by Kiefer, Lena
»Wir brauchen eine Lösung«, sagte Amelie schließlich. »Wie soll ich denn erkl–«
Meine Hand war an die Klinke gekommen und hatte ein Geräusch verursacht. Amelie sah sich um. »Ist jemand hier?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Lucien gelassen. »Sei nicht albern.« Als Amelie nicht hinsah, warf er einen Blick in meine Richtung. Ich verstand und schloss die Tür, so leise es ging. Die Stimmen der beiden wurden dumpf und waren nicht mehr zu verstehen.
Da ich nun nicht mehr lauschen konnte, stand ich sinnlos herum. Also suchte ich nach dem Steuerungspanel und schaltete die Beleuchtung ein.
Das Zimmer unterschied sich im Wesentlichen nicht von dem nebenan, nur die Möbel waren andere. Ein großes Bett mit ordentlich zurechtgesteckter grauer Tagesdecke und weißen Kissen, dazu silberne Lampen und ein weicher beigefarbener Teppich. Gegenüber der Fensterfront waren bis zur Decke Regale angebracht, mit kleinen Fächern für jeweils wenige Bücher oder Gegenstände. Mehr als die Hälfte war leer. Es sah so aus, als wäre Lucien hier nie wirklich eingezogen.
Ein Blick in das angrenzende Ankleidezimmer zeigte das gleiche Bild. Nur ein kleiner Teil der Stangen und Ablageflächen war belegt, hauptsächlich mit funktionaler Kleidung und ein paar schickeren Sachen, teils auch mit farbigen Klamotten ohne Lilie. Das Bad war wie alles andere riesig und klinisch sauber.
Zurück im Zimmer fiel mein Blick auf die wenigen belegten Regalfächer. Hauptsächlich standen Bücher darin. Ich erkannte in Leder gebundene Ausgaben von Charles Dickens, Jane Austen und Hector Libras, einem Schriftsteller aus der Zeit der europäischen Vereinigung. Vorsichtig griff ich nach Dickens’ »Oliver Twist«. Das Leder war kühl, die Seiten knisterten leise beim Aufschlagen. Als ich darin blätterte, rieselte etwas auf meine Hand. Es war schwarzer Staub, der sich weich und samtig anfühlte.
»Asche«, murmelte ich leise. Die hintere Kante des Umschlages war angesengt und bröckelte auseinander. Das musste während des Feuers passiert sein, das Luciens Eltern getötet hatte.
Vieles in dem Regal zeigte Spuren des Unglücks. Da war eine Holzlokomotive mit schwarzen Flecken, ein halb geschmolzenes SwipSwap – ein beliebtes Virtual Game für Kinder – und etwas, das aussah, als wäre es einmal ein Ball gewesen.
Auf einem der unteren Bretter stand ein Bild in dunklem Rahmen. Es war ein Foto der drei Marais-Geschwister, ein echtes Farbfoto auf Papier. So etwas hatte es bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts gegeben, danach war man zu holografischen Projektionen übergegangen. Nur noch wenige Menschen wussten mit einer Kamera umzugehen und dementsprechend teuer waren die Aufnahmen. Mein Vater hatte zu Weihnachten einmal ein Porträt von Eneas und mir in Auftrag gegeben. Es hatte ein Vermögen gekostet.
Das Foto in meiner Hand musste ein paar Jahre alt sein. Alle drei waren jünger, Lucien vielleicht fünfzehn, seine Geschwister demnach um die dreißig. Amelie stand zwischen ihren Brüdern, Lucien und Leopold hatten ihre Arme um sie gelegt. Alle lachten in die Kamera. Im Hintergrund war ein großes, altes Haus zu erkennen.
Leopold wirkte auf diesem Bild nicht halb so ernst wie auf offiziellen Aufnahmen, und ich sah keine der Falten, die sich mittlerweile um seine Augen eingegraben hatten. Amelies Haare waren offen und fielen ihr ins Gesicht, was es weicher und freundlicher machte. Auch Lucien hatte sich verändert. Auf dem Foto war er nicht nur jünger gewesen, sondern auch unbeschwerter. Vor der Abkehr schienen alle drei glücklicher gewesen zu sein. Oder eher vor dem Brand?
Ich hörte nichts mehr von nebenan, also stellte ich das Bild eilig zurück. Stattdessen nahm ich etwas aus dem Fach darüber.
»Ach herrje, was ist denn mit dir passiert?« Ich sah auf das Stofftier in meiner Hand. Es war ein graues Känguru, klein genug zum Mitnehmen und groß genug zum Kuscheln. Allerdings sah es angegriffen aus: Seine Ohren waren schwarz und der Schwanz angesengt.
Die Tür ging auf.
»Hey.« Lucien kam herein. Er sah erschöpft aus. »Wie ich sehe, hast du Dr. Grey kennengelernt.«
»Dr. Grey?« Ich grinste. »Wo hat er denn den Doktortitel her?«
»Den Doktortitel? Er hat sechs.«
»Sechs?«
»Oh ja. Unter anderem in Känguru-Medizin und Känguru-Psychologie. Mein Dad hat ihn abgeworben, als er in Australien war.«
Ich unterdrückte ein Grinsen und sah das Känguru ernst an. »Dann muss ich ja aufpassen, was ich dir erzähle, hm?« Vorsichtig nahm ich seinen Kopf zwischen meine Finger und ließ ihn nicken. Dann sah ich Lucien an. »Alles in Ordnung? Ich wollte nicht lauschen, aber …«
»Ist schon okay.« Er rieb sich die Augen. »Und ja, alles in Ordnung. Amelie ist nur etwas angespannt.«
»Diese Sache mit dem Norden scheint ernst zu sein.«
»Sie ist ernst. Aber Amelie verrennt sich in etwas. Eine Hochzeit mit der Tochter eines einflussreichen Sveropäers, um die Massen milde zu stimmen? Wer sind wir, die Tudors?«
»Dann wäre Stella Viklund aber nur die Erste in einer ganzen Reihe von Ehefrauen.«
Lucien lachte lautlos. »Ja, und wir müssten die Hinrichtungen wieder einführen. Was das für eine Sauerei auf dem Marktplatz gäbe.« Er nahm mir Dr. Grey aus der Hand und streichelte ihm die verkohlten Ohren. »Leopold wird einer solchen Hochzeit nie zustimmen.«
»Warum will Amelie es dann unbedingt durchsetzen?« Ich setzte mich neben Lucien und zog die Beine in den Schneidersitz.
Er seufzte. »Sie will sich beweisen.«
»Hat sie das nötig?« Soweit ich wusste, hatte die einzige Tochter von Achill de Marais zwei Abschlüsse von renommierten Universitäten und war hochintelligent.
»Hast du früher bei Sportwettkämpfen mitgemacht?«
Jetzt ging das mit den Gegenfragen wieder los. »Als Kind, ja. Vor der Abkehr.« Worauf wollte er hinaus?
»Hast du gewonnen?«
»Manchmal. Oft auch nicht.«
»Wenn du nicht gewinnst, ist der dritte Platz der beste«, erklärte Lucien. »Man ist weit genug am Sieg vorbei, aber trotzdem auf dem Treppchen. Der zweite Platz dagegen ist undankbar. Alle fragen sich, warum du nicht gewonnen hast.«
»Und so ist das bei euch?«
»So ist das bei uns. Amelie wurde immer an Leopold gemessen – wird an ihm gemessen. Sie kann nichts tun, ohne dass die Leute sich fragen, ob er es besser kann.«
»Aber über dich denken sie das nicht«, stellte ich fest.
»Ich bin der auf dem dritten Platz«, sagte er. »Mit großem Abstand, auch vom Alter her. Ich bin der Freak, der von Brücken springt und Steilwände hochklettert. Kein Mensch nimmt mich ernst.« Er sagte es, als wäre er froh darüber.
»Deine Geschwister nehmen dich ernst.«
»Ja, gewissermaßen. Sie wissen, dass sie sich gegenseitig umbringen würden, wenn es mich nicht gäbe.« Er grinste schief.
»Was hat Amelie damit gemeint, dass du hoffnungslos wärst?« Die Worte waren mir im Gedächtnis geblieben.
»Du hast ja wirklich sehr gründlich gelauscht«, meinte Lucien. »Dufort sollte dir ein paar Punkte gutschreiben.«
Ich antwortete nichts, sondern sah ihn nur abwartend an. Er hob die Schultern.
»Wenn man ein Schakal ist, muss man Dinge tun, die … moralisch nicht einwandfrei sind. Amelie glaubt, das wäre schlimmer als ein Leben mit jemandem wie Stella.«
»Aber du glaubst das nicht?«, fragte ich.
»Nein. Was ich für die Schakale tue, kann ich mit mir vereinbaren, weil es einem höheren Zweck dient. Aber abseits davon will ich keine Rolle spielen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich ertrage viel, aber kein Leben, das mich rund um die Uhr zum Lügen zwingt.«
Ich verstand, was er meinte. Und es freute mich, dass ich Teil des Lebens sein durfte, in dem Lucien er selbst sein konnte. Denn auch ich war gerade mehr ich selbst als irgendwann in den letzten Monaten.
»Wie war dein Leben eigentlich früher?«, fragte ich und sah zu dem Foto im Regal. »Bevor deine Eltern gestorben sind?«
»Oha, jetzt kommen die schweren Themen, was? Meine Schwester kann echt die Stimmung killen.« Lucien setzte Dr. Grey ab und schwang dann die Beine auf das Bett. »Erzähl mir lieber etwas über deine Famili
e.«
Ich hob eine Augenbraue. »Weißt du das nicht alles aus meiner Akte?«
»Akten interessieren mich nicht. Ich habe nur deinen Namen nachgesehen.« Das passte zu ihm.
»Es gibt nicht viel zu erzählen.« Ich kuschelte mich neben ihn. »Meine Eltern sind getrennt, mein Vater war Ingenieur, meine Mutter KI-Spezialistin. Ich wohne bei ihm in Brighton, sie lebt in der Nähe von Paris. Wir haben nicht viel Kontakt. Mum ist ziemlich ätzend.« Ich hatte das kaum ausgesprochen, da tat es mir leid. »Entschuldige, das war herzlos. Ich habe nicht daran gedacht, dass deine Mutter …«
»Das macht nichts«, sagte Lucien schlicht. »Nur, weil meine Mutter tot ist, musst du deine nicht mögen.«
»Ja, aber –«
»Nichts aber. Meine Maman war die Allerbeste, und ich vermisse sie, aber das hat nichts mit dir zu tun.« Er lächelte und strich mir eine Strähne aus der Stirn. »Hast du Geschwister?«
»Drei. Fleur und Lion sind die Kinder von Dads Freundin, und wir sind nicht verwandt, auch wenn sie mir auf die Nerven gehen, als wären wir es. Und dann gibt es noch meinen Zwillingsbruder, der mir exakt so auf die Nerven geht, wie Brüder es tun.« Ich rollte mit den Augen.
Lucien lächelte. »Du vermisst sie, oder?«
»Ja, sehr«, seufzte ich. »So ist das mit Geschwistern. Man kann nicht mit ihnen, aber auch nicht ohne sie.«
Er nickte. »Ich weiß genau, was du meinst.«
»Mit dem Unterschied, dass Eneas nicht das Land regiert.«
»Das macht keinen großen Unterschied, glaub mir.« Lucien grinste. »Moment … sie haben ihn Eneas genannt und dich Ophelia? Charmant.«
»Da siehst du, wie gut das Verhältnis zu meiner Mutter ist«, maulte ich.
»Ach, ich bin sicher, dafür mag dein Vater dich lieber.«
»Nein, der ist ziemlich gerecht. Aber Dad und ich haben mehr gemeinsam. Oder hatten es zumindest. Als ich klein war, haben wir viel zusammen entwickelt und konstruiert.«
»Also wolltest du Ingenieurin werden?«
»Früher, ja. Aber das hat sich dann erledigt.« Ich stützte mich auf einen Arm und sah Lucien an. »Was wolltest du werden, als du klein warst?«
»Ach, alles und nichts«, sagte er und strich über meine Wange. »Mir ist jede Woche etwas Neues eingefallen. Extremsportler. Pilot. Architekt. Tester für synthetische Burger. Designer für was auch immer. Ingenieur war allerdings nie dabei.«
»Und was wollten deine Eltern für dich?«
Er antwortete nicht, sondern küsste mich stattdessen und zog mich zu sich. Seine Hände wanderten unter mein Shirt, meine unter seins. Schnell hatte ich nichts anderes mehr im Kopf als die Frage, wie ich es ihm ausziehen sollte, ohne den Kuss zu unterbrechen.
»Ich weiß, was du versuchst«, murmelte ich in einem letzten klaren Moment dicht an seinen Lippen.
»Was denn?«
»Du willst nicht über deine Eltern reden.«
»Und, klappt es?«, fragte er mich wieder.
»Absolut«, antwortete ich atemlos. Dann beschloss ich, dass es Zeit für Plan C war.
26
Ich wachte zufrieden und entspannt auf. Sonnenlicht fiel durch die großen Fenster ins Zimmer, es roch nach frischer Bettwäsche. Die Erinnerung an die letzte Nacht mit Lucien brachte mich zum Lächeln. Aber als ich mich umdrehte, war er nicht da. Wie spät war es?
Ein Rumpeln schreckte mich auf. Etwas Schweres fiel gegen die Tür zum Wohnzimmer und schob sie auf. Ich hörte kratzende Geräusche, dann stolperte jemand ins Zimmer. Es war Lucien. Ein Schrei blieb in meinem Hals stecken, als ich ihn sah. Die linke Seite seines hellen Shirts war dunkelrot, genau wie sein Arm. Ich sprang aus dem Bett.
»Was ist passiert?«, rief ich und packte ihn, damit er nicht zu Boden stürzte. Sein Gewicht zwang mich in die Knie. »Luc, rede mit mir!« Ich riss die Decke vom Bett, um sie auf seine Wunde zu drücken.
»Wie konntest du das tun?« Lucien stöhnte vor Schmerzen. Als er hustete, sprühte Blut auf mein weißes Top. Sein Shirt war nun fast vollständig rot, ein tiefes, dunkles und beängstigendes Rot. Seine Augen waren von Angst überflutet. Es zerriss mir das Herz, ihn so zu sehen.
»Ich habe nichts getan!« Was meinte er? Ich hatte geschlafen und war aufgewacht, sonst nichts!
Luciens Hand krampfte sich zitternd um meine. »Wenn einer fällt …« Er hustete wieder. »… dann fallen wir alle.« Das letzte Wort ging in einem fürchterlichen Röcheln unter. Es war sein letzter Atemzug. Kraftlos sank er aus meinen Armen, die blaugrauen Augen leer und stumpf.
»Nein!« Ich schrie und weinte, schüttelte ihn. Ich musste etwas tun, ich musste ihm helfen! Unsanft legte ich ihn ab, schob sein Shirt hoch – und stockte. Es gab keine Wunde. Die Haut war makellos. Wo kam dann das Blut her? Wie war er gestorben?
Irgendwo hörte ich Schreie und dumpfe Aufschläge, als würde jemand stürzen. Mein Fuß stieß gegen etwas auf dem Boden. Es war eine Schakal-Waffe, blutverschmiert. Als ich sie aufhob, wusste ich, dass es meine war. Aber ich hatte auf niemanden geschossen! Daran hätte ich mich doch erinnert!
Wieder ein lautes Geräusch. Ich stolperte zur Tür und stieß sie ganz auf. Augenblicklich drehte sich mein Magen um. Das Wohnzimmer sah aus wie nach einem Massaker. Überall war Blut, auf dem Boden, an Möbeln, Wänden, sogar den Fenstern – Handabdrücke, Fußabdrücke, Spritzer und Schlieren. Es stank bestialisch nach Kupfer. Aber das war nicht das Schlimmste.
Das Schlimmste waren all die sterbenden Menschen.
Sie lagen auf dem Boden oder dem Sofa, in den unmöglichsten Positionen verrenkt, schon tot oder kurz davor. Alle trugen helle Kleidung. Ich erkannte Liora und Julius, Amelie de Marais und meinen Bruder. Ihre Blicke waren leer, es war längst zu spät. Mein Vater starb in der Sekunde, als ich neben ihm auf die Knie fiel. Auch er hatte keine sichtbare Verletzung.
Ich rappelte mich wieder auf, die Waffe fest umklammert, suchte jemand Bestimmtes. Und da, nahe der Tür lehnte der König an der Wand – blutüberströmt, aber noch bei Bewusstsein. Ich stürzte zu ihm.
»Ophelia!« Er griff nach mir. Sein Blut verteilte sich auf meinen Armen und Händen. Wie ein ekelhaftes Tier kroch es an mir hoch, drang durch meine Kleidung, waberte über meine Haut, warm und nass. Der Gestank brannte in meiner Nase.
»Ich war das nicht!«, rief ich. »Ich habe nicht …« Hatte ich nicht? Ich hielt diese Waffe in der Hand. Es war mein Auftrag, genau das zu tun.
Leopold ließ meine Hände los und schob zitternd sein Hemd auseinander. Er war der Einzige mit einer sichtbaren Verletzung: In seiner Brust klaffte ein Übelkeit erregendes Loch, tief und schwarz. Und plötzlich wurde es mir klar. Ich hatte das getan. Ich hatte ihn erschossen.
Der König sah mich flehend an.
»Du darfst das nicht tun. Es ist das Ende für uns alle.« Er zeigte mit einem Finger auf mein Herz. »Auch für dich.«
Ich schaute an mir herunter, sah, wie unter all dem fremden Blut mein eigenes das Shirt durchtränkte, wie es sich mit dem des Königs mischte, mir in die Kehle stieg und mich erstickte. Ich spuckte und würgte, aber es strömte aus mir heraus, in mich hinein, unaufhaltsam und erbarmungslos. Ich griff nach dem einzigen Halt, den ich hatte. Mir wurde kalt. Gleich war es vorbei.
Das Letzte, was ich sah, war meine Hand, mit der des Königs verschränkt – so fest, als wäre es für die Ewigkeit.
Das Ende für uns alle. Auch für dich.
Mit rasendem Herzen und in Schweiß gebadet, schreckte ich auf. Ich keuchte und rang nach Luft. Es war noch mitten in der Nacht: Trotz offener Vorhänge lag das Zimmer im Dunkeln.
Neben mir erkannte ich Luciens Umrisse im Bett, aber ich hörte nichts. Schnell streckte ich die Hand aus und legte sie auf seine Brust. Er atmete. Zum Glück. Er hatte mir gesagt, nach einem erledigten Auftrag schliefe er immer besonders tief.
Ich weckte ihn nicht, sondern stand leise auf und zog mir etwas an. Dann ging ich ins Bad. Das Licht ging ohne mein Zutun an, ebenso wie das Wasser, als ich meine Hände ins Waschbecken hielt. Ich schaufelte mir etwas davon ins Gesicht, dann kühlte ich meine Handgelenke. Neben dem Becken lagen Handtücher, sorgfältig gestapelt. Ich nahm eins
und sank erschöpft auf den Badewannenrand.
Die Bilder ließen sich noch schwerer vertreiben als beim letzten Mal. Damals war es nur Leopold gewesen, aber diesmal war auf grausame Weise jeder gestorben, den ich kannte. Jeder, bis auf einen. Knox hatte ich nicht gesehen.
Du fängst an, ihn zu vergessen, sagte eine boshafte Stimme.
Das stimmt nicht.
Ach nein? Du hast gerade mit dem Feind geschlafen.
Lucien ist nicht der Feind.
Er ist der Bruder des Feindes. Das macht keinen Unterschied.
Ich vergrub mein Gesicht in dem Handtuch. Es roch nach Lavendel und etwas anderem. Nein, es roch ausschließlich nach Lavendel. Ich bekam nur den Gestank von Blut und Verrat nicht aus der Nase. Der König hatte mich angesehen, als hätte er mir vertraut. Er hatte gesagt, es wäre ein Fehler, ihn zu töten. Das Ende für uns alle.
Ein Albtraum, sagte ich mir. Es ist nur ein schrecklicher Albtraum gewesen, keine Vision. Es gab keine Visionen. Mein Traum hatte nichts mit der Realität zu tun.
Aber trotzdem lag nebenan jemand im Bett, den ich mochte und der mich nicht einfach nur hassen würde, wenn ich diesen Auftrag erfüllte, sondern auch jagen. Lucien war ein Schakal, er würde es herausfinden. Und selbst wenn nicht, würde ich ihn danach nie wiedersehen. Es tat verflucht weh, mir das klarzumachen.
Ruckartig stand ich auf. Wie konnte ich wegen einer einzigen Nacht solche egoistischen Gedanken haben? War ich eines dieser Mädchen, die von einem Prinzen träumten statt von ihrer Freiheit? Nein, so war ich nicht. Aber wenn Leopolds Tod die einzige Lösung war, wieso träumte ich dann so etwas Grausames? Ich setzte mich wieder hin. Mein Blick fiel auf den riesigen Spiegel gegenüber.
Eigentlich hätte ich fertiger denn je aussehen müssen, müde und verschreckt, verwirrt. Aber nichts davon war der Fall. Ich wirkte wach und lebendig, meine Wangen schimmerten rosig, meine Augen leuchteten. Schnell sah ich weg. Ich wollte nicht wissen, was das bedeutete.
Eine Weile saß ich da und überlegte, was ich tun sollte. Verschwinden? Ich würde kaum ohne Luciens Hilfe aus dem Juwel kommen. Weiterschlafen und so tun, als hätte ich diesen Traum nie gehabt? Das konnte ich nicht. Im Badezimmer bleiben, bis der Morgen kam? Lächerlich.