Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 31

by Nikola Hotel


  Endlich fand ich den Lichtschalter. Doch meine Erleichterung verpuffte sofort: Es klickte zwar, als ich den Schalter umlegte, aber es blieb trotzdem dunkel. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis, und ich konnte erkennen, wo sich die Fensterseite des Raumes befand. Mehrere Male stieß ich mit der Hüfte gegen ein Möbelstück, dann hatte ich eines der Fenster erreicht und presste die Stirn gegen sie Scheibe. Das hier war leider die Seite zur Moldau und nicht die zum Hof, auf der sich der Schwarm versammelt hatte, um die Söldner in Empfang zu nehmen.

  Fieberhaft überlegte ich, ob ich aus dieser Höhe aus dem Fenster steigen könnte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Ich war leider kein Rabe, und egal, wie viel Adrenalin sich in meinem Körper bilden würde, darauf, dass mir im Fallen Flügel wachsen würden, konnte ich lange warten.

  Ein Knall ertönte, und gleichzeitig begann der Boden unter mir zu beben. Ich fiel auf die Knie und legte in Panik meine Hände schützend über den Kopf. Ein orangerotes Glühen erhellte den Boden. Als ich mich aufrichtete, sah ich vor dem Fenster einen Feuerball pilzartig in den Himmel wachsen.

  Bitte lass sie nicht das Haus abfackeln! Von Feuer hatte ich inzwischen wahrlich genug. Von Feuer und auch von verbrannten Federn. Bei diesem Gedanken schnürte sich mir die Kehle zu. Was auch immer diese Explosion zu bedeuten hatte, ich betete dafür, dass niemand verletzt worden war. Ich presste mein Ohr an die Fensterscheibe in der Hoffnung, etwas von draußen hören zu können, vernahm aber nur das leise Klopfen in den Leitungen der Zentralheizung. Das Scharnier klemmte. Vermutlich war das Fenster vor hundert Jahren das letzte Mal geöffnet worden, dachte ich missmutig und verwendete so viel Kraft auf den Griff, dass ich befürchtete, ihn abzubrechen.

  Als er endlich nachgab, stieß ich erleichtert die Luft aus. Das Fenster schwang quietschend nach innen. Ich streckte den Kopf nach draußen. Unter mir stand das Wasser der Talsperre unbewegt wie ein dunkler Spiegel. Direkt an der Hauswand befanden sich mehrere Laternen, aber keine von ihnen war eingeschaltet. Lediglich ein Strahler, der unten im Garten den Stamm eines Ahorns erhellte, durchbrach die Dunkelheit, aber das Licht reichte nicht weiter als anderthalb Meter.

  Mein Handy hatte Sergius mir abgenommen und es ausgeschaltet – wo er es versteckt hatte, konnte ich nur raten –, so wusste ich nicht einmal, wie spät es war und wie lange es bis zur Morgendämmerung noch dauern würde. Es sei denn …

  Ich horchte.

  Würde ich eine Vogelstimme hören, könnte ich eventuell abschätzen, wie spät es war, aber leider hörte ich nichts bis auf das sanfte Rauschen, das durch die trockenen Zweige fuhr. Und das Wummern von Flügelschlägen.

  Fledermäuse? Nein, Fledermäuse waren extrem leise. Das hier klang eher nach einem Kauz oder Uhu, und selbst die waren schon schwer auszumachen, weil ihr Gefieder perfekt an ihre Lebensgewohnheit angepasst war, im Dunkeln zu jagen, ohne mit dem eigenen Flügelschlagen die Beute gleich zu warnen. Dann hörte ich die Schreie eines Raubvogels, ein helles Gickern, das mich gleich alarmierte, weil ich den Habicht erkannte. Ein Habicht jagte aber nicht in der Nacht, das konnte nichts Gutes bedeuten.

  In der nächsten Sekunde schreckte ich zurück, als ein Luftzug an mir vorbeizischte und mich etwas an der Schulter streifte. Es polterte, dann vernahm ich einen Fluch.

  »Warum zum Teufel steht hier so viel Gerümpel?«, raunte Sergius. Und ich schalt mich eine Idiotin, weil mein Herz vor Erleichterung einen Satz machte, dabei hätte ich ihn eigentlich mit Vorwürfen überschütten sollen.

  »Isa?«

  »Was war das für eine Explosion?«, brachte ich meine drängendste Frage hervor.

  »Das war ein Auto.« Sergius schob sich zu mir ans Fenster.

  »Was für ein Auto? Dieser Feuerball, er war ganz nah, ich dachte schon, sie hätten irgendwo eine Tür gesprengt.«

  »Du siehst zu viele Western. Wieso sollte man eine Tür sprengen, wenn man auch ganz einfach das Schloss knacken kann?«

  Seine überhebliche Art ging mir langsam so richtig gegen den Strich. »Du kleiner Klugscheißer«, ranzte ich ihn an. »Und seit wann können bitte Autos explodieren? Ich dachte, das gibt es nur bei Alarm für Cobra 11?«

  »Das konnten sie schon immer, wenn man sie vorher anzündet und dann eine prall gefüllte Flasche Sauerstoff auf den Rücksitz legt. Nur zum Beispiel«, fügte er hastig hinzu.

  »Aber welches Auto war das?«

  »Einer von Wassilijs Wagen.«

  Wassilij? »Hast du da etwa deine Finger im Spiel gehabt?«

  »Ich bin nicht Superman, okay?«, blaffte er mich an. Sein Körper bebte, und mir fiel jetzt erst auf, wie atemlos er war. »Du musst hier sofort raus. Draußen ist der Teufel los. Wassilijs Jäger sind im Haus und haben sich das Mütterchen geschnappt.«

  Den General? Mir rutschte das Herz in die Hose. »Sie werden ihr doch nichts tun, oder? Sie ist –«

  »Können wir das später diskutieren? Du musst jetzt hier raus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie dich finden.«

  »Dann kümmere dich lieber um Ewa!«

  »Jaro kümmert sich schon um Ewa«, sagte er unwirsch. »Außerdem ist Ewa ein Rabe, sie kann fliegen, schon vergessen? Du hingegen bist bloß eine Frau. Also los, klettere aus dem Fenster.«

  Ich wollte auflachen, weil ich das für einen schlechten Witz hielt, aber dann schubste Sergius mich tatsächlich zum Fenster und zerrte den linken Flügel auf.

  »Das ist nicht dein Ernst.«

  »Du wirst gleich sehen, wie ernst mir das ist.«

  »Wieso um Himmels willen hast du mich nicht im Erdgeschoss eingeschlossen?«

  Er holte tief Luft. Ich dachte schon, dass er mir gar nicht mehr antworten wollte, da sagte er: »Ich habe mich verschätzt, okay? Ich hätte nie gedacht, dass sie so schnell zurückkommen, nachdem Nikolaus mit Alexej gesprochen hat.«

  »Nikolaus ist hier?«

  »Isa, wenn du jetzt nicht sofort rauskletterst, dann reiße ich dich an den Haaren nach draußen.«

  »In Stiefeln kann man nicht klettern. Ich –«

  Sergius hatte mein Bein gepackt und zerrte mir den ersten Stiefel vom Fuß. Beim zweiten gab ich ihm zu verstehen, dass ich das auch selber konnte. Ich zog auch noch meine Strümpfe aus, damit ich mehr Halt hatte, dann schwang ich ein Bein durch das Fenster.

  »Sergius?«, flüsterte ich, als ich rittlings und sehr unbequem auf der Fensteröffnung saß.

  »Ja«, brummte es ganz dicht an meinem Ohr.

  »Da ist nichts, woran ich runterklettern könnte. Absolut gar nichts.«

  Ich brauchte kein Mondlicht, um zu wissen, dass er jetzt lächelte.

  »Du willst mich umbringen«, äußerte ich die Vermutung, die ich schon bei unserer ersten Begegnung gehegt hatte. »Du willst mich tatsächlich umbringen.«

  Ich spürte seinen nackten Oberkörper an meinem Rücken, als er sich über meine Schulter beugte. »Da rechts ist ein Fallrohr. Du musst dich daran entlang nach unten hangeln.«

  Das Herz schlug mir bis zum Hals. »Das ist locker einen ganzen Meter von mir entfernt.«

  »Schon mal was von Springen gehört?«

  »Du musst völlig wahnsinnig sein. Ich werde da nicht rüberspringen! Du hast leicht reden! Wenn du runterfällst, dann fliegst du halt. Wenn ich runterfalle, breche ich mir das Genick.«

  »So hoch ist es auch wieder nicht. Besser ein gebrochenes Bein als eine durchgeschnittene Kehle.«

  »Du bist ekelhaft.«

  »Du kannst mich nennen, wie du willst.« Er schob mein zweites Bein nach oben. Mit einem unterdrückten Laut klammerte ich mich panisch am Rahmen fest.

  »Und jetzt lass dich hängen und schwing verdammt noch mal die Beine rüber. Mach schon! Ich habe dir schon gesagt, dass ich dich nicht sterben lasse.«

  »Okay.« Langsam drehte ich mich auf den Bauch und rutschte über den Rahmen nach unten, bis sich nur noch meine Finger festkrallen konnten. Sergius packte meine Hände.

  »Los, schwing!«

  Was blieb mir anderes übrig? Ich schwang meine Beine nach links. Einmal, zweimal, dann bekam ich das Fallrohr mit dem Fuß zu packen. Oh Gott, das konnte niemals gut gehen!

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bsp; »Sergius?«

  »Ja.« Er knirschte mit den Zähnen. Offenbar wurde ich ihm langsam zu schwer.

  »Wenn ich runterfalle, dann –«

  »Schleppe ich Alexej zu dir, damit er sich von dir verabschieden kann, bevor du stirbst.«

  »Danke«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Dann ließ ich seine rechte Hand los und hangelte nach dem Rohr, aber es fehlten noch mehrere Zentimeter. Ich spannte meine Beinmuskeln an und versuchte, mich mit der Ferse gegen das Rohr gestemmt heranzuziehen. Da gab Sergius mir einen Schubs.

  FEUERFLUG

  ISABEAU

  Mit allem, was mir zur Verfügung stand, klammerte ich mich am Fallrohr fest und holte tief Luft. Das Herz pochte mir bis unters Kinn, als ich mich daranmachte, mich langsam Zentimeter für Zentimeter nach unten rutschen zu lassen. Trotz des milden Tauwetters fühlte sich das Blech eiskalt an.

  Dann erklang über mir ein Knirschen. Oh Gott, bitte lass das Rohr halten!

  Aber es war nicht das Rohr, was knirschte, sondern die Tür in der Kammer, in die Sergius mich eingesperrt hatte. Ein kurzes Handgemenge war zu hören, dann ein Aufprall, und in der nächsten Sekunde flog Sergius als Rabe an mir vorbei. Sobald er unten aufkam, verwandelte er sich.

  »Spring, Isa! Es sind nur noch zwei Meter.«

  Ich wagte nicht, nach unten zu gucken, doch der Anblick nach oben war noch viel schlimmer. Jemand rief etwas im Haus, dann erschien das Gesicht eines Mannes am Fenster. Er streckte seinen Arm heraus. In der Hand hielt er eine Waffe, von der ich dank Sergius wusste, dass es sich dabei um eine Pistole handelte.

  Das Fallrohr gab im gleichen Moment ein Ächzen von sich, als der Mann mit der Waffe auf mich zielte.

  Abrupt ließ ich mich fallen und landete mit einem Schmerzensschrei auf dem schmalen Rasenstreifen. Von oben brüllte jemand, und das Gesicht des Mannes verschwand kurzfristig, da wurde ich von hinten gepackt und in das nächste Gebüsch gezerrt.

  »Ich hätte nie gedacht, dass du das machst«, sagte Sergius. Er ließ mich los. »Respekt.«

  »Und was jetzt? Verflucht, ich glaube, ich habe mir den Fuß verstaucht.« Ich rieb mir über den stechenden Knöchel. »Wo ist Alexej?« Meine ganze Sorge galt ihm. Und Jaro und Ewa.

  »Hier lang!« Sergius zog mich auf die Beine, dann liefen wir beide außen um das Gemäuer herum. Ein Geländer trennte den schmalen Weg von dem Abhang, der nur aus Felsen bestand und steil nach unten in die Moldau abfiel. Die Brüstung reichte mir bis zu den Schultern.

  »Alexej hat ein kleines Rendezvous mit einer Habichtdame.«

  »Das ist nicht witzig, Sergius.« Verzweiflung kochte in mir hoch. »Ist es gefährlich? Vielleicht braucht er deine Hilfe?«

  »Falls du es noch nicht bemerkt hast, ich helfe ihm, indem ich dafür sorge, dass du keinen Ärger machst.«

  »So siehst du das also.«

  »Ja, so sehe ich das.« Er kletterte über die Brüstung und hangelte sich außen daran entlang, weil hier der Weg um das Gemäuer unterbrochen war. Mir fiel auf, dass am Horizont ein heller Streifen auftauchte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging.

  »Hier muss die Bibliothek sein«, sagte er und deutete nach oben. In keinem der Fenster brannte Licht, deshalb suchten meine Augen lange die Fassade ab, bis ich mir einbildete, das Fenster mit der eingeschlagenen Scheibe gefunden zu haben. Immer wieder hörten wir die Schreie des Habichts.

  »Warum sch…schreit er nur so.« Mir klapperten die Zähne aufeinander. Meine Füße waren eiszapfenkalt, und da ich nur ein Langarm-T-Shirt trug, war die Feuchtigkeit mir schon bis unter die Haut gekrochen.

  »Solange er schreit, hat er noch nichts zu fressen«, raunte Sergius mir zu.

  Doch dann ging ein anderes Geräusch mir durch Mark und Bein. Ein hilfloses Krähen, ein Krächzen, das in einer so hohen Tonlage erscholl, dass es mir als Schmerz bis in den Unterkiefer fuhr.

  »Das ist Ewa!«, stieß ich aus.

  Licht flackerte, und dann war mit einem Mal jedes Fenster des zweiten Stocks hell erleuchtet. Ewa saß in einem der Fensterrahmen wie eine Statue. Die Statue eines hilflosen kleinen Mädchens.

  Eine dumpfe Männerstimme brüllte »Beweg dich nicht!«, und Ewa warf einen hektischen Blick hinter sich.

  Wo war Jaro? Verflucht, wo war Jaro nur? Er hatte doch versprochen, sie keine Sekunde allein zu lassen.

  »Dieser kleine Pisser«, presste Sergius heraus. »Der hat sich bestimmt davongemacht.«

  »Niemals. Das glaube ich nicht!«

  Und das hatte Jaro tatsächlich nicht. Ewa gab weiterhin ein erbärmliches Winseln von sich, aber der Söldner in ihrem Rücken schrie weiter. »Bleib, wo du bist!«

  War es Jaro, den er da so anbrüllte? Bemerkte er denn nicht, dass er Ewa damit nur Angst machte? Sie wollten sie doch lebend haben, diese Vollidioten, wieso riskierten sie dann, dass das arme Kind noch vor Schreck aus dem Fenster fiel?

  Dann ging alles entsetzlich schnell. Ein Schuss peitschte durch das Zimmer, und ein plötzlicher Ruck ging durch Ewas Körper. Kopfüber stürzte sie vom Fensterbrett. Jaro sprang hinter ihr her, sie noch am Oberarm packend. Aber Jaro verwandelte sich nicht. Er verwandelte sich nicht!

  Wollte er denn mit ihr gemeinsam in den Tod springen?

  Ich schrie auf, weil die beiden jede Sekunde unten auftreffen konnten, und hielt mir die Hände vors Gesicht. Ein wildes, geradezu kriegerisches Krächzen ertönte, und Sergius begann neben mir zu lachen. »Sieh hin!«, sagte er und zog mir die Hände von den Augen. Zwei Raben kämpften sich flügelschlagend wieder nach oben. Der eine metallisch schwarz, der andere strahlend weiß mit zwei einzelnen dunklen Federn an den Seiten.

  »Oh Gott«, keuchte ich und verbarg mein Gesicht an Sergius’ Brust. »Ich dachte, sie sterben. Ich dachte wirklich, sie prallen jeden Moment auf den Felsen!«

  »Nicht, wenn sie nach mir kommt.«

  Ich meinte fast, so etwas wie Stolz aus seinen Worten zu hören. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung für Sergius. Er musste sich erst an den Gedanken gewöhnen. Wenn sie die Möglichkeit hatten, Zeit miteinander zu verbringen, vielleicht würde sich dann alles ändern.

  Vielleicht würde Sergius sich ändern.

  HIMMELSSCHREI

  ALEXEJ

  Ich war mir sicher, dass er nicht schießen würde, solange sein Habicht mich jagte. Er konnte nicht nur mich, sondern auch ihn dabei verletzen. Mit einem »Hiiäh« schoss der Habicht heran und spreizte seine Füße, um mich zu packen. Ich ließ mich nach unten fallen und tauchte unter dem Balkon davon.

  Hier im Innenhof waren wir gefangen in einem Kessel, ich musste es riskieren und nach oben die Flucht ergreifen. Milo, Arwed und András waren nirgendwo zu sehen. Ich wusste nicht, ob sie inzwischen im Haus waren oder ob sie sich über das Dach gerettet hatten. Ich schoss nach oben, als der Habicht auf dem Arm seines Falkners gelandet war, und noch bevor er ihn vom Arm schleudern konnte, war ich über das Dach verschwunden.

  Ich musste ins Haus gelangen und sehen, ob Isabeau und Ewa in Sicherheit waren. Der General war ihr Faustpfand, aber solange sie Ewa noch nicht erwischt hatten, war noch nichts verloren. Wo war Sergius?

  Es gab einen weiteren Eingang, der zum Apartment des Generals führte. Eine kleine Wendeltreppe stieg vom Waffengang aus hoch, und den wiederum konnte man über die Kapelle erreichen. Als Rabe würde ich durch das Fenster gelangen. Ich ruderte also auf der Stelle und passte den richtigen Moment ab, um die Flügel anzulegen und hindurchzuschlüpfen. Doch ich blieb mit den rechten Schwungfedern hängen und trudelte zu Boden, wo ich unsanft aufschlug. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappelte ich mich auf und fuhr mir über die malträtierte Stelle. Barfuß lief ich an dem Bösendorfer vorbei durch die wenigen Reihen hinaus auf den Gang. Hier gingen auf der rechten Seite die Fenster zum Innenhof ab, und deshalb schlich ich gebückt daran vorbei, bis ich die Treppe erreicht hatte. Ich lauschte nach oben, aber es war alles still. Viel zu still. Mit einer Hand auf dem Geländer sprang ich immer zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben. Dort angekommen presste ich mich in den nächstbesten Türrahmen und horchte.

  Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, me
in ganzer Körper schien unter Strom zu stehen. Alle meine Sinne richtete ich auf den Gang, der vor mir lag, auf mögliche Schritte, einen Atemzug, der mir den lauernden Jäger verraten hätte, aber ich konnte weder eine Bewegung spüren, noch roch ich die Anwesenheit eines anderen Menschen. Ich musste nach dem General sehen, musste wissen, ob es ihr gut ging und der Falkner sie nicht verletzt hatte. Trotzdem – solange ich nicht wusste, was mit Isabeau geschehen war, drängte es mich zur Bibliothek.

  Im Schutz der Dunkelheit lief ich zur nächsten Tür und presste mich daneben an die Wand. Dann hörte ich die Stimme. Es war eine dunkle Männerstimme, und sie gehörte nicht zu Šimon und erst recht nicht zu Jaro. Zentimeter für Zentimeter schob ich mich an der Wand entlang, bis ich die Tür zur Bibliothek erreicht hatte. Sie war nur angelehnt, und durch den schmalen Spalt drang ein energisches »Beweg dich nicht!« an meine Ohren. Er war allein. Ich konnte förmlich riechen, wie dem Jäger das Adrenalin durch den Körper schoss und sich feine Schweißperlen auf seiner Haut bildeten. Ich sah direkt auf seinen Hinterkopf, so nah war er. In seinem Nacken kräuselten sich ein paar verschwitzte Härchen, und auf seinem Hemdkragen zeigte sich ein Schmutzrand.

  Hätte nicht die Tür zwischen uns gestanden, ich hätte nur die Hand nach ihm auszustrecken brauchen. So schätzte ich ab, ob ich genug Wucht mit der Tür aufbauen konnte, um sie ihm ins Kreuz zu rammen.

  Seine rechte Hand streckte sich nach dem Lichtschalter aus. In der Linken hielt er seine Waffe. Ein Klick, und mit einem Mal war alles hell erleuchtet.

  Ewa!

  Ich sog die Luft ein. Sie hockte am offenen Fenster. Ihre Füße krampften sich um den Fensterrahmen. Ihr weißblondes Haar fiel struppig ihren nackten Rücken herab und durch die pergamentene Haut schimmerte es blau. Plötzlich hob sie den Kopf und warf einen Blick zurück.

  Sie hatte mich gesehen! Sie musste mich gesehen haben! Ich betete, dass sie mich nicht verriet und dass sie keine unbedachte Bewegung machte. Es fehlte nicht viel, und sie stürzte aus dem Fenster.

 

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