by Kiefer, Lena
»Das ist Echo Claesson. Sie war Leistungssportlerin, hat Extremcrossing und Oktathlon gemacht. Leopold hat sie vor vier Jahren bei einem Zieleinlauf in der Sahara rekrutiert, da war sie gerade 22. Seitdem ist sie aktive Agentin.«
»Kennst du sie persönlich?«
Ferro schüttelte den Kopf. »Ich war bereits weg, als sie kam. Aber schonen wird sie euch garantiert nicht.«
»Also keine Tricks?«
»Nein, nur harte Fakten. Wie gut warst du bei den Fitnesstests in London?«
»Es war okay. Laufen kann ich gut, bei der Kraft hapert es.« Ich hob die Schultern.
»Hol das besser auf.« Er runzelte die Stirn. »Bei Claesson musst du alles geben und trainieren, so viel du kannst. Wenn du Biss zeigst, wird sie das honorieren. Sie gilt als geradlinig, nicht so wie Dufort.«
»Dufort?«
»Caspar Dufort.« Ferro tippte auf die letzte Markierung an der Wand.
»Er war in London!«, rief ich, als das Bild auftauchte. Dufort war der gut aussehende Typ vom Appell, der mir am zweiten Morgen mit der Nummer geholfen hatte. »Er war als Grünjacke getarnt.«
»Ja, er war dort. Man hat sie auf die Prüfungsstandorte aufgeteilt. Claesson war in Paris, Fiore in Rom, Dufort in London.« Ferro warf dem Bild einen hasserfüllten Blick zu. Dufort und er schienen besonders gute Freunde zu sein.
»Womit muss ich bei ihm rechnen?«
»Mit allem.«
»So schlimm?«
»Schlimmer«, sagte Ferro. »Dufort ist einer der besten Schakale, die es je gegeben hat. Er liest Menschen wie Bücher und analysiert Situationen in Sekunden. Er ist extrem intelligent, hochanalytisch und absolut loyal. Er würde seine Großmutter umbringen, wenn sie eine Gefahr für Leopold wäre.«
Ich erinnerte mich an die Begegnung im Korridor. »Ich habe mit ihm gesprochen. Er war freundlich und hat mir geholfen.«
Ferro schnaubte. »Ja, so ist er. Dufort geht nicht mit dem Kopf durch die Wand – er bringt die Leute dazu, ihm die Tür zu öffnen. Er ist Experte für alles, was mit Täuschung und fremden Identitäten zu tun hat. Wenn du dich vor jemandem in Acht nehmen musst, dann vor ihm.«
»Bisher hat er mich nicht durchschaut.« Ich saß schließlich hier, obwohl ich mit Dufort gesprochen hatte.
»Wahrscheinlich wollte er das gar nicht.« Ferro zeigte mit dem Pen auf mich. »Das ist dein großes Plus: Du bist sein Typ.«
»Bin ich nicht etwas zu jung für ihn?«, scherzte ich.
»Nicht sein Typ Frau.« Ferro blieb ernst. Wir hatten die gleichen Ziele, aber offenbar nicht den gleichen Humor. »Sein Typ Agent. Wie hast du gemerkt, dass er keine Grünjacke ist?«
Ich überlegte kurz. »Er passte nicht ins Bild«, sagte ich dann. »Zu gut aussehend, zu kontrolliert, zu aufmerksam.«
Jetzt nickte Ferro. »Das ist die Art, wie er selbst denkt. Aber dass du ihn bemerkt hast, lag daran, dass er es so wollte. Normalerweise hättest du keine Chance gehabt.«
Das waren ja tolle Aussichten. »Wie schaffe ich es dann, dass er weiterhin nichts merkt?«
Ferro neigte nachdenklich den Kopf. »Er weiß, dass du ähnlich tickst wie er. Zeig ihm das, sooft du kannst. Solange er dich für eine jüngere Version seiner selbst hält, wird er nachlässig sein. Aber bleib wachsam und mach ihn niemals misstrauisch. Wenn er dich enttarnt, war es das für dich. Du wärst nicht die Erste, der er ein Messer in den Rücken rammt.« Es klang bitter.
»Warum hasst du ihn so?«, fragte ich.
»Wir waren im gleichen Team, aber Dufort ist kein Teamplayer«, sagte Ferro knapp. »Du musst wirklich höllisch aufpassen, wenn du mit ihm zu tun hast.«
In dem Moment wurde mir etwas klar: Ich war kein Wolf unter Schafen mehr. Jetzt war ich ein Wolf unter Schakalen. Ein kleiner flauschiger Wolf unter großen, blutrünstigen Schakalen. Die Nahrungskette hatte gerade ein Upgrade erhalten.
»Das waren die wichtigsten.« Ferro tippte auf sein Pad und die Zeichnung verschwand. »Das oberste Ziel kennst du. Aber um Leopold zu töten, musst du zum inneren Kreis gehören, sonst lässt man dich nicht mit ihm allein. Also solltest du diese Ausbildung so schnell wie möglich durchlaufen. Wenn sich vorher eine Gelegenheit bietet, kannst du auch eher zuschlagen. Aber es darf nichts auf dich zurückfallen. Verstanden?«
»Ja.« Ich fragte nicht, was sonst passieren würde.
»Bis du so weit bist, sammle Informationen. Mach dich mit der Stadt vertraut, mit den Sicherheitsparametern und der Technologie, die der König für sich reserviert hat. Sieh dir die Außengrenzen an – natürlich, ohne deine Tarnung zu riskieren. Und halte die Augen und Ohren offen. Wenn du etwas erfährst, von Auslandsreisen des Königs oder Treffen mit wichtigen Leuten, kann uns das helfen.«
»Was ist mit Einsätzen der Schakale?«
»Sollte dir etwas in die Hände fallen, auch das. Aber such nicht aktiv danach. Du hast die OmnI überzeugt, und das heißt, du bist wirklich gut. Wir dürfen dennoch kein Risiko eingehen. Phoenix hat seine Augen überall.«
Dieser Cohen Phoenix schien der Einzige zu sein, vor dem Ferro wirklich Respekt hatte. Das bedeutete wohl, dass ich mit blanker Angst vor dem Kerl gut beraten war.
»Wenn ich etwas habe … wie nehme ich Kontakt zu ReVerse auf?«
»Wir werden uns bei dir melden, wenn du drin bist. Dann vereinbaren wir ein Treffen an der Grenze. Meine Kontakte werden dir eine Nachricht zukommen lassen.«
»Können deine Kontakte auch etwas in die Stadt schmuggeln? Ich brauche bald einen neuen SubDerm-Injektor von meiner Mutter. Für das hier.« Ich machte die gleiche Geste an meiner Schläfe wie Ferro vorhin. Mein jetziges HeadLock hielt noch sechs Wochen, bei reduzierter Dosis vielleicht acht.
»Ich werde mich darum kümmern.«
»Danke.« Eine Sorge weniger. Eine von ungefähr viertausend.
Ferro sah auf seine Uhr und stand auf.
»Du musst los. Man wird dich vermissen.« Das Pad verschwand unter seinem Ärmel und er zog die Kapuze über den Kopf. Dann ging Ferro zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. »ReVerse zählt auf dich, Ophelia. Viel Erfolg.« Er nickte mir zu, dann glitt er hinaus. Als ich ihm zwei Sekunden später folgte, war er bereits verschwunden.
Ich sah mich prüfend um und ging dann zurück zum Warteraum. Auf dem Weg fiel mir auf, dass ich Ferro gar nicht gefragt hatte, warum er ReVerse ins Leben gerufen hatte – warum er gegen den König und die Abkehr kämpfte, wo er doch früher für die Familie gearbeitet hatte. Aber möglicherweise war es besser so. Jeder von uns hatte seine eigenen Gründe.
Vielleicht hätten mir seine gar nicht gefallen.
15
Ich verschlief die Ankunft in Maraisville. Nachdem wir irgendwo im Nichts in eine TransUnit umgestiegen waren, schloss ich meine Augen. Als ich wieder aufwachte, standen wir vor einem würfelförmigen Gebäude ohne Fenster.
Wir wurden von Männern in dunklen Uniformen hineinbegleitet und ich kniff die Augen zusammen. Nach der Dunkelheit draußen war das Gebäude wie eine Supernova. Weiße Wände, weißes Licht, weiß gekleidete Menschen.
»Sie bekommen neue Wrist InterLinks mit anderen IDs«, informierte uns eine Frau, deren Kluft mich blendete. »Ihre alte Kennung ist damit hinfällig. Sie erhalten sie nur zurück, wenn Sie aus dem Programm ausscheiden.«
Wir wurden auf Behandlungsstühle gesetzt, die mit grauen Trennwänden abgeteilt waren. Überall um mich herum standen medizinische Gerätschaften.
»Sind Sie bereit?« Ich nickte und streckte gehorsam den Arm aus. Die Frau in Weiß legte mein Handgelenk in eine Vorrichtung aus Metall und fixierte es. Eine Manschette zog sich um meine Haut zusammen, entfernte meinen WrInk und setzte einen anderen ein. Der Vorgang dauerte nur wenige Sekunden und ich spürte nichts davon.
»Was ist an dem WrInk anders?«, fragte ich die Frau. Neben mir auf dem Tisch wanderte OS-18473-1204 in einen Schredder. Das Geräusch tat in den Ohren weh.
»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen«, gab sie zurück. »Sie werden alles von der Ausbildungsleitung erfahren.« Dann ging sie und ließ mich allein.
Meine neue Kennung war OS-88651-XX, das sah ich auf dem schmalen Papierstreifen,
den man mir in die Hand drückte. Wofür die beiden X standen, wusste ich nicht. Vielleicht war es die Kennzeichnung für einen Bewohner von Maraisville oder einen Agenten.
»Bitte gehen Sie hinaus. Man wird Sie nun in die Stadt bringen.«
Wir stiegen erneut in die TransUnit, und bald kam ein riesiges Tor in Sicht, das von zwei gewaltigen Strahlern beleuchtet wurde. Als wir näher kamen, öffnete es sich wie das Maul eines Wals und ließ uns hineingleiten, als seien wir ein Haufen Futter. Eine seltsame Mischung aus Aufregung und Ruhe machte sich in mir breit. Wir waren da.
Jetzt war es real.
»Es ist 6 Uhr 30. Sie wollten geweckt werden.«
Die Stimme war so emotionslos und kalt wie die meiner Mathelehrerin Louise Fletcher vor ihrem ersten Kaffee. Müde quälte ich mich aus dem Bett, brachte das Terminal mit einem »Alarm deaktivieren« zum Schweigen, befahl das Hochfahren der Jalousien vor dem Fenster und ging ins Bad. Als ich zurückkam, war es hell im Zimmer. Ich gähnte, band mir die Haare zum Zopf und griff nach meiner Trainingskleidung.
Seit 23 Tagen waren zehn Quadratmeter im dritten und obersten Stock von Wohneinheit X7 mein Zuhause. Das Zimmer war nicht groß, aber es passte alles hinein: ein Bett an der Fensterseite und ein Schreibtisch gegenüber, ein Schrank neben der Tür und ein Terminal, das mit der Wand verschmolz. Mein Bad war winzig, aber gehörte nur mir, eine Küche gab es nicht. Wir aßen in den Versorgungshäusern oder dem Gemeinschaftsraum unten im Erdgeschoss.
Die Wände meines Zimmers waren weiß, die Möbel grau, es war die Standardausstattung der Quartiere. Das Gleiche galt für die Kleidung: Alles, was wir zum Training und als offizielle Mitglieder des königlichen Hofes tragen durften, war grau, weiß oder schwarz. Privat waren unsere eigenen Sachen erlaubt, aber so etwas wie »privat« gab es kaum. Wenn ich nicht beim Training war, lernte oder schlief ich.
»Tagesplan aufrufen«, sagte ich zur Wand. Man konnte nicht behaupten, dass der König uns viel Technik gönnte. In den Wohnquartieren gab es nur das Terminal, beim Training die üblichen Pads und manchmal einen Holoerzeuger, der bei Bedarf zur Verdeutlichung eine Projektion in den Raum warf. Die offizielle Erklärung war, dass auch in Maraisville die Abkehr herrschte. Ich hätte jedoch mein Frühstück verwettet, dass sie für Leopold nicht galt.
Er hatte mit Sicherheit ein Heer von künstlichen Intelligenzen und ganze Technologie-Arsenale zur Verfügung. Garantiert wurde er netter geweckt als ich.
Während ich meine Schuhe schloss, betete das Terminal mir den heutigen Stundenplan vor:
08:00 –Sprachen – Vesely – Gebäude B-34, Raum 127
10:30 –Täuschung und Identitäten – Dufort – Gebäude B-34, Raum 231
13:30 – Verteidigung – Fiore – Trainingszentrum G, Halle II
16:00 – Fitness – Claesson – Trainingszentrum G, Halle Ia
»Gibt es Einträge für andere Termine?« Ich fragte das jeden Morgen, um Überraschungen zu vermeiden.
»Keine Einträge vorhanden.«
»Wie spät ist es jetzt?«, fragte ich.
»6 Uhr und 42 Minuten.«
»Na, dann wird es ja mal Zeit.« Ich öffnete die Tür.
»Ich habe Sie nicht verstanden«, informierte mich die Stimme.
Ich seufzte. »Das hatte ich auch nicht erwartet.«
Die Sonne hatte es bereits über die östlichen Berge des Tals geschafft, die Gassen von Maraisville lagen aber noch im Schatten. Ich fröstelte in meinen kurzen warmen Sportsachen, als ich über das Kopfsteinpflaster joggte.
Die Altstadt, auch Zone B genannt, war wie ein bewohntes Museum. Ich hatte auch vorher schon historische Städte gesehen, aber dort hatten moderne Möbel und silbrige TransUnits die Illusion zerstört. Hier nicht. Ganz Maraisville war die Stadt des Königs, aber Zone B war Leopolds ganz persönliches Zentrum der Abkehr – und gleichzeitig eine Attraktion für Staatsbesucher. Es waren keine TransUnits erlaubt, nur zur Warenanlieferung am frühen Morgen. Außer elektrischem Licht gab es keine Technik. Wenn man durch die Straßen ging, hatte man einen Eindruck, wie das Leben vor 150 Jahren gewesen sein musste: kleine Geschäfte, dazu Cafés mit Tischen auf dem Gehweg. Auch Restaurants mit Spezialitäten aus anderen Regionen gab es und ein Geschäft nur für Brot und Kuchen. Die Betreiber der Läden trugen altmodische Kleidung und sprachen ihren einheimischen Dialekt. Beinahe hätte ich es idyllisch gefunden.
Die Altstadt war jedoch nicht jedem zugänglich. Nur Bewohner der Sicherheitszonen B und C durften jederzeit hinein und hinaus, alle anderen mussten sich anmelden. Ich fand das paranoid. Maraisville war ohnehin komplett abgeriegelt. Die Stadt wurde umgeben von meterhohen Mauern und Zäunen und überwacht von Kameras, Bioscannern sowie ID-Trackern. Mein neuer WrInk ermöglichte die Aufzeichnung eines vollständigen Bewegungsprofils, außerdem konnte man meinen Vitalstatus prüfen und mich im Zweifelsfall sogar bewusstlos werden lassen. Das hatte man uns bei der Ankunft gesagt.
Viele Worte hatten sie in dieser Nacht nicht mehr verschwendet. Man hatte uns lediglich begrüßt, die Wohnquartiere zugewiesen und ein Pad mit Zeitplänen und Informationen in die Hand gedrückt. Ich war in mein Zimmer gestolpert und komagleich ins Bett gefallen. Erst zwölf Stunden später war ich wieder aufgewacht, gerade noch rechtzeitig für meine erste Begegnung mit den Ausbildern.
Mittlerweile hatte mich die tägliche Routine eingeholt. Morgens vor dem ersten Training stand ich auf und verabreichte mir eine reduzierte Dosis HeadLock, ging eine Stunde joggen und anschließend zum Frühstück. Danach stand Unterricht an, von Montag bis Samstag. Abends aßen wir Anwärter meist zusammen, danach mussten wir Theorie pauken oder noch mehr für unsere Fitness tun. Wenn meine Kopfschmerzen mich nicht schlafen ließen, gönnte ich mir einen weiteren Stoß HeadLock, denn nachts war die einzige Zeit, wo ich meinen Kopf nicht brauchte. Der Sonntag war frei, aber nur offiziell. Bisher hatte ich ihn damit verbracht, etwas Schlaf aufzuholen und noch mehr zu trainieren. Ich konnte mir keine Schwächen erlauben.
Bereits nach einer Woche war ein Viertel der Anwärter nach Hause geschickt worden, übrig waren noch vierzig von uns. Dass wir für die Schakale statt für die Garde vorgesehen waren, hatte man uns bei der Ankunft ohne Umschweife gesagt. Nach Ferros Eröffnung hatte ich damit gerechnet, man würde uns das viel spektakulärer verkünden, aber Pustekuchen. So ist es, macht mit oder lasst es sein. Warum hätte man auch Werbung für den Job machen sollen? Sie gingen ja eh davon aus, dass wir für den König bereitwillig unser Leben opfern würden.
Die Regeln waren denkbar einfach: Alle Verantwortlichen hatten jederzeit das Recht, uns ohne Angabe von Gründen aus dem Programm zu werfen. In diesem Fall oder bei freiwilligem Ausstieg würden drei Jahre unserer Erinnerungen gelöscht werden. »Gedächtniskorrektur aus Sicherheitsgründen« nannten sie das. Natürlich war es nur ein anderes Etikett für ein Clearing – und ein Grund mehr, nicht zu versagen. Egal, wie weh der Gedanke an Knox tat, ich wollte die Erinnerungen an ihn nicht verlieren.
Ich kam am Überwachungsposten an. Die Zonen waren ringförmig angelegt: Zone A war die Festung des Königs, Zone B der Stadtkern, in der westlichen Zone C wohnte ich. Warum man beim Übertritt in eine andere Zone jedes Mal einen Posten passieren musste, wusste ich nicht.
»Kennung?« Der schwarz gekleidete Wachmann sah mich an.
»OS-88651-XX«, sagte ich geduldig. Ich kam seit drei Wochen jeden Morgen hier vorbei. Was dachte der Typ? Dass jemand anders Besitz von meinem Körper ergriffen hatte?
»Ophelia Scale?«
Nein, die Prinzessin von Großasien. »Japp.«
Der Wachmann nickte. »Du darfst durch.«
»Danke«, murmelte ich und trat durch die torähnliche Öffnung neben dem Posten. Es surrte leicht, als der Bioscanner mich erfasste, dann wurde ich freigegeben. Mit ein paar langsameren Schritten setzte ich mich wieder in Bewegung, dann zog ich das Tempo an und durchquerte die östliche Zone C.
Der Kontrast zur Altstadt hätte kaum größer sein können, denn Zone C war hochmodern. Kleinere TransUnits für Personen und größere Versionen für Güter schnellten über den tiefschwarzen Straßenbelag. Die Gebäude w
aren weiße Würfel, die in einem komplizierten geometrischen Muster aufeinandergeschichtet waren – nie höher als drei Stockwerke, um die Festung nicht zu überragen. Es gab einheitlich begrünte Balkone und Dachterrassen, dazu Parks und Spielzonen zwischen den Gebäuden. Alles war genormt und gleichförmig.
Ich kam an einer Supply-Station vorbei. Davor drängelten sich Kinder, die gefrühstückt hatten und nun auf dem Weg in die Schule waren. Ein kleiner Junge mit hellen Locken schob sich den Rest seines Brötchens in den Mund und grinste mich an. Ich grinste zurück.
Ein weiterer Wachposten, das Sirren des Bioscanners, noch zwei Querstraßen, dann verließ ich das bebaute Gebiet. Der Weg unter meinen Schuhen bestand erst aus Schotter, dann aus festgetrampelter Erde. Schließlich schluckte weicher Waldboden das Geräusch meiner Schritte.
Meine Route schlängelte sich zwischen den Bäumen langsam aufwärts und mit jedem Atemzug rückte mein Auftrag in den Hintergrund. Ich sprang über das Rinnsal eines kleinen Baches, wich Wurzeln aus und horchte auf meinen Atem. Für diese halbe Stunde konnte ich zulassen, dass es Knox gab, Jye gab, meine Familie zu Hause. In dieser Zeit durfte ich an Eneas denken, der mittlerweile seine Bewerbung für die Kunsthochschule fertig haben müsste, oder an meinen Vater, dem ich wünschte, er würde irgendwann ein erfüllenderes Hobby als Tomatenzüchten finden. Ich konnte ich selbst sein, bevor ich die echte Ophelia wieder verstecken musste. Meine Anspannung strömte bei jedem Schritt aus mir heraus wie Dampf aus einem Kessel. Als ich einer Kehre folgte und auf eine Ruine zusteuerte, fühlte ich mich besser.
Die verfallene Burg hieß Castello della paura, Festung der Angst. Sie war von Gestrüpp und Efeu überwuchert und musste bereits vor Jahrhunderten einige Schläge abbekommen haben. Die in den Fels gehauenen Grundmauern standen nur noch zu zwei Dritteln, der einzige Turm ragte wie ein abgebrochener Zahn in den Himmel. Bei Majore Vesely hatten wir gelernt, dass vor Hunderten von Jahren dort Gefangene gefoltert worden waren, aber davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Deswegen hatte ich die Ruine in Castello della libertà umgetauft, Festung der Freiheit. Sie war nämlich der einzige Ort in der Stadt, an dem ich mir nicht wie eine Gefangene vorkam.