beiden mir angeboten, mich mitzunehmen.
Während ich mich schminke, geht mir etwas durch den Kopf, was Loan zu mir gesagt hat: »Bestimmt zerreißt du versehentlich deine Kreationen.« Es war bei seiner Rückkehr aus Bali, als wir eng aneinandergekuschelt kurz vor dem Einschlafen waren. Vor einer halben Ewigkeit.
»Bist du fertig?«, ruft Zoé vor der Tür.
Ich mache ihr auf.
»Ja, ich muss mir nur noch die Zähne putzen. Hat Jason meine Modelle in den Kofferraum gepackt?«
»Hat er. Beeil dich, du solltest nämlich besser etwas früher da sein.«
»Das bin ich nicht gewohnt.«
»Was du nicht sagst.«
Vorsichtig gehe ich die Treppe hinunter, denn ich will nicht riskieren, mir auf den letzten Drücker den Knöchel zu verstauchen. Jason pfeift, als er mich kommen sieht, und begutachtet schamlos meinen Hintern. Zoé verdreht die Augen und setzt sich auf die Beifahrerseite.
»Ist es zu spät, um mir eine neue Freundin anzulachen?«, erkundigt er sich.
Ich trage ein marineblaues Kostüm mit einem goldenen Gürtel. Mit meinem Skizzenbuch unter dem Arm sehe ich wie ein echtes working girl aus.
»Viel zu spät.«
Er flucht vor sich hin und setzt sich hinters Steuer, während ich mich anschnalle. Seltsamerweise spüre ich keinerlei Stress. Gestern noch hatte ich Angst, beim Termin wie eine Bescheuerte loszuquatschen. Ich war schon fast so weit, alles abzusagen, mich krank oder gar tot zu melden. Nur damit sie mich in Ruhe ließen. Dann aber entdeckte ich beim Aufwachen eine Nachricht, und plötzlich war ich mir sicher, dass alles gut werden würde.
Loan: Mach dich nicht verrückt. Du bist die Beste.
Meine Freunde vorne unterhalten sich, aber ich schweige. Ich habe feuchte Hände. Als wir vor dem Gebäude ankommen, wünscht Zoé mir viel Glück und Jason hilft mir, den Rollständer aus dem Kofferraum zu holen. Ich hänge meine mit schwarzen Hüllen abgedeckten Modellstücke daran auf, schiebe ihn mit einer Hand und klemme mir das Skizzenbuch unter den anderen Arm. Jason lächelt mich arrogant an.
»Mach mich stolz, Kleine.«
»Hör auf damit.«
»Schon gut. Fick sie alle, kapiert? Rein metaphorisch natürlich. Damit ich den Champagner nicht umsonst gekauft habe.«
Ist das wirklich derselbe Mann, der einen Abschluss in Politikwissenschaft hat? Herr im Himmel, sei uns gnädig.
»Ich gebe mein Bestes, versprochen.«
Schon seit zehn Minuten warte ich in diesem leeren Raum und fühle mich inzwischen ziemlich gestresst. Was machen die bloß? Ich bin sicher, dass tun sie mit Absicht. Als ich aufstehe, um auf und ab
zu gehen, öffnet ein Mann die Tür und lächelt mir zu. Er sieht jung aus und trägt einen sehr gepflegten Anzug.
»Sind Sie Violette?«
»Die bin ich«, antworte ich begeistert, während er mir die Hand schüttelt.
»Ich bin Quentin. Kommen Sie mit.«
Offensichtlich ist er kein Personaler, sonst würde er mich wohl kaum beim Vornamen nennen. Ich folge ihm durch einen langen Büroflur. Am Ende des Korridors zeigt er auf eine geschlossene Tür.
»Dort ist es. Viel Glück.«
»Danke sehr.«
Er lächelt mich an und überlässt es mir, den Leuten entgegenzutreten. Ich rücke den dezenten Ausschnitt meines Kleides zurecht und atme tief ein. Komm schon, Violette! Du schaffst das!
»Guten Tag«, grüße ich beim Eintreten.
Der Raum ist sehr groß und bietet genügend Platz für eine Präsentation. Drei Personen sitzen an einem ovalen Tisch, zwei Männer und eine Frau. Als sie mich sehen, blicken sie auf, aber nur einer von ihnen schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln.
»Guten Tag, Mademoiselle.«
Sie stehen auf, schütteln mir die Hand und stellen sich vor. Ich lege mein Skizzenbuch auf den Tisch, als ich das Unbehagen erkenne, das sich auf dem Gesicht des Einfühlsamsten abzeichnet. Trotzdem lege ich los:
»Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir diese Gelegenheit geben, und hoffe, Sie überzeugen zu können.«
Monsieur Freundlich, wie ich ihn insgeheim genannt habe, lächelt angespannt und scheint nach Worten zu suchen. Ich habe ein ungutes Gefühl. Sogar ein ganz miserables Gefühl. Warum nur?!
»Mademoiselle, ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.«
Ich verstumme, lächle aber weiterhin. Für sie oder für mich? Ich weiß es nicht.
»Ein Missverständnis?«, wiederhole ich.
»Wir haben Sie nicht erwartet.«
Oh, Scheiße. Ich Idiotin, bestimmt habe ich mir das falsche Datum aufgeschrieben. Was, wenn es schon gestern war? Ich schlucke und schäme mich zu Tode. Glücklicherweise fährt Monsieur Freundlich fort:
»Wir dachten, wir hätten Ihnen unsere Ansicht mitgeteilt. Es tut mir leid, dass Sie umsonst hierhergekommen sind.«
»Ich … Ich verstehe nicht ganz«, stammle ich mit brennenden Wangen.
Der Mann seufzt leise und offenbar wirklich verlegen, ehe er schließlich gesteht:
»Wir sind uns natürlich bewusst, dass ein Studium nicht immer einfach ist und dass die guten Hochschulen teuer sind. Unglücklicherweise können wir es uns nicht leisten, mit Ihrem Namen in Verbindung gebracht zu werden. Ich zweifle keineswegs an Ihrem Talent, aber leider wird eine Zusammenarbeit nicht möglich sein.«
Dieses Mal verschwindet mein Lächeln. Ich habe keine Ahnung, was er mir sagen will. Was zum Teufel ist hier los? Für ein paar Sekunden glaube ich, dass sie mich mit jemandem verwechseln. Dann stelle ich mich den Tatsachen. Sie meinen tatsächlich mich.
»Könnten Sie bitte etwas genauer werden? Ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor.«
»Leider handelt es sich nicht um einen Irrtum. Ich … ich hatte nicht die Absicht, so deutlich zu werden, aber wenn Sie mich dazu zwingen … Es geht um Ihren Job als Designerin für Damenunterwäsche für Pornofilme. Ich verurteile Sie keineswegs«, fügt er hinzu, als er bemerkt, wie meine Gesichtszüge entgleisen. »Ich versichere Ihnen, ich verstehe Ihre Beweggründe, aber unsere Marke kann sich eine solche Werbung nicht leisten. Selbst bei einer einfachen Praktikantin.«
Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren soll. Im ersten Augenblick lache ich beinahe laut auf, weil es so absurd ist. Sexfilm? Ich? Wie kommen die auf so was? Als ich mir genau diese Frage stelle, vergeht mir das Lachen sofort.
Clément.
Wie konnte ich nur davon ausgehen, dass er mich in Ruhe lassen würde, nachdem ich ihn so behandelt habe? Er fühlte sich gedemütigt und wollte es mir heimzahlen. Und was das angeht, hat er wirklich ins Schwarze getroffen: Noch nie im Leben habe ich mich so geschämt.
»A-aber das stimmt doch gar nicht«, stottere ich, nachdem ich mich geräuspert habe. »Die Person, die Ihnen das weisgemacht hat, hat gelogen.«
Ich erkenne sofort, dass es nichts bringt. Meine Chance ist dahin, auf und davon. Selbst wenn sie mir glauben würden, wäre es alles andere als professionell, während eines Vorstellungsgesprächs schmutzige Wäsche zu waschen. Monsieur Freundlich ist der gleichen Meinung, denn er verzieht das Gesicht und breitet in einer ohnmächtigen Geste die Hände aus.
»Es tut mir wirklich leid, glauben Sie mir.«
Sprachlos stehe ich vor ihnen und weigere mich, es zu glauben. So endet es also. Clément hat entschieden, dass ich diese Chance nicht verdiene, und niemand widerspricht ihm. Das Studienjahr endet, und ich habe kein Praktikum … Es ist eine Katastrophe.
Wie in Trance nicke ich, nehme meinen Rollständer und mein Skizzenbuch und wende mich zum Gehen. Tschüs, Violette-Veilchenduft. Ob ich nun wirklich die Beste bin oder nicht – es ist vorbei. Das Schicksal ist unerbittlich. Du hättest dich eben nicht verhalten sollen wie deine Mutter. Das Karma, Mädchen, das Karma!
Ich weiß, ich sollte schreien, empört sein oder vielleicht sogar weinen. Aber ich tue gar nichts. Vor dem Gebäude rufe ich mir ein Taxi. Ich bin völlig verwirrt und glaube nicht, dass ich wirklich begreife, was da gerade passiert ist. Im Auto, das mich nach Hause bringt, muss ich plötzlich laut lachen. Der Fahrer wirft mir im Rückspiegel einen fragenden Blick zu, aber ich achte nicht auf ihn.
Pornofilme? Und was sonst noch? Plötzlich finde ich es so lustig, dass ich mehrere Minuten lache. Ich versuche, Loan anzurufen und ihm alles zu erzählen. Trotz meines Lachkrampfes ist mir schwer ums Herz, aber nach zwei Rufzeichen werde ich auf seine Mailbox umgeleitet – als hätte er aufgelegt.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Fahrer, als er vor dem Haus parkt.
»Völlig in Ordnung.«
Natürlich ist das eine Lüge. Alles läuft furchtbar schief. Aber das ist noch nichts im Vergleich zu dem, was ich durchs Fenster beobachte.
Mit der Hand am Türgriff erstarre ich. Da vorn steht Loan mit seinem Handy in der Hand … und unterhält sich mit Lucie. Ich starre die beiden an und kann es nicht glauben. Ich bete, dass er jetzt keine Dummheit macht, aber es passiert.
Lucie schweigt einige Sekunden, beugt sich zu ihm und küsst ihn. Loan wehrt sie nicht ab. Er weist sie auch nicht zurück. Er begnügt sich damit, ihr die Hand an die Taille zu legen und die Augen zu schließen.
Mir bleibt das Herz stehen. Meine Beine sind wie aus Gummi. Ich fühle nichts mehr. Jetzt verstehe ich natürlich, warum er nicht ans Telefon gegangen ist und warum er gestern Abend so schuldbewusst ausgesehen hat, als ich ihm gestanden habe, dass ich ihn liebe …
Er ist wieder mit Lucie zusammen. Nach allem, was wir durchgemacht haben, nachdem ich meinen Freund betrogen habe – der sich als Riesenarschloch herausgestellt hat, aber das wusste ich damals noch nicht –, nachdem ich ihm meine dunkelsten Geheimnisse enthüllt habe, nachdem er gerade so dem Tod entronnen ist und ich beinahe einen Herzinfarkt bekommen hätte, entscheidet er sich trotzdem für Lucie.
Ich liebe ihn, aber er wählt Lucie.
Ich liebe ihn, aber das genügt nicht. Ich bin nicht gut genug. Ich bin nie gut genug. Ich habe meine Mutter geliebt, aber auch ihr war ich nicht gut genug. Deshalb ist sie gegangen. Genau wie Loan.
Ohne weiter nachzudenken krame ich mein Handy wieder hervor und bitte den Fahrer, mich zum Gare de Lyon zu bringen. Ich drücke die Kurzwahl. Es klingelt einige Male, bis er endlich drangeht.
»Violette?«
»Papa?«, schluchze ich.
»Hallo mein Schatz!«, ruft er, ehe er mein erbärmliches Schniefen hört. »Was ist passiert?«
Ach, Papa, wenn du wüsstest …
»Ich möchte nach Hause kommen«, jammere ich und lasse den Kopf auf die Lederpolster sinken. »Ich will nicht mehr in Paris bleiben. Hol mich bitte nach Hause.«
Ich weine weiter. Ganz langsam lässt die Anspannun
g nach. Mein Vater klingt ein wenig hilflos.
»Beruhige dich, Schätzchen … Tief durchatmen … Was ist denn passiert?«
»Alles ist passiert!«, schreie ich in den Hörer.
»Pass auf, ich buche dir ein Zugticket und rufe dich gleich an, um dir die Abfahrtszeit durchzugeben. Alles wird gut, Liebes. Nicht weinen.«
Ich schließe die Augen und nicke, obwohl ich weiß, dass er mich nicht sehen kann. Ich weiß nicht, ob alles gut wird, aber eins weiß ich genau: Ich möchte nicht mehr hierbleiben.
37
Heute
Loan
Als ich zur Mittagspause ins Restaurant gehe, sitzt Lucie schön wie der Morgen schon an einem Tisch und wartet auf mich. Wir haben uns innerhalb einer Woche öfter gesehen als in sieben Monaten!
»Hi.«
Ich lächle sie unbeholfen an und bin froh, dass sie zugestimmt hat, mich zu sehen. Das letzte Mal war bei Ethans Beerdigung.
Wir unterhielten uns kurz. Sie sprach mir ihr Beileid aus, um mich anschließend zu bitten, zu ihr zurückzukommen. Weil sie mich immer noch lieben würde, weil sie mich nie vergessen hätte und weil wir »wie füreinander gemacht« wären.
Es war kein guter Tag, also sagte ich, ich müsse darüber nachdenken.
Bis gestern im Aufzug. Als ich Violette sagen hörte »Ich liebe dich, Loan«, wurde mein Herz von einer gewaltigen Flutwelle davongespült. Ich glaube, es ist sogar irgendwo unterwegs ertrunken oder Violette hat es mitgenommen, denn ich spüre es nicht mehr in meiner Brust. In der Hoffnung, diese Worte, nach denen ich mich so lang gesehnt habe, für immer zu behalten, musste ich sogar die Augen schließen.
Trotzdem konnte ich nichts dazu sagen. Ich musste Lucie vorher noch einmal sehen. Und zwar, um die Sache endgültig zu beenden.
»Hallo«, antwortet sie fröhlich. Ihr braunes Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Never Too Close Page 35