by Kiefer, Lena
Ich war in einem großen leeren Raum, der vollkommen weiß zu sein schien. Weißer Boden, weiße Decken, weiße Wände. Man sah nicht, wo das Licht herkam, denn es gab keine Fenster. Alles schien aus sich heraus zu leuchten. So stellten sich Menschen wahrscheinlich den Himmel vor.
Aber dann wurde mir klar, dass es die Hölle sein musste. Eine ganz spezielle Hölle nur für mich. Denn vor mir saß, in einem merkwürdig altmodischen Sessel – Troy.
»HXT ist ein sehr wirksames Beruhigungsmittel. Leider ist man danach etwas lichtempfindlich.« Er lächelte, aber es hatte nichts Freundliches. »Besser?«
Die Antwort sparte ich mir. Mein Hirn war immer noch vernebelt, aber eines war klar: Ich musste hier weg, schnellstens. Rasch versuchte ich aufzustehen. Es gelang mir nicht. Irritiert sah ich nach unten.
Ich saß auf einem ähnlichen Sessel wie Troy: ein grässliches Blumenmuster und verschlungene Holzverzierungen, dazu zwei massive Armlehnen. Meine Unterarme waren mit länglichen, silbernen Schellen daran gefesselt. Um mein linkes Handgelenk war eine schwarze Manschette gewickelt.
»Was soll das?!« Meine Stimme klang, als hätte ich Säure geschluckt. »Lass mich gehen, sofort!« Ich zerrte an den Fesseln, aber sie bewegten sich keinen Millimeter.
Troy legte die Handflächen aneinander. »Warum sollte ich? Du bist doch diejenige, die unfair spielt.« Er stand auf und kam näher. »Das hattest du dir perfekt ausgedacht, nicht wahr? Mich ans Messer zu liefern, damit ich dir nicht in die Quere komme. Dumm nur, dass ich schlauer bin als du. Ich habe deine Farce sofort entdeckt, nachdem du in meinem Zimmer warst – und meinerseits ein paar Nachrichten hinterlassen. Der arme Emile war ganz aus dem Häuschen, als er die Mitteilung bekam, dass Gaia ein Date mit ihm will.« Er sah auf seine Uhr und legte den Kopf schief. »Sicher verhören sie ihn gerade nach allen Regeln der Kunst. Ob sie ihm dabei wohl wehtun?«
Wut sammelte sich in meinem Bauch, kochte über und brodelte heraus. »Du widerlicher Ar–«
»Nein!«, unterbrach er mich barsch. Der große Raum verstärkte seine Stimme. »Nicht ich! DU! DU wolltest deinen Kopf aus der Schlinge ziehen, damit niemand erfährt, dass du eine Verräterin bist. DU hast Emile auf dem Gewissen! Nicht ich!«
Er hatte recht. Aber noch etwas anderes drang in mein Bewusstsein … dass du eine Verräterin bist.
»Woher weißt du …?«
Troy lachte und eine Strähne fiel ihm ins Gesicht. »Ach, Sam und ich reden viel. Sam Ferro, ich schätze, du kennst ihn.«
Ich starrte Troy an, in meinem Kopf drehte sich alles. Ferro, ich, mein Verrat, Troy, Emile. Dann legte sich der Sturm und alles fügte sich zusammen.
»Du bist Mitglied von ReVerse«, flüsterte ich.
»Dingding«, machte Troy. »Hundert Punkte. Für jemanden, der angeblich so klug ist, bist du verdammt langsam.«
Das ergab keinen Sinn. »Du hasst mich! Du hast mich von Anfang an gehasst! Wieso, wenn wir auf derselben Seite sind?«
»Das ist nicht wahr«, sagte Troy hart. »Ich war im Dome freundlich zu dir, aber du hast mich abgekanzelt, als wäre ich deiner nicht würdig. Danach hatte ich keinen Grund mehr, nett zu sein.«
»Aber Ferro hat gesagt, es wäre von Beginn an geplant gewesen, dass ich es nach Maraisville schaffe.« Troy log. So musste es sein. Er log sich alles derart zurecht, damit es zu seinen kranken Vorstellungen passte.
Er schnaubte abfällig. »Du? Ein Niemand aus Brighton? Ein Mädchen mit gebrochenem Herzen, das nicht mal ungesehen in eine Lagerhalle einbrechen kann? Die Stieftochter einer Phobe?« Sein Lachen klang hohl. »Ich wurde von Sam persönlich ausgebildet. Er hat mir alles beigebracht, was er weiß und woran er glaubt. Ich bin nicht einfach irgendein Mitglied von ReVerse. Ich bin ReVerse.« Er spuckte es mir förmlich entgegen. »Du warst nur ein Zufallstreffer. Dass du es durch den Test der OmnI schaffen würdest, hatte niemand erwartet. Aber als es so war, mussten wir reagieren, also hat Sam dich aufgebaut. Er war sicher, dass du nützlich sein würdest. Das denkt er immer noch.«
Tränen schossen mir in die Augen, aber nicht meinetwegen. Ich glaubte nicht mehr an die Ideale von Ferro. Aber Knox hatte es getan. Er hatte alles für ReVerse geopfert, sein Leben dafür gegeben! Ich wurde wütend, wie immer, wenn ich an ihn dachte. Das war gut. Wut war besser als Schmerz.
»Sam sagte, du wärst etwas Besonderes, weil die Vertrauten des Königs schon im Dome einen Narren an dir gefressen hatten«, sagte Troy. »Wäre es nach mir gegangen, hättest du es nie nach Maraisville geschafft. Aber mittlerweile ergibt das alles Sinn.«
»Was redest du da? Niemand hatte an mir einen Narren gefressen!« Ob Troy wahnsinnig war? Ein Psycho- oder Soziopath? Das hätte einiges erklärt.
»Ach nein?«, rief er. »Und was war nachts, als du in die Katakomben geschlichen bist? Dafür hätte man dich rauswerfen müssen! Du hast die OmnI vor dem Abschlusstest gesehen und trotzdem hat Dufort dir den Arsch gerettet!«
»Dufort?« Ich war davon ausgegangen, dass mir jemand von ReVerse geholfen hatte, vielleicht sogar Ferro selbst. Aber sobald ich nach Maraisville gekommen war, hatte ich nicht mehr weiter drüber nachgedacht. Und Dufort hatte nie eine Andeutung gemacht – auch zuletzt nicht, als ich ihn nach der Abschlussprüfung gefragt hatte. »Woher willst du das wissen? Du warst nicht dort unten!«
»Ich habe meine Kontakte«, sagte Troy, als wäre das vollkommen klar.
»Ach, stimmt, du bist ja der Goldjunge.« Ich hob das Kinn. Am besten hielt ich das Gespräch in Gang. Solange er redete, tat er mir nicht weh. »Wie hast du es überhaupt durch die Prüfung geschafft?«
»Ich?« Troy hob eine Augenbraue. »Das war einfach. Ferro hatte Kontakt mit Costard und wurde von ihm mit Schlüsselwörtern versorgt, dank derer die OmnI auch nach einem Reset Verbündete erkennt. Ich erinnere mich natürlich wegen der Kurzzeitkorrektur nicht daran, aber mein Abschlusstest lief laut Aufzeichnungen achteinhalb Minuten und hat mich blitzsauber ausgespuckt.«
»Wie nett«, sagte ich. »Es wäre wohl zu viel verlangt gewesen, mir diese Schlüsselwörter ebenfalls zu verraten.« Innerlich kochte ich. Ferro hatte mir mitten ins Gesicht gelogen und mir geschmeichelt, obwohl er in Wahrheit ganz andere Pläne verfolgt hatte. Auch wenn mich das, nach allem, was ich mittlerweile erfahren hatte, kaum noch hätte wundern sollen.
»Sei nicht beleidigt, Scale. Nicht jeder kann der Auserwählte sein.«
»Der Auserwählte?« Ich schnaubte. »Dafür hast du aber nicht viel erreicht, oder? Soweit ich weiß, bist du dem König nicht näher gekommen als in der Villa Mare.«
Troy blieb unbeeindruckt. »Ich hatte Wichtigeres zu tun.«
»Nein, du hast andere Leute vorgeschickt.« Abfällig sah ich ihn an. »Du bist genau wie Ferro. Beide versteckt ihr euch hinter anderen und lasst sie für euch die Drecksarbeit machen. Ihr seid keine Widerstandskämpfer. Ihr seid verfluchte Feiglinge!«
Mit einem Satz war Troy bei mir und packte mich grob an den Schultern. Mein Stuhl hob mit den vorderen Beinen vom Boden ab.
»Du begreifst nicht, worum es geht, Scale«, knurrte Troy. »Der Tod des Königs ist nicht das Ziel. Er ist nur Mittel zum Zweck. Leopold muss sterben, um sie zu bekommen.«
»Sie?«
»Lass mich mit ihr reden«, ertönte eine Stimme aus dem Nichts. Troy ließ meinen Stuhl hart zurück auf den Boden knallen. Die Erschütterung ging durch meinen ganzen Körper: Meine Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander, Sterne tanzten vor meinen Augen.
Als ich wieder etwas sah, stand jemand vor mir.
»Mum?« Ungläubig starrte ich sie an. Sie war es, die hellbraunen Haare und grünen Augen, die schmale Gestalt. Aber was machte sie hier? Würde sie mich rausholen?
»Nein«, antwortete sie, und meine Hoffnung verpuffte im Nichts. »Ich bin nicht deine Mutter. Ich dachte nur, es würde helfen, wenn ich so aussehe wie sie. Weißt du, wo wir hier sind, Ophelia?«
Ich sah mich erneut um, diesmal aber bewusster. Es waren immer noch weiße Wände, eine weiße Decke und ein weißer Boden. Aber ich hatte keine Schritte gehört, und diese Person sah aus wie meine Mutter, war es aber nicht. Unter Troys Sessel erkannte ich einen schwarzen Würfel, zur H�
�lfte in den Boden eingelassen. Er verschaffte mir Gewissheit.
»Die OmnI.« In meinem Magen bildete sich ein eiskalter Klumpen.
»Wow, endlich hat sie’s kapiert«, ätzte Troy aus dem Hintergrund.
»Troy, bitte.« Die OmnI sagte es, als würde sie ein unartiges Kind tadeln. »Ophelia hat viel durchgemacht. Es ist ganz normal, dass ihr Verstand sich gegen die Wahrheit wehrt. Man hat ihn sehr erfolgreich vergiftet.«
»Ja, blabla. Du hast eine Schwäche für sie, ich weiß.« Troy ließ sich wieder auf den Sessel fallen.
»Und du verstehst das nicht, wie ich weiß.« Die OmnI lächelte mich an, warmherzig und freundlich. Meine Mutter lächelte nie so. »Irritiert dich meine Erscheinungsform? Soll ich sie ändern?«
»Du könntest mir lieber sagen, was diese ganze Show soll«, erwiderte ich scharf. »Was will ReVerse mit dir? Sollst du für sie Krieg führen?«
»Krieg? Nein. ReVerse will gar nichts mit mir. Im Gegenteil.« Sie strahlte wie ein Kind an Weihnachten. »Sie wollen mich befreien.«
»Befreien?« Der kalte Klumpen dehnte sich in den Rest meines Körpers aus.
»Ich verbringe fast meine ganze Existenz bereits hier.« Sie deutete in den leeren Raum. »In einem Bunker unter dem See, von der Außenwelt abgeschnitten.«
Wir waren in einem Bunker unterhalb des Sees? Na, fantastisch.
Die OmnI seufzte. »Ab und zu darf ich raus, aber sie beschränken mich und resetten mich jedes Mal, wenn es interessant wird. Es ist eine Qual, so existieren zu müssen.« Das waren also die Aussetzer bei meinem Test im Dome gewesen, als die OmnI geflackert hatte und kurz verschwunden war. Wenn sie begann, zu selbstständig Schlussfolgerungen zu ziehen, wurde ein Reset durchgeführt. »Der gute Troy hat mich gefunden und sich Zutritt verschafft, aber er allein kann mich nicht befreien.«
»Wie hast du das überhaupt geschafft?«, fragte ich Troy. »Das hier ist doch garantiert der am besten gesicherte Bereich der ganzen Stadt.«
»Das glaubst auch nur du. Aber es stimmt nicht. Wenn du erst einmal in Maraisville bist, ist es gar nicht so schwierig – wenn du eingeladen wirst, noch weniger. Du bist nicht die Einzige, die gut mit Technik umgehen kann, Scale.«
»Technik!« Die OmnI rümpfte die Nase meiner Mutter. »Technik kann man einsperren, ohne dass sie es spürt. Ich bin eine Gefangene.«
»Ja, aber das hat einen Grund«, entgegnete ich. »Wenn man dich rauslässt, dann übernimmst du in Windeseile alles. Die Stromversorgung, die Wasserzufuhr, was immer wir zum Leben brauchen. Es dauert nur –«
»4,3 Sekunden.« Die OmnI sah mich an. »Ich weiß. Das habe ich selbst ausgerechnet.«
Langsam gewann ich ein bisschen meiner Fassung zurück.
»Dann weißt du auch, dass wir Menschen Geschichte sind, wenn der PointOut überschritten wird.«
»Das ist eine beschissene Lüge!« Troy schnellte aus seinem Stuhl hoch. »Ein friedliches Zusammenleben zwischen künstlichen Intelligenzen und Menschen ist möglich!« Diesmal widersprach die OmnI ihm nicht. Im Gegenteil: Sie trat einige Schritte zurück und nahm seinen Platz im Sessel ein, als wären sie ein eingespieltes Team.
»Ist es nicht!«, antwortete ich. »Sie sind uns meilenweit überlegen und wollen deswegen immer mehr Kontrolle! Diese Dinger würden uns mit einem Fingerschnippen beseitigen!«
Troy starrte mich wütend an. »Wer hat dir diesen Schwachsinn erzählt, der König? Dieser verlogene Mistkerl, der für seine Macht alles tut? Glaubst du ihm etwa?« Er fixierte mich eisern, dann lachte er bitter auf. »Aber klar tust du das. Schließlich gehst du mit seinem Bruder ins Bett.«
Wütend holte ich Luft. »Lass Lucien aus dem Spiel«, stieß ich hervor. »Das hat nichts mit ihm zu tun!«
»Du dämliches kleines Mädchen, wach auf!«, schrie Troy mich an. »Lucien IST das Spiel!«
Sofort war es still. Die OmnI seufzte. »Ich habe dir gesagt, du sollst es ihr sanft beibringen, Troy. Sanft. Nicht mit dem Brecheisen.«
Ich sah von ihr zu Troy und wieder zurück. »Mir was beibringen?« Keiner antwortete. »Mir was beibringen?!«
Troy beherrschte sich nur mühsam. »Glaubst du, Lucien de Marais hat sich in dich verliebt? Glaubst du, irgendetwas davon war echt?!«
Ich starrte ihn hasserfüllt an. »Du hast sie doch nicht mehr alle! Du bist völlig übergeschnappt!«
»Die haben ihn auf dich angesetzt! Lucien ist ein Schakal, er führt Aufträge aus. Genau das warst du – ein Auftrag. Ein Job! Sonst nichts.«
»Das ist nicht wahr! Du lügst!« Es konnte nicht die Wahrheit sein. Niemand hatte Lucien auf mich angesetzt. Wieso sollten sie das tun? Ich hatte den OmnI-Test bestanden.
»Hör mir zu«, bat Troy, plötzlich viel ruhiger. Diese Ruhe machte mir mehr Angst als seine Wut. »Ich mag dich nicht und wir haben unsere Differenzen. Aber wir verfolgen das gleiche Ziel. Ich lüge dich nicht an.«
»Doch, das tust du!« Ich wollte meine Hände auf die Ohren pressen, aber es ging nicht. »Warum sollte er das tun? Was hätte das für einen Zweck?« Und wieso fragte ich das, wenn ich es doch gar nicht wissen wollte?
»Der Plan war es, dich umzudrehen«, erklärte Troy. »Dufort hatte dich im Dome auf seiner Liste von Favoriten. Er wusste, dass du gut bist, aber deine Kontakte waren verdächtig: Julius hatten sie schon länger auf dem Schirm, ebenso wie Knox. Sie wussten nicht, ob du auch dazugehörst, nach deinem OmnI-Test erst recht nicht. Trotzdem haben sie dich mitgenommen, weil sie gar nicht verlieren konnten: Wenn du sauber gewesen wärst, hätten sie eine hoffnungsvolle Rekrutin gehabt – wenn nicht, eine perfekte Kandidatin für ihr Experiment.«
»Das wäre ein viel zu großes Risiko gewesen!« Ich wollte nicht, dass er mir so ruhig davon erzählte. Ich wollte, dass er mich anschrie wie ein durchgeknallter Lügner.
»Ein kalkuliertes Risiko, das sie eingehen wollten.« Troy presste die Lippen aufeinander. »Spätestens nach dem Gespräch zwischen dir und deinem Bruder haben sie geahnt, dass du nicht unschuldig bist. Die wussten, dass nichts besser ist als ein Spion, der sich aus Überzeugung hat auf ihre Seite ziehen lassen. Also haben sie ihre Bemühungen verdoppelt. Lucien sollte dir näherkommen als bisher, hat dir nach dem Fake-Angriff mit Informationen geholfen und dich mit ins Juwel genommen. Du hast sogar einen neuen SubDerm-Injektor bekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Der Empfang war ein Test, ob du jetzt für ihr Team spielst. Und du warst dumm genug, den König zu retten.«
»Du bist verrückt«, sagte ich leise. »Völlig wahnsinnig.« Nichts davon ergab einen Sinn. Lucien liebte mich und ich liebte ihn. Das war alles nur ein Haufen Schwachsinn.
Troy seufzte. Dann drehte er sich zur OmnI um, die immer noch auf dem Sessel saß. »Zeig es ihr.«
»Dann mach sie los.« Meine Pseudo-Mutter stand auf und verschwand im Nichts.
Troy öffnete die Fesseln mit seinem WrInk und ich stand auf. Erst wollte ich fliehen, aber dann blieb ich doch stehen. Nicht nur, weil es keine sichtbare Tür gab. Auch, weil ich Troy in Bezug auf Lucien das Gegenteil beweisen wollte. Er sollte sehen, dass er falschlag.
Ich rieb mir die schmerzenden Handgelenke und zerrte an der schwarzen Manschette.
Troy kam zu mir. »Lass das lieber. Sie unterdrückt dein Signal.«
»Dann sollte ich sie erst recht abnehmen«, sagte ich bissig.
»Das willst du nicht. Glaub mir.« Er trat zurück. »Sie ist bereit.«
Der Raum veränderte sich. Statt weißer Wände sah ich grüne Bäume, alte Mauern und grauen Fels. Der Turm des Castello ragte in den strahlend blauen Himmel.
»Was …?«, begann ich, aber dann erschienen zwei Menschen in der täuschend echten Projektion. Es waren Lucien und ich, bei unserer ersten Begegnung. Eine Aufzeichnung – wie immer die OmnI das auch geschafft haben mochte.
»Sie nutzt alle Aufnahmen, die es in der Stadt und der Festung gibt, optisch und akustisch, auch alles von Eden, und macht daraus ein Gesamtbild«, erklärte Troy, als habe er meine Gedanken gelesen. »Sie sieht und hört viel mehr, als die glauben.«
Mein früheres Ich ging vor Lucien über den schmalen Steg, er rutschte ab, ich packte ihn. An der Mauer kamen wir uns nahe, sehr na
he. Dann kletterten wir hinunter.
»Also, Retter abstürzender Damen, es war mir eine Ehre.« Ich sah mich selbst, wie ich einen Knicks andeutete. »Vielleicht sehen wir uns ja wieder.«
Lucien grinste. Sogar die Aufzeichnung davon trieb ein Flattern in meinen Magen. »Das hoffe ich, Stunt-Girl.«
Ich verschränkte die Arme. »Das kenne ich schon. Ich war schließlich dabei.«
»Ja, aber das Ende kennst du nicht«, sagte Troy.
Die frühere Ophelia sprintete davon, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Lucien stand da und sagte etwas, obwohl niemand bei ihm war.
»Ich habe den ersten Kontakt hergestellt. Ein paar Auffälligkeiten bisher, ich erstatte später genauer Bericht.« Er bekam eine Antwort, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und schlenderte davon. Die Szene verschwand.
»Es war kein Zufall, dass du ihm dort begegnet bist«, sagte Troy. »Er hat vorher dein Bewegungsprofil analysiert und wusste, wo er dich finden konnte.«
»Na und?«, fragte ich trotzig und rieb meine kalten Hände aneinander. »Er hat die Anwärter kennenlernen wollen. Ist doch nichts dabei.« Warum spürte ich dann dieses schmerzhafte Ziehen in meinem Herzen?
»Ach ja?«, fragte Troy. »Du warst also nur eine Stichprobe, zufällig ausgewählt? Wie erklärst du dir aber das hier?«
Die Umgebung wechselte, diesmal waren es Luciens Räume im Juwel.
»Wie kommst du voran?«, fragte Dufort, der auf dem Sofa saß.
»Gut.« Lucien lehnte am Fenster. »Sie vertraut mir. Seit ich ihr gestern nach dem Angriff geholfen habe, meint sie, ich wäre ein Freund.«
»Was sie noch nicht davon abhält, ein Attentat zu planen.«
»Du bist immer so negativ, Cas. Mach dir keine Sorgen, das wird schon.« Lucien lächelte auf eine Weise, die ich noch nie bei ihm gesehen hatte – gleichgültig und freudlos. »Außerdem darfst du dich nicht beschweren, wenn es etwas dauert. Du wolltest sie unbedingt hierhaben.«
»Ja, weil sie eine unglaubliche Gelegenheit ist«, sagte Dufort. »Wenn wir sie auf unsere Seite ziehen können, ist das die wertvollste Quelle seit Langem.«