by Nikola Hotel
Ich warf einen hilflosen Blick zu Lara, doch auch sie wirkte alles andere als gnädig. »Du hast doch diesen Antrag gestellt, von dem du uns erzählt hast?«
Sakra! Ich Idiot hatte ihnen davon auch noch erzählt? Wieso konnte ich nicht mal die Klappe halten, wenn es darauf ankam?
»Es ist so, dass … also man könnte sagen …« Nun spuck es schon aus, Isa!
Ich holte tief Luft. »Man könnte sagen, dass ich … also … Ich wurde exmatrikuliert.«
»Du wurdest exmatrikuliert«, wiederholte Marek. Sein Deutsch war wirklich super, doch nun sah er aus, als hätte er keine Ahnung, was das genau bedeutete.
»Heißt das, sie haben dich rausgeschmissen?«, fragte Lara.
»Nein, natürlich nicht. Das heißt eigentlich nur, dass ich nicht weiter Biologie … Also, ja! Sie haben mich rausgeschmissen. Ich wurde zwangsexmatrikuliert, weil ich eine Frist überschritten habe. Es war nicht wirklich vorgesehen, dass ich noch ein weiteres Semester pausiere, und ich hätte einen schriftlichen Antrag einreichen müssen. Bis vorgestern.«
»Und eine akute Amputation deines Gehirns hat dich davon abgehalten, oder wie?«, blaffte Marek.
Okay, das war jetzt nicht ganz so nett von ihm. »Wenn du mich so anschreist, dann hätte ich auch gleich mit meinem Vater telefonieren können, verdammt!«, fauchte ich ihn an. »Was glaubst du denn, warum ich nicht an mein Handy gehe? Seit gestern sind bestimmt fünfzig Nachrichten von ihm eingegangen. Ich wette, dass er meine Post von der Uni geöffnet hat. Und jetzt bin ich …« Ich überlegte, wie ich es am besten formulieren sollte, doch Marek kam mir zuvor:
»Du bist am Arsch.«
Ich seufzte. »Ganz genau. Ich bin am Arsch.«
»Ach, Isa.« Lara nahm mich in den Arm und knuffte mich liebevoll in die Seite. »Warum hast du denn nichts gesagt? Wir hätten dir doch bei diesem Antrag helfen können. So wahnsinnig viel Arbeit hätte der ganz sicher nicht gemacht.«
Das Schlimme war, dass sie damit vollkommen recht hatte. Ich hatte das Ganze mehr oder weniger bewusst hinausgezögert. Verdrängt. Verschleppt. Was auch immer. Die Vorstellung, mein Studium in Köln wieder aufzunehmen und hier alles zurückzulassen, war ein Albtraum für mich. Ich konnte nicht zurück. Nicht jetzt. Und wenn ich genau darüber nachdachte, dann eigentlich nie. Der Antrag hätte mich allenfalls über das nächste halbe Jahr gerettet, doch was wäre danach gewesen?
»Ich weiß«, sagte ich, und es klang so jämmerlich, als hätte ich das alles nicht selbst unter Kontrolle. »Und ich kann nicht einmal hier weiterstudieren, weil ich das sprachlich nicht schaffe. Ganz abgesehen davon, dass dieses Fach für mich nun völlig gestorben ist.«
»Was willst du jetzt anstellen?«
»Als Erstes würde ich gerne einfach diese Hütte wieder aufbauen, wenn das geht.« Ich versuchte, tapfer zu klingen, aber stattdessen hörte ich mich wie ein Volltrottel an, der der Wahrheit nicht ins Auge sehen konnte. »Macht euch keine Sorgen. Das alles war zu viel. Nikolaus’ Vater … Ich kann nicht so tun, als wäre das Leben normal, als würde alles so weiterlaufen wie bisher. Nichts ist mehr normal, und alles, was bisher für mich Gültigkeit hatte, zählt nichts.«
»Ich verstehe, was du meinst«, flüsterte Lara in mein Haar. Über ihren Kopf hinweg sah ich, wie Marek mit seinem Zeigefinger erst kreisende Bewegungen neben seiner Schläfe machte und sich dann an die Stirn tippte. Er hätte sich mit meinem Vater sicher gut verstanden, dachte ich und warf ihm einen grimmigen Blick zu.
»Ich warte darauf, dass Alexej sich meldet. Lasst mich einfach arbeiten, ja? Lara, du hast doch bestimmt irgendeine unangenehme Aufgabe für mich.«
»Du bist eigentlich noch im Urlaub«, erinnerte Marek mich, während er nach der Kanne griff, die vor ihm auf dem Tisch stand und sich eine Tasse viel zu starken Kaffees einschenkte. »Willst du auch einen?«
»Du weißt doch, dass Isa keinen Kaffee mag.« Seine Frau schob mich aus dem Zimmer. Im Flur raunte sie mir ein »Achte einfach nicht auf sein Geschwafel« zu. »Er ist nur so streng, weil er dich wirklich gerne mag.«
»Ich weiß.«
»Das liegt bestimmt daran, dass wir keine Kinder haben«, seufzte sie und stieß die Tür zu ihrem Büro auf.
Ich unterdrückte ein Grinsen. Das war schließlich genau das, was Marek auch über Lara gesagt hatte. Aus einer Laune heraus griff ich Mareks Bemerkung dazu auf und sagte: »Vielleicht solltest du ihm einen Hund kaufen.«
»Du meinst, damit er jemanden hätte, den er ungeniert herumkommandieren kann?« Ihre Augen begannen zu leuchten. »Das ist gar keine so blöde Idee.«
Innerlich streckte ich Marek die Zunge heraus. Er würde schon sehen, was er davon hatte. »Bitte sag mir, dass du mir irgendeine stupide Arbeit aufbrummen kannst. Ich ordne auch gerne irgendwelche Papiere, sortiere die Post oder schrubbe alte Geräte. Von mir aus kannst du mich auch dazu verdonnern, die Küchenschränke zu putzen, ganz egal.«
»Wie will Alexej eigentlich mit Wassilij Kontakt aufnehmen, wenn er den Jungvogel hat?«
Ich seufzte. Das war ein weiterer Punkt auf meiner Liste der Dinge, vor denen mir graute. »Über Nikolaus. Und das gefällt mir gar nicht. Wir sollten ihn da nicht involvieren, schließlich hat er kleine Kinder, aber er ist der Einzige, bei dem es uns ungefährlich erscheint.«
Lara brummte etwas Zustimmendes. Ihre Aufmerksamkeit wurde offenbar von einer eingehenden E-Mail abgelenkt, die auf dem Bildschirm aufpoppte. »Weißt du was, Isa? Was hältst du davon, wenn du auf dem anderen Rechner die Speicherkarten auswertest, die ich gestern ausgetauscht habe? Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, und Roman aus dem Labor schickt mir seit ein paar Tagen ganz kuriose Fragen zu unseren Blutproben. Ich muss ihn unbedingt mal anrufen.«
Roman, verflixt! Er hatte mir doch versprochen, dass er keine blöden Fragen stellen würde, und vor allem, dass er sich mit meinen Proben nicht an Lara oder Marek wenden würde, sondern das Ganze unter uns bliebe. »Soll ich das vielleicht übernehmen?«, fragte ich hastig. Es war zwar nicht tragisch, wenn Lara Daten zu Alexejs Blutproben erhielt, jetzt, wo sie von seinem Rabenwesen wusste, aber ich hatte trotz unseres Gesprächs das Gefühl, dass sie es nicht so recht ernst nahm. Es war immer noch etwas anderes, wenn man jemandem davon erzählte, als wenn derjenige es mit seinen eigenen Augen sah.
»Nein, lass mal. Ich weiß, du verstehst dich gut mit ihm, aber ich habe da auch noch was zu klären, was einige Abrechnungen betrifft. Manchmal glaube ich, sie denken, wir würden nie unsere Rechnungen überprüfen. Ständig tauchen neue Posten auf.« Mit einem Schnalzen griff sie sich das schnurlose Telefon und schob mir dann eine Schachtel mit Klarsichtfolien in den Arm.
Doch vielleicht betrafen Romans Fragen gar nicht die Proben selbst, sondern nur einen Kostenfaktor. Das war gut möglich, also sollte ich nicht gleich in Panik ausbrechen. Roman war immer sehr zuverlässig. Wenn er etwas Spannendes entdeckt hätte, dann hätte er mich schon längst angerufen. Allerdings sollte ich dann wenigstens auch mal auf mein Handy sehen, wenn es klingelte. Himmel, vielleicht waren die Dutzenden Nachrichten gar nicht von meinem Vater, sondern von Roman?
Lara lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und wippte auf ihrem seltsamen Noppenkissen, das ihr das lange Sitzen erleichtern sollte. Ich fand das Teil höllisch unbequem und käme mir vor wie ein Fakir, wenn ich darauf sitzen müsste. Während Lara darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde, nickte sie mir aufmunternd zu.
Ich glitt auf den Drehsessel und blätterte mehr zur Tarnung durch die beschrifteten Folientütchen. Auf jeder einzelnen Tüte war notiert, aus welcher Fotofalle sie stammte und wo genau diese platziert war. Lara hatte ein Markierungssystem dafür entwickelt, das ich nicht wirklich durchschaute. Für mich waren es Hieroglyphen, was aber auch daran liegen konnte, dass sie alles auf Tschechisch beschriftete.
Immer mit einem Auge auf Lara gerichtet, zog ich den dazugehörigen Aktenordner aus dem Unterschrank und rollte mit dem Stuhl zurück an den Schreibtisch.
Lara hatte endlich jemanden erreicht und tauschte auf Tschechisch fröhliche Begrüßungsformeln aus. Mir pochte das Herz bis zum Hals. Ich klappte den Deckel des Ordners auf
und sah als Erstes die letzten Bilder von unserem Luchskuder Peter. Die letzten Bilder, auf denen er noch lebendig gewesen war. Ich erkannte ihn sofort an seinen typischen Fellflecken, dann erst sah ich die Beschriftung darüber, auf der sowohl Datum als auch Uhrzeit notiert worden waren. Vor etwas mehr als zwei Wochen hatte er noch gelebt, hatte eine Zukunft vor sich, vielleicht Nachwuchs, eine eigene Familie, und dann war es mit einem unbedachten Schritt auf der Straße vorbei.
Lara lachte über etwas. So weit, so gut. Das klang immer noch eher danach, als tauschten sie und Roman Erlebnisse vom letzten Wochenende aus. Oder Kochrezepte. Mit einem Seitenblick sah ich, dass Lara sich ein paar Notizen machte.
Ich nahm die erste SD-Karte aus einer der Tütchen und schob sie in das Lesegerät. Auf dem Bildschirm tauchte eine ganze Reihe von Fotos auf, die meisten davon waren in der Dämmerung aufgenommen. Das war nicht ungewöhnlich, weil Wildtiere zu den Zeiten vermehrt unterwegs waren, an denen nicht mit Wanderern zu rechnen war. Die Kameras waren alle an Plätzen installiert, die häufig von ihnen frequentiert wurden, weil sie zu einer Wasserstelle führten oder auch zu Plätzen, an denen große Beutetiere lagen, an denen noch mehrere Tage gefressen wurde. Denn dann lohnte es sich, auch dort kurzfristig eine anzubringen.
Ich schloss den Drucker an. Brummend setzte sich das Gerät in Bewegung und spuckte die ersten Fotos auf das Papier. Ich übertrug Laras Markierung von der Speicherkarte auf das Foto und heftete sie nacheinander ab. Manche Bilder waren unbrauchbar, weil lediglich ein Paar leuchtender Augen darauf zu sehen war. Leuchtende Augen auf einem Bild, das eine grellgrüne Farbe hatte wie eine Flasche Absinth. Manchmal konnte man lediglich am Rand des Fotos noch erkennen, wer da vorbeigehuscht war. Kleine Säuger waren weniger interessant. Spannend wurde es, wenn einer unserer Luchse oder vielleicht sogar ein Wolf oder Elch darauf zu erkennen war, doch auf den meisten Fotos handelte es sich nur um eine Fledermaus, die ins Bild geriet, oder ein über den Boden wieselnder Marder, je nachdem, wie empfindlich der Sensor eingestellt war. In seltenen Fällen auch mal ein Tourist, was bei uns dann zu anhaltendem Gelächter führte.
Laras Stimme klang auf einmal wesentlich sachlicher, und ich spitzte die Ohren. Aber sie sprach verflixt noch mal so schnell, dass ich wirklich nur das ein oder andere Wort aufschnappen konnte. Havran für Rabe oder pták für Vogel fiel jedenfalls nicht.
Seufzend schob ich die nächste Speicherkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz. Der Computer hatte schon ein paar Jahre auf dem Buckel und war dementsprechend langsam im Herunterladen der Fotodateien. Ich sah gar nicht erst auf den Bildschirm, sondern speicherte die Datei nur im richtigen Ordner ab und druckte sie zusätzlich aus. Hoffentlich kam Alexej bald zurück, betete ich, während ein Foto nach dem anderen in der Ablage des Druckers landete. Und hoffentlich konnten sie den weißen Jungvogel einfangen, und es gab keine Schwierigkeiten mit der Rabenmutter. Oder mit Sergius. Das war immerhin eine mögliche Komplikation, wenn auch keine sehr wahrscheinliche.
Das nächste Blatt wurde vom Drucker schleifend eingezogen. Mein Blick haftete auf dem Papier, das sich nun langsam mit Druckerfarbe füllte und Zentimeter für Zentimeter ruckelnd zum Vorschein kam. Dieses war mehr grau als grün, und ich entdeckte darauf gleich zwei glühende Augen, weil das Tier offenbar vom Blitz aufgeschreckt direkt in die Kamera gesehen hatte. Die Haltung kam mir seltsam gekrümmt vor.
Lara nahm den Hörer vom Ohr. »Isa, Roman sagt, du sollst ihn unbedingt heute Abend anrufen. Aber nicht vor sechs, denn er wartet noch auf ein Ergebnis.« Sie sprach wieder etwas auf Tschechisch in die Hörmuschel, aber ich war von dem Foto, das inzwischen vollständig aus dem Drucker geschoben worden war, völlig gefesselt. Es stand auf dem Kopf, und vielleicht war es das, was mir das Tier darauf so kurios erscheinen ließ.
Das ist doch kein normales Fell, überlegte ich, als ich das Blatt vom Stapel herunterzog und umdrehte.
»Ja«, sagte ich und hatte dabei einen Frosch im Hals. Meine Konzentration war ausschließlich auf das Foto gelenkt. »Sag Roman, ich rufe ihn … nachher an.« Meine Finger, die das Blatt hielten, begannen unkontrolliert zu zittern. Alexej würde den weißen Raben ganz sicher nicht finden, das wusste ich nun. Er konnte den weißen Raben gar nicht finden! Und die volle Tragweite dessen, was ich da entdeckt hatte, tröpfelte nur äußerst langsam und wie in Zeitlupe in mein Gehirn.
RABENKIND
ISABEAU
»Was ist? Hast du was Interessantes entdeckt?« Lara hatte aufgelegt und das Telefon auf den Schreibtisch geworfen. Sie stieß sich vom Tisch ab, und als ihr Stuhl neben mich rollte, warf sie einen Blick über meine Schulter. Meine Finger hielten den Ausdruck so fest in der Hand, dass er sich spannte und beinahe zerriss.
Ich dachte wirklich, ich hätte in letzter Zeit genug Dinge erlebt, die an meiner Wirklichkeit kratzten, aber dieses Foto war einfach nur schauderhaft. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nicht etwas so Grausiges gesehen.
»Isa!«, keuchte Lara auf und wollte mir das Foto aus der Hand nehmen, aber ich konnte meine Finger nicht davon lösen. Ich war wie hypnotisiert, von diesem makabren Bild völlig gefesselt. Lara stieß einen Entsetzensschrei aus, dann rüttelte sie mich an den Schultern.
»Oh Gott, Isa, wir müssen die Polizei rufen.«
Langsam bewegte sich mein Kopf zu einem Nein.
Laras Stimme schraubte sich nach oben. »Wir müssen die Polizei rufen! Jetzt bleibt uns gar nichts anderes übrig. Das ist doch kriminell, wir können nicht so tun, als hätten wir nichts davon gewusst.«
»Nein«, flüsterte ich. War mir aber selbst nicht sicher, ob das eine Reaktion auf Laras Aussage war oder doch viel mehr ein Ausdruck meiner eigenen Fassungslosigkeit. Ja, ich hatte schon einmal an diese Möglichkeit gedacht, aber eher abstrakt und eigentlich auch nur in einem Versuch, mich mit Galgenhumor über Alexejs Wandlungsfähigkeit hinwegzutrösten. Das hier war in meinen Gedanken das Beispiel dafür gewesen, dass es auch schlimmer hätte kommen können.
»Ich weiß, dass du Alexej und seinen … Schwarm schützen willst«, begann sie. »Aber wir müssen jetzt scharf nachdenken, was das hier für Konsequenzen hat. Isa, hörst du mir überhaupt zu?«
Ich nickte, weil ich ihre Worte hörte, nur der Sinn erschloss sich mir nicht. Das hier auf dem Foto war kein Tier. Mein Gott, das hier war kein Tier!
Wäre ich gläubig wie Alexej, wäre das garantiert der Zeitpunkt gewesen, an dem ich mich bekreuzigt hätte. Aber ich war nicht gläubig, und deshalb konnte ich nur hilflos auf dieses Blatt starren und spüren, wie sich mir der Magen umdrehte.
Das Foto war in der Nacht vor zwei Tagen aufgenommen worden. In der Nacht, als wir noch in Český Krumlov gewesen waren. Es zeigte ein am Boden liegendes Rotwild, vermutlich von einem Luchs erbeutet. Die Farben waren in ein geisterhaftes Graugrün getaucht. Darüber beugte sich eine dürre Gestalt, die mehr Ähnlichkeit mit einem Tier hatte als mit einem Menschen. Aber es war kein Tier. Das Wesen hatte offenbar gerade erst seine Zähne in das faulige Fleisch geschlagen, denn der Mund war rundherum blutverschmiert. Ich konnte es aufgrund der Farbe nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es konnte einfach nichts anderes bedeuten.
Es hatte den Kopf angehoben, und die Wangenknochen stachen deutlich daraus hervor. Kindliche Augen blickten leuchtend in die Kamera wie blinde, seelenlose Flecken. Weißblondes Haar fiel struppig über die nackten Schultern. Es war so mager, dass man unwillkürlich an Bilder von Konzentrationslagern aus dem Zweiten Weltkrieg erinnert wurde.
»Oh Gott, das arme Kind!«, jammerte Lara. »Wie kommt denn ein so kleines Kind mitten in der Nacht allein in den Wald? Es kann doch nur …« Sie stockte.
»Es ist ein Rabe.« Ich nickte. »Das muss Sergius’ Nachwuchs sein.« Meine Gedanken rasten, drehten sich wie ein Karussell um die Naturgesetze, die ich kannte, die aber keinerlei Gültigkeit mehr besaßen. »Keiner von uns hat gewusst, dass das passieren könnte, wirklich! Aber ich glaube, dass Alexej so was befürchtet haben muss. Er war von Anfang an dagegen, Wassilij den weißen Raben zu geben. Er muss es geahnt haben.«
»Wir können das Kind nicht allein da draußen herumlaufen lassen, das wäre absolut fahrlässig.«
»Trotzdem können wir nicht die Polizei rufen.«
»Es wäre aber das einzig Richtige. Isa, es geht jetzt nicht mehr nur um den Schwarm oder um Alexej. Das sind doch alles erwachsene Männer. Hier geht es um ein Kind!« Sie fuhr sich durch das wirre Haar und rieb sich danach über die Stirn.
Auch ich bemerkte, dass ich Kopfschmerzen bekam. Entsetzliche Kopfschmerzen.
»Was wir brauchen, ist eine Suchmannschaft, Spürhunde, einen Rettungswagen. Sieh sie dir doch an! Sie ist völlig unterernährt.«
»Wir werden sie auch ohne die Polizei finden«, sagte ich. »Wir haben einen Schwarm. Lara, bitte lass uns jetzt nicht in Panik ausbrechen.« Ich fasste sie am Arm, auch um mich selbst damit zu beruhigen. Woher ich in diesem Augenblick die Kraft dazu nahm, wusste ich nicht. Am liebsten hätte ich genau wie Lara die Polizei gerufen und die Verantwortung in andere, professionelle Hände gegeben. Aber was wäre die Folge?
»Das ist wie mit diesen beiden Wolfskindern«, flüsterte Lara. »Andrei und Vanya. Die beiden wurden als Jungen aus einem Keller befreit und sind wie Tiere gehalten worden. Das war damals überall in den tschechischen Medien. Man hat sie Ende der Sechzigerjahre befreit. Sie wurden misshandelt und –«
»Würdest du jetzt bitte damit aufhören!« Ich hatte das dringende Bedürfnis, mir die Ohren zuzuhalten. »Dieses Kind ist ganz sicher nicht misshandelt worden. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Es muss Sergius’ Tochter sein. Dass sie so mager ist, liegt bestimmt daran, dass sie … Ach, ich weiß es auch nicht. Milo und Jaro haben sie seit Wochen mit Nahrung versorgt. Lara, du weißt das doch, wir haben beide zusammen das Nest beobachtet. Sah der Jungvogel darin aus, als würde er vernachlässigt oder gequält?«
»Nein, aber das ist doch um Gottes willen nicht dasselbe!«
»Aber sie wurde von ihrer Mutter liebevoll umsorgt! Sie ist kein Wolfskind! Man hat sie weder eingesperrt noch mit Liebesentzug gequält. Rabenmütter sind doch liebevolle Mütter, ganz egal, was sie für einen Ruf haben oder woher dieses blöde Vorurteil kommt. Das weißt du genauso gut wie ich.« Fieberhaft suchte ich nach einem Grund für dieses scheußliche Bild.