[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen

Home > Other > [Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen > Page 4
[Ophelia Scale Serie 01] • Die Welt wird brennen Page 4

by Kiefer, Lena


  Vorsichtig klopfte ich an den Rahmen der offenen Tür. Es roch nach Erde und Dünger – Rindermist vermutlich. Der Geruch trieb mir Tränen in die Augen.

  »Hey, Dad. Lexie lässt ausrichten, dass es bald Essen gibt.«

  Mein Vater drehte sich um und sein Gesicht hellte sich auf. Ich wusste nicht, ob er sich wirklich freute oder einfach eine Maske aufsetzte.

  »Hi, Schatz. Ich komme sofort.« Er deutete auf die Pflanzen. Diejenige, die er gerade festgebunden hatte, ließ traurig den Kopf hängen. »Sie wollen nicht so, wie ich will. Ich fürchte, ich tauge nicht zum Gärtner.« Er zog die Schultern hoch.

  »Wir wissen beide, dass es so ist.« Ich lächelte leicht und deutete auf seine dreckige Stirn. »Du hast da was.«

  »Oh, wirklich?« Mein Vater wischte sich das Gesicht ab und schmierte die Erde dabei in seine dunklen Haare. »Das ist wohl die Rache der Natur.«

  »Warum sagst du Lexie nicht, dass dir das Gärtnern keinen Spaß macht?«

  »Ach, nein.« Er hob erneut die Schultern. Mit seiner hochgewachsenen, schlaksigen Gestalt sah er aus wie ein großer Junge. »Sie freut sich, wenn ich es versuche.«

  »Bist du mal auf die Idee gekommen, etwas zu tun, das dir Freude macht?« Mein Ton geriet schärfer als beabsichtigt. Der Blick meines Vaters wurde wachsam.

  »Und das wäre?«

  »Das weißt du genau«, sagte ich.

  Er seufzte. »Es sind jetzt sechs Jahre, Phee. Denkst du nicht, es wird Zeit, die Situation zu akzeptieren?«

  »So wie du?« Ich schnaubte. »Soll ich vielleicht auch Tomaten pflanzen oder hässliche Kerzenleuchter töpfern? Glaubst du, davon geht es mir besser?«

  Mein Vater sah erst die Pflanze und dann traurig mich an. »Ist dieses Leben denn wirklich so furchtbar für dich? Wir haben doch alles. Genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, ausreichend Zeit für Beschäftigung. Glaubst du, der König würde für all das sorgen, wenn wir ihm egal wären?«

  »Der König hat seine Macht im Sinn, sonst nichts«, sagte ich. »Wieso verteidigst du diesen Despoten immer? Du warst selbst Teil der Welt, die er zerstört hat.« Ich hasste es, wenn mein Vater so tat, als ginge ihn das alles nichts an. Als wäre er nie mit Leib und Seele Ingenieur gewesen.

  »Weil ich davon überzeugt bin, dass er seine Gründe hat. Gründe, die über das hinausgehen, was man uns sagt.« Mein Vater nickte. Wahrscheinlich redete er sich das jeden Tag ein. Oder Lexie tat es für ihn.

  »Wenn er wirklich so tolle Gründe hätte, könnte er sie uns auch mitteilen«, sagte ich. »Warum sollte er uns etwas verschweigen, das dabei helfen könnte, seine bescheuerte Entscheidung zu verstehen?«

  »Das weiß ich nicht.« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Aber ich weiß, dass deine Wut niemandem hilft, Ophelia. Am allerwenigsten dir selbst.«

  Er musterte mich mit diesem mitleidigen Blick, den ich so hasste. Es gab keinen Grund, warum ich ihm hätte leidtun müssen. Er war derjenige, der aufgegeben hatte. Er war derjenige, der sich von Lexie hatte weichkochen lassen und jetzt den Lügen des Königs glaubte.

  Ich hätte noch so viel sagen können.

  Zum Beispiel, dass es nicht in meinen Kopf wollte, warum wir in einer Welt fast ohne Technologie ausgerechnet an einem Ort lebten, wo es gar keine gab. Oder, dass seine Haltung jede Verbindung zwischen uns zerstörte. Aber es war sinnlos. Wir würden nie wieder das sein, was wir vor der Abkehr gewesen waren. Zu viel war seitdem passiert.

  »Immerhin bringt meine Wut keine Pflanzen um«, antwortete ich abfällig. »Aber mach du nur weiter damit. Ich für meinen Teil werde mein Leben nicht mit etwas verbringen, das ich nicht kann.«

  Ich ließ ihn nicht antworten, sondern drehte mich um und stapfte zurück zum Haus. Die fünf Meter Weg gehörten mir und meiner Wut – ich trat so heftig auf, dass mir die Fußsohlen wehtaten. An der Terrasse kickte ich die Stiefel von meinen Füßen, dann öffnete ich die Tür. Als ich hindurchging, atmete ich langsam aus und setzte ein Lächeln auf. Meine Wut blieb wie ein Mantel an der Garderobe zurück.

  5

  »Wo ist das Salz?«

  »Ich brauche neue Stifte für meine Mappe.«

  »Mum, Lion klaut immer meine Socken!«

  »Schmeckt es euch? Das ist ein neues Rezept.«

  »Deine Socken passen mir überhaupt nicht, du Kröte!«

  »Es ist sehr gut, Liebling, hat so was … Erdiges.«

  »Nenn mich nicht Kröte!«

  »Ruhe jetzt, alle beide!«

  Es war immer ein Chaos, wenn wir aßen. Fleur und Lion begannen zu streiten, Eneas beschwerte sich über irgendetwas, Lexie wollte schlichten, mein Vater schwieg – und ich versuchte, nicht durchzudrehen. Bei dieser Familie musste man taub und blind sein, um keinen Anfall zu bekommen.

  »Habt ihr zwei schon einen Termin bei der Berufsberatung ausgemacht?«, fragte mein Vater und sah Eneas und mich an.

  Ich überließ meinem Bruder die Antwort. Optisch waren wir uns so ähnlich, wie man es bei Zwillingen erwarten konnte – die schmale Nase, die grünen Augen, die hellbraunen, glatten und kräftigen Haare. Auch die scharfen Konturen unserer Gesichter waren gleich. Unser Charakter hätte jedoch nicht unterschiedlicher sein können. Eneas war ein Denker und Künstler. Er malte und zeichnete, sprach gerne über Philosophie und ergründete den Sinn des menschlichen Seins. Ich dagegen war analytisch und zielstrebig. Kreativität kannte ich nur, wenn es um Technik ging. Für Kunst hatte ich kein Talent.

  »Mein Termin ist nächste Woche«, antwortete Eneas zwischen zwei Gabeln von Lexies Reisgemüsepampe. »Aber Phee hat noch keinen.« Er grinste mich an.

  »Alte Petze«, murrte ich, aber ich war nicht ernsthaft verärgert, wie so oft. Vielleicht war das etwas Biologisches unter Zwillingen – genetische Friedfertigkeit, um einander nicht umzubringen.

  »Du solltest es erledigen«, mahnte mein Vater. Er ließ sich nicht anmerken, dass ich ihn vorhin mies behandelt hatte. »Diese Termine sind verpflichtend.«

  Ja, weil der König das so angeordnet hat. Und wir machen natürlich immer alles, was er uns befiehlt.

  »Das weiß ich. Aber ich habe keine Ahnung, was ich denen sagen soll.« Ich schob das Essen auf dem Teller herum. Die Pampe sah nicht nur aus wie pürierter Frosch, sie schmeckte auch so.

  »Deswegen nennt es sich ja Beratung, Schatz. Damit dir jemand hilft, das Passende für dich zu finden.«

  »Tja, das gibt es seit sechs Jahren nicht mehr«, sagte ich.

  »Das ist Unsinn, und das weißt du auch«, entgegnete mein Vater, als hätte es unseren Zusammenstoß im Gewächshaus nicht gegeben. »Es gibt für jeden einen Bereich, der ihm Freude macht.«

  »Du könntest dich nach einem Geschichtsstudium erkundigen«, mischte sich Lexie ein. »Daran hast du doch Interesse.«

  »Ja, vielleicht.« Ich presste die Lippen aufeinander. Alte und Neuere Geschichte war Knox’ Fach an der Uni gewesen. Seine Leidenschaft, nicht meine. Nichts auf der Welt hätte mich dazu gebracht, weiter daran festzuhalten, nun, wo er es nicht mehr konnte.

  »Schön. Dann kannst du das bei deinem Termin sagen. In Ordnung?« Mein Vater sah mich nicht an, während er das sagte. Ich fragte mich, ob ihm klar war, dass ich niemals Geschichte studieren würde.

  Zu Hause wurde nicht über Knox gesprochen. Lexie hatte es einmal versucht, aber die Gründe für Knox’ Festnahme machten es nahezu unmöglich, mit einer Phobe dergleichen zu besprechen. Sie hatte über ihn geredet, als wäre er ein Wahnsinniger gewesen und ich sein gutgläubiges Opfer. Beinahe wäre ich ihr dafür an die Gurgel gegangen. Da war mir das hilflose Schweigen der anderen lieber.

  »Sicher.« Ich nickte, meinte aber das Gegenteil. Es wirkte trotzdem. Sofort wandte man sich anderen Gesprächsthemen zu.

  »Gut. Lexie, was war das Problem bei den Flyern?«

  »Dad, wie sieht es mit meinen Stiften aus?«

  »Mum, wenn ich heute früher nach Hause komme, darf ich dann am Wochenende bei Sophia übernachten?«

  Das Chaos am Tisch nahm seinen Fortgang. Ich aß noch drei Bissen von meiner Reispampe, damit ich mich nicht daran beteiligen musste. Oft fühlte ich mich in meiner Familie wie ein unbeteiligter Z
uschauer. Manchmal fragte ich mich, ob ich überhaupt noch dazugehörte. Oder ob ich das wollte.

  Eine Viertelstunde später war ich endlich erlöst.

  »Ich muss los, wir haben um acht Uhr Probe.« Ich stand auf und trug meinen Teller zur Spüle. Natürlich hatten wir auch hier keine technische Unterstützung. Was fürchteten die Phobes eigentlich? Dass eine simple DishUnit eines Tages die Weltherrschaft übernahm?

  »Ist das immer noch diese Theatergruppe?« Lexie sah auf. »Wann habt ihr eigentlich eine Aufführung? So oft, wie ihr probt, müsst ihr ja schon echte Profis sein.«

  Ich ging zur Garderobe und griff nach meinen Stiefeln.

  »Im Sommer findet eine statt.« Einmal im Jahr mussten wir ein Stück auf die Bühne bringen, um den Schein zu wahren. Alle ReVerse-Teams waren als Theater- und Sportgruppen getarnt. So konnten wir uns treffen und trainieren, ohne dass es verdächtig wirkte.

  »Oh, wirklich? Das ist ja toll!« Lexie war sofort Feuer und Flamme. Sie war immer Feuer und Flamme, wenn jemand mit künstlerischer Betätigung drohte. »Was ist es denn?«

  »Ein Sommernachtstraum.« Das hatten wir Code zu verdanken, einem unserer Hacker. Er hatte eine unnatürliche Schwäche für Shakespeare.

  »Und was spielst du für eine Rolle?« Lexie schaute, als würde sie meine Maße für ein Kostüm abschätzen. Ich seufzte innerlich. Es gab Gründe, warum ich meiner Familie sonst nichts von den Aufführungen erzählte. Lexie, beim Schneidern so begabt wie beim Kochen, war einer davon.

  »Die dritte Elfe von links oder so.« Ich hob die Schultern. »Ich bin nicht sonderlich begabt, was die Schauspielerei angeht«, sagte ich mit perfekt geschauspielerter Bescheidenheit. »Mir geht es mehr um das Training.«

  »Ach, du bist bestimmt super. Sag dann rechtzeitig Bescheid, ja? Wir brauchen gute Karten für das Spektakel.« Lexie strahlte.

  »Klar. Erste Reihe, versprochen.« Hoffentlich vergaß sie das wieder.

  Ich schnappte mir meine Jacke und den Rucksack mit der Trainingskleidung. Dann drückte ich die Klinke herunter und ging hinaus. »Bis später.« Ich hob die Hand und zog die Haustür hinter mir zu.

  

  Das nächste Terminal lag direkt neben dem Engineerium und blieb meist ungenutzt. Phobes benutzten die TransUnits nur selten und nahmen lieber mechanische Räder, die man mit bloßer Körperkraft antreiben musste.

  Ich schob den Ärmel meiner Jacke hoch und legte mein linkes Handgelenk frei. Unter der Haut war nichts zu sehen, aber er war da: mein Wrist InterLink, kurz WrInk. Früher hatte man solche InterLinks an verschiedensten Stellen des Körpers getragen – auf der Netzhaut für die optische Bilderzeugung, hinter den Ohren für akustische Reize, an den Fingern zur Simulation von Berührung, am Handgelenk für die zentrale Steuerung. Virtuelle Inhalte, Kommunikation, Unterhaltung, alles hatte über InterLinks stattgefunden.

  Nach der Abkehr war nur der WrInk übrig geblieben. Aber nun hatte er keinen Wert mehr für den Träger, sondern lediglich für diejenigen, die uns kontrollierten. Der WrInk war mit der DNA gekoppelt und diente zur Überwachung und Identifikation. Außerdem benötigte man ihn für den Gebrauch der noch gestatteten, staatlich reglementierten Technik. Über den WrInk wurde man von TransUnits geortet und von Lesepads und DishUnits getrackt. Man konnte nichts benutzen, ohne ihn zu aktivieren. Ich fand es reichlich inkonsequent, dass der König für seine Zwecke immer noch Technologie benutzte, aber das passte zu ihm. Wenn es ihm diente, war es erlaubt. Wenn es uns diente, war es verboten.

  Ich hielt mein Handgelenk in die Nähe des Terminalscanners. Auf dem Display erschienen meine Kennung und mein Standort. Ophelia Scale. ID OS-14873-1204. The Droveway.

  »Zielort?«, fragte eine kalte Stimme.

  »Dir auch einen wunderschönen Abend«, murmelte ich. Früher hatten Geräte noch Persönlichkeit gehabt, sogar simple Alltagsbots waren mit sozialen Add-ons ausgerüstet gewesen. Heute war die Vermenschlichung von Maschinen verpönt.

  »Der Zielort DiraucheinenwunderschönenAbend ist nicht bekannt.«

  So viel dazu.

  »Brighton Pier«, sagte ich geduldig.

  »Zielort erkannt. Wartezeit: zwei Minuten. Voraussichtliche Fahrtzeit: zehn Minuten. Bitte bleiben Sie auf Ihrer Position.«

  Das Display zeigte eine Karte mit der Strecke bis zum Pier an. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Terminal und wartete.

  Es war Anfang Mai tagsüber schon warm, aber am Abend wurde es empfindlich kalt. Zum Glück hatte ich meine Jacke dabei, einen Parka aus festem, steifem Material, mit abgewetzten Ärmeln und ausgeleierten Taschen. Er war alt und zu groß, und jeder andere hätte ihn vermutlich entsorgt, aber das kam für mich nicht infrage. Diese Jacke hatte Knox gehört, und damit war sie das kostbarste Kleidungsstück, das ich besaß. Manchmal steckte ich die Nase in das Innenfutter und bildete mir ein, ihn zu riechen. Aber schon seit Monaten roch die Jacke nur noch nach mir und Lexies Kochversuchen.

  Am Ende der Straße bogen Lichter um die Ecke und kamen auf mich zu. Kurz darauf hielt die graue TransUnit neben mir. Ich wartete, bis sich die Tür mit einem leisen Sirren öffnete, dann stieg ich ein.

  Außer mir war nur ein älterer Mann an Bord. Als ich hereinkam, sah er auf und grüßte mich freundlich. Ich erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und setzte mich hin.

  Die TransUnit rollte lautlos an, wendete auf der Straße und fuhr in die Richtung, aus der sie gekommen war. Die Waggons waren eine der höchstentwickelten Technologien, mit der die Bevölkerung in Berührung kam. Sie hatten Anbindung an ein orbitales Netzwerk, einen schwachen Abklatsch des früheren OmniNets. Das sagte ihnen, wo sie sich gerade befanden und wo sie gebraucht wurden. Kein Wunder, dass Julius die Daten wollte. Wenn wir ein Programm entwickeln konnten, das die Routen überwachen oder sogar steuern konnte, wäre das ein riesiger Durchbruch für ReVerse.

  Warum der König die TransUnits nicht auch verboten hatte, wusste ich nicht – aber sicher nicht aus Fürsorge, wie mein Vater behauptete. Vielleicht wollte der König sie behalten, um im Fall des Falles ein Druckmittel gegen uns in der Hand zu haben. Natürlich hätte er dazu auch die Nahrungsmittellieferungen einstellen können, wenn wir nicht spurten, aber so dumm war er nicht. Der Entzug von Nahrung machte Menschen unberechenbar. Der Entzug ihrer letzten Privilegien machte sie gefügig.

  Die Fahrt war kurz und führte an den großen Hauptstraßen Brightons entlang. Wir passierten erst meine Schule, an der ich vor zwei Monaten meinen Abschluss gemacht hatte. Dann fuhren wir am Royal Pavilion vorbei, einem der Wahrzeichen der Stadt. Es war ein imposanter Bau, der mit seinen Kuppeln eher an den Fernen Osten erinnerte als an das Empire. Knox hatte mir erzählt, dass der Pavilion die Sommerresidenz eines jungen Fürsten gewesen war, der dann später König von England geworden war. Jetzt war das Gebäude wie das angrenzende Royal Albion Hotel ein Begegnungshaus, in dem man sich treffen und zusammen essen oder spielen konnte. Der König hatte die Einrichtung solcher Räume angeordnet, damit wieder »mehr Kommunikation und Menschlichkeit stattfinden konnte«, wie es offiziell hieß. Menschlichkeit, dachte ich bitter. Als ob er wüsste, was das ist.

  Der alte Mann vor mir las auf einem königlichen Lesepad. Ich konnte nicht sehen, wie sein WrInk immer wieder Verbindung zu dem Gerät aufbaute, aber ich wusste, dass es so war. Es wurde überwacht, ob und was gelesen wurde. Auffälligkeiten meldeten die Geräte direkt an die königlichen Server.

  Auf dem Pad war ein Zeitungsartikel zu erkennen, der mit einem großformatigen Bild des Königs versehen war. Graue Augen sahen mich aus einem kantigen Gesicht an, das von dunkelblonden, kurzen Haaren umrahmt wurde. Der schmale Bart um den Mund hatte die gleiche Farbe, konnte aber einen harten Zug nicht verbergen. Leopold de Marais war jung für sein Amt, noch nicht einmal vierzig. Aber man musste nicht alt sein, um schreckliche Dinge zu tun.

  »Du magst ihn wohl nicht, was?« Der Alte sah mich gutmütig an. Offenbar hatte ich meine Mimik nicht unter Kontrolle gehabt.

  »Den König?« Ich hob die Schultern. »Das kann man so nicht sagen. Ich weiß eigentlich nicht viel über ihn.« Eine glatte Lüge.

  Ich kannte die Biografie von Leopold de Ma
rais genau, denn ich hörte immer sehr aufmerksam zu, wenn jemand in der Supply-Station oder bei ReVerse etwas über ihn erzählte. Vor allem Julius, unser Trainer und Anführer der ReVerse-Gruppe in Brighton, war sehr gut über den König informiert. Nicht, dass ich scharf darauf war, mich mit ihm zu befassen. Aber ich wollte meinen Feind so gut kennen wie nur möglich.

  Leopold war aufgewachsen als ältestes der drei Kinder von Achill de Marais. Sein Vater hatte das weltweit größte Energietechnikunternehmen AchillTechnologies aufgebaut, eines der Big Ten, ungeschlagen innovativ und erfolgreich. Aber nachdem Marais senior alles dafür getan hatte, ein weltweites Monopol zu erschaffen, war er bei einem Brand seines Hauses ums Leben gekommen. Ein Jahr danach hatte Leopold sich gegen den Weg seines Vaters entschieden, die Abkehr ausgerufen und alles unter seine Kontrolle gebracht.

  Geschafft hatte er das mit Konsequenz, Skrupellosigkeit und Intelligenz. Manche seiner Konkurrenten aus den Big Ten hatte er schon vor der Abkehr übernommen – wie den Nahrungsmittelproduzenten CrossField, den Textilgiganten CommonFabric und den Bauriesen GeneralConstruction. Manche Konzernchefs hatte er auch mit Posten in seinen Ressorts ködern können: Die frühere Chefin des Kommunikationsmonopolisten AlphaCorp führte jetzt das Central Regulation Department und war für die Überwachung der Bevölkerung und die Einhaltung der Beschränkungen durch die Abkehr zuständig.

  Viele der Konkurrenten im Ausland hatte Leopold de Marais zu seinen Verbündeten gemacht, die nun in Asien, Amerika, Australien und Afrika die Abkehr in seinem Sinne umsetzten und so dafür sorgten, dass die ganze Welt seinem Vorbild folgte. Wo er in der Wirtschaft keine Allianzen hatte schmieden können, waren ihm Politiker als Partner auch genehm gewesen. Auf diese Weise war nun jeder auf der Erde lebende Mensch seiner Ideologie unterworfen. Denn alle, die nicht mitspielen wollten – wie MedSol, ValeVisualVirtuals oder auch ExonSolutions, die auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz ungeschlagen gewesen waren –, hatte Leopold am ersten Tag der Abkehr einfach verstaatlicht, sich ihre Technologie unter den Nagel gerissen und sie für seine Zwecke angepasst.

 

‹ Prev