by Nikola Hotel
»Du bist verletzt«, sagte er. »Deine Schulter –«
Ich rappelte mich auf. »Das ist nicht mein Blut«, sagte ich und stolperte vorwärts.
»Isabeau!«, rief Alexej mir nach. »Wo willst du denn hin?«
Ich rannte den Abhang hinunter und wäre fast gestürzt. Ich achtete nicht darauf, dass meine nackten Füße von den Steinen aufgeschürft wurden, achtete nicht auf sein Rufen, das mich zurückhalten wollte. Ich rannte nur. Den Rabenkörper fest an meine Brust gepresst, lief ich so lange, bis meine Lungen schmerzten und ich dachte, dass ich keinen einzigen Atemzug mehr machen konnte.
Nieseln setzte ein. Es würde Sergius’ Blut von mir abwaschen, aber nicht das, was innerlich aus mir blutete. Ich schlidderte über die dicken Steine zum Ufer und ließ mich fallen. Mit meiner freien Hand grub ich mich durch den groben Schotter. Einer der Steine musste gut genug sein. Einer würde reichen. Denn wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich nie den Mut dazu aufbringen.
Endlich fand ich einen flachen Stein, der vom Wasser abgewaschen und nur halb so groß wie meine Handfläche war. Die Kante war abgebrochen und fühlte sich scharf an, als ich mit dem Daumen darüber fuhr. Ich bettete Sergius auf meinen Knien. Sein Kopf baumelte schwer herab und seine Augen waren längst nicht mehr olivgrün, sondern milchig überzogen.
Das ist nur seine tote Hülle, sagte ich mir. Nur seine Hülle. Ein Schluchzen brach aus mir heraus. Aber es ist die einzige Hülle, die er je gewollt hat.
Mit zitternden Fingern spreizte ich das Brustgefieder auseinander und begann, die zarte Haut darunter aufzuritzen. Wieso nur war ich so erbärmlich schwach? Meine Finger zitterten und konnten den Stein kaum halten. Und doch zwang ich mich dazu, weiterzumachen. Noch mehr Blut lief mir über die Finger. Es war warm und klebte. Aber ich verschwendete keinen Gedanken daran, was ich da tat. Irgendwann in ein paar Stunden oder Tagen würde ich es vielleicht begreifen, aber nicht jetzt. Und vielleicht würde ich dann bereuen.
Nicht denken, Isa! Bloß nicht denken!
Wieso war es nur so furchtbar schwer? Immer wieder rutschte mir der Stein aus der Hand. Ich tauchte meine Hände in das eisige Wasser und wusch das Blut ab, damit ich ihn besser packen konnte. Wo genau war denn nur sein Herz? Meine Finger fassten in den Brustkorb und ertasteten etwas, das sich vor dem Herz befinden musste und was ich für den Leberlappen hielt. Warum hatte ich in Anatomie nicht besser aufgepasst? Warum verlangte Sergius so was von mir? Warum nur hatte er mir das angetan? Dieser verdammte Scheißkerl!, heulte ich.
Meine Faust schloss sich um den kleinen festen Muskel und zog. Als ich es endlich schaffte, die Schlagadern mit dem Stein durchzuschneiden, schoss das Blut heraus, als würde jemand Cola durch einen Strohhalm pusten und mir ins Gesicht spritzen. Ich ließ den Raben fallen und presste meinen Handrücken gegen den Mund, um mich nicht zu übergeben. Hustend und keuchend kam ich erst wieder zu Atem, als Sergius’ Rabenkörper schon mehr als einen Meter von mir entfernt auf der Wasseroberfläche davontrieb. Seine Flügel breiteten sich aus, als wollten sie ihn mitnehmen. Nicht auf den Luftmassen, wofür er geboren war, sondern im Wasser. Und doch auf Schwingen getragen.
Der Regen prasselte, und was eben noch wie ein stiller Spiegel dagelegen hatte, wurde von dicken Tropfen durchsiebt. Der Lärm des Hubschraubers nahm zu, und Wind brauste auf – ein Wind, der nur vom Rotieren der Rotorblätter herrührte –, und auf der Oberfläche bildeten sich kleine Wellen, die den Raben immer weiter von mir forttrieben. Die Scheinwerfer strahlten über die Burg, zitterten über das Wasser, bis sie plötzlich zur Ruhe kamen und auch das Wummern verebbte.
Ich wusch mir das Gesicht im Moldauwasser und legte mich auf die nassen Steine mit dem Blick in den Morgenhimmel. Starrte so lange in das Grau, bis der Regen mich zwang, die Augen zu schließen. Meine Faust presste das kleine Rabenherz an mein eigenes. Nie wieder würde ich ihn rufen hören. Nie wieder fluchen. Wenn ich doch nur wütend auf ihn sein könnte! Doch meine Wut war zusammengeschrumpft und alles, was ich wusste, war, dass nichts wieder so sein würde wie vorher.
Nie wieder gut.
Als jemand versuchte, meine Hand zu öffnen, riss ich erschrocken die Augen auf, weil ich die Nähe eines anderen Menschen nicht bemerkt hatte. Ich begriff erst, dass es Ewa war, als ihr schmächtiger Körper ein Krächzen von sich gab. Sie rieb ihren Kopf an mir, als wären wir beide zwei Vögel, die miteinander kuschelten. Ihre kleinen Finger arbeiteten unermüdlich an meiner verkrampften Faust, sodass ich schließlich nachgab und zuließ, dass sie Sergius’ Rabenherz aus meiner Hand klaubte.
»Wir müssen es begraben«, sagte ich heiser, weil mich ein erschreckender Gedanke befiel. »Begraben, verstehst du? Du darfst es nicht essen. Es ist kein Aas, es ist …« Ich verstummte. Wie sollte ich ihr vermitteln, dass es das Herz ihres Vaters war?
Doch Ewa nickte, als verstünde sie ganz genau, was passiert war. Ihr Kopf wippte auf und ab, und ich wagte kaum, meinen Augen zu trauen, als mit einem Mal weiße Partikel aus ihrer Haut zu wachsen schienen und ihr hellblondes Haar damit verschmolz. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, und ein weißer Rabe flatterte auf, im Schnabel das Rabenherz gepackt. Ich wollte mich aufrichten, da war sie schon davongeflogen.
Stimmen näherten sich, und dann wurde Geröll beiseitegetreten, als Schritte sich dem Ufer näherten. Meine Zähne klapperten. Meine Jeans war völlig durchweicht und mein T-Shirt blutverschmiert und steif vor Kälte. Wie hatte ich das die ganze Zeit nur ignorieren können? Auch spürte ich einen Brennen an meiner Schulter. Ich versuchte, an mir herabzusehen, und stellte erschrocken fest, dass mein T-Shirt an der Stelle, wo es schmerzhaft pochte, zerrissen und angesengt war. War ich doch verletzt?
»Alexej?« Hilflos starrte ich auf meine Hände. Was hatte ich nur getan?
»Ich bin hier.«
Unendliche Erleichterung erfasste mich, als er erst über mich stieg und mir dann den Rücken stützte, um mich aufzurichten. Er hatte ein Hemd übergezogen, dessen steifer Kragen seinen Nacken vor fremden Blicken schützte. Niemals durfte jemand das Tattoo zu sehen bekommen, wenn er nicht riskieren wollte, enttarnt zu werden.
»Es ist vermutlich nur ein Streifschuss, aber Sie sehen ja, dass sie blutet und nicht ganz bei sich ist.«
Was redete er da? Und mit wem? Die Trauer ließ meine Augäpfel brennen, aber ich war doch völlig klar im Kopf!
»Vielleicht können Sie ihr etwas zur Beruhigung geben?«
»Nein!«, stieß ich hervor. Wer auch immer das war, ich wollte nicht angefasst werden, und erst recht wollte ich nicht mit irgendwelchen Medikamenten ruhiggestellt werden.
»Ich brauche nichts zur Beruhigung. Nichts!« Meine Lippen bebten. Ich hatte keine Kraft, mich zu wehren, als Hände nach mir griffen und mir das T-Shirt von den Schultern geschnitten wurde. Und doch war ich mit einem Mal unendlich dankbar, als mir etwas in die Armbeuge gespritzt wurde und sich eine wohlige Wärme in mir ausbreitete. Der brennende Schmerz verschwand. Und mit ihm auch dieser entsetzliche Verlust, der an meinem Herzen nagte. Alles in meinem Kopf wurde dumpf, und für einen unsagbar kostbaren Moment vergaß ich.
Ich vergaß, dass Sergius tot war.
HERZRISS
ALEXEJ
Wir hatten uns alle in Sergius getäuscht. Ich ganz besonders. Ich hatte ihm geglaubt, dass es nichts in seinem Leben gab, was er bereute. Ich hatte ihm geglaubt, dass er sich um niemand anderen sorgte. Dass er kein Gewissen hatte. Ich hatte ihm geglaubt, als er behauptet hatte, kein Heuchler zu sein. Und doch war das alles eine große Lüge gewesen, ein Bluff.
Sergius war der größte Heuchler von uns allen. Er hatte nicht nur uns betrogen, sondern vor allem sich selbst. Es hätte mich misstrauisch machen sollen, mit welcher Überheblichkeit er uns demonstriert hatte, gleichgültig zu sein. Er war kein bisschen gleichgültig, sondern hatte die ganze Zeit diese Trägheit seines Herzens nur vorgetäuscht.
Wenn ich etwas will, dann nehme ich es mir und frage nicht danach, ob es mir zusteht. Ich nehme es mir!
Seine Worte konnte ich nicht aus meinem Kopf tilgen. Wenn ich versuchte, sie herunterzuschlucken, brannten sie in meiner Kehle nach wie Janoschs Wodka. Was wäre gewesen, wenn er
mir Isabeau hätte nehmen wollen? Und hatte er es nicht ohnehin auf eine Art schon getan? Die Distanz zwischen Isabeau und mir spürte ich wie eine Wunde. Sie hatte sich vor mir zurückgezogen, doch ich wusste nicht, ob sie es aus Trauer tat oder aus Scham. Sie hatte ihm unter Tränen gesagt, dass sie ihn liebte. Doch das waren Worte an einen Sterbenden gewesen, und wie viel wogen diese Worte dann? Doch egal, wie oft ich mir das sagte, konnte es diese Wunde nicht versiegeln. Ich spürte sie als Riss in meiner Brust, der sich seinen Weg bahnte und von dem ich hoffte, dass er sich nicht entzündete.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als ich den dreibeinigen Gang des Generals vernahm. Ihre neuerdings schlurfenden Schritte, als trüge sie eine unendlich schwere Last, und das in kurzen Abständen folgende Tock ihres Gehstocks.
Ich legte die Noten beiseite, die sie mir bereitgelegt hatte, obwohl ich sie nicht brauchte, weil ich sie keinesfalls spielen wollte. Dann stand ich auf, um ihr die Tür zu öffnen, bevor sie mit ihren Arthritisfingern dagegenklopfen konnte.
»Sind sie fort?« Ich trat zur Seite, um den General eintreten zu lassen.
»Du kannst mir dankbar sein«, schnaufte sie und stützte sich an der Kommode ab, auf der Bilder unserer blassen Ahnen standen, die mir nichts bedeuteten. Genauso wenig, wie mir dieses Schloss etwas bedeutete.
»Wäre ich ein Schwächling, sie hätten uns das ganze Haus auseinandergenommen«, sagte sie und hielt mir ihre Wange zu einem Kuss hin. Der vertraute, pudrige Geruch vermochte mich nicht zu trösten, und zur Dankbarkeit, die sie von mir erwartete, konnte ich mich nicht durchringen. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Polizei hätte mich entdeckt. Vielleicht hätte es mir etwas von meinem Schuldgefühl genommen, dass ich den Jäger in den Tod gestürzt hatte. Und dann auch noch zu spät. Hätte ich ihn nicht nur bewusstlos geschlagen, er hätte niemals auf Isabeau und Sergius schießen können. Hätte ich die Waffe nicht unter dem Sofa belassen, sondern aufgenommen –
»Gewiss sind sie vor lauter Ehrfurcht erzittert, weil du sie empfangen hast«, unterbrach ich mich selbst. Mein leichter Tonfall sollte nicht nur meine Großmutter belügen, sondern auch mich. Würde ich nur oft genug zeigen, dass ich erleichtert war, entkommen zu sein, dann glaubte ich es irgendwann vermutlich selbst.
»Nun, ich habe nicht mit bedeutenden Namen gegeizt und ihnen unsere Waffensammlung gezeigt. Sie waren sehr beeindruckt von der Flinte des Kaisers von Österreich. Ha!«, machte sie, »sie haben sich von der Umgebung und meinem guten Namen blenden lassen. Ich erwarte nicht, dass sie dir gegenüber misstrauisch sein werden.«
»Du hast sie also um den kleinen Finger gewickelt.«
Der General schnaubte. »Bei ihnen ist es mir deutlich besser gelungen als bei diesem widerwärtigen Menschen, der mich mit seiner Waffe bedroht hat.«
Ihre Stimme war stark wie immer, und in ihren Augen funkelte das Abenteuer, aber ich sah ihr auch an, dass die Erlebnisse sie schockiert hatten. »Es tut mir unendlich leid, babička.« Ich küsste ihre Hand, deren Fingerknöchel geschwollen waren. Ihre Finger rochen nach der alten Nelkenseife, die sie seit Jahrzehnten benutzte und die mir noch gut aus der Zeit in Erinnerung war, in der sie mich als Kind damit geschrubbt hatte.
»Deiner Freundin Isabeau geht es besser?«
»Sie schläft«, sagte ich.
»Hat Šimon ihr den Tee gebracht, wie ich ihn beauftragt habe?«
Bei ihrem strengen Tonfall zuckte es in meinem Mundwinkel. »Das hat er. Ich befürchte nur, sie ist eingeschlafen, bevor sie ihn trinken konnte. Sei also nicht zu streng mit ihm.«
Der Notarzt hatte Isabeau versorgt, die nicht bemerkt hatte, dass der erste Schuss sie am Schlüsselbein gestreift hatte. Vor lauter Sorge um Sergius hatte sie es nicht einmal gespürt. Natürlich war der Notarzt gezwungen gewesen, die Polizei zu benachrichtigen. Eine Schussverletzung war nichts, was sich unter den Teppich kehren ließ. Ebenso wenig wie der Fenstersturz des Mannes, für den sie noch keinen Schuldigen gefunden hatten. Ja, es waren zwei Männer gewesen, die am Fenster miteinander gekämpft hatten. Der eine von athletischer Figur hatte hellblonde Haare und auffällige Narben an Brust und Armen. Der General hatte ihnen eine genaue Beschreibung von Sergius abgegeben, weil von ihm gewiss war, dass sie ihn niemals würden finden können. Ob er durch das Fenster oder eine der vielen Nebentüren geflohen war – niemand wusste es. Eventuell bestand ein Zusammenhang mit der Explosion eines Autos, das in derselben Nacht die Polizei zusätzlich in Atem gehalten hatte. Ob in dem Wagen Personen gesessen hatten, konnte oder wollte man uns nicht mitteilen.
Der General schreckte aus ihren Gedanken hoch. »Es ist schade um den Drygalski-Jungen«, sagte sie und tätschelte meine Wange. »Er war ein respektloser Bengel, aber er hatte etwas unverkennbar Liebenswürdiges an sich.«
»In der Tat, das hatte er.« Die Worte hafteten an mir wie Leim und verklebten mir den Gaumen.
»Ich mochte seinen Großvater«, fügte sie mit einem überraschend milden Lächeln hinzu, dann straffte sie sich. »Die Polizei möchte dich in den nächsten Tagen noch einmal zu den Vorfällen befragen. Wir sollen eine Liste erstellen, auf der vermerkt ist, welche Gegenstände gestohlen oder beschädigt wurden. Aki, wie konntest du nur Schillers Wallenstein auf den Boden werfen?« Ihre dichten Augenbrauen verengten sich, und sie bohrte ihren Zeigefinger in die Luft. »Glaub nicht, ich wüsste nicht genau, dass er auf dem runden Tisch im Salon gelegen hat.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Es sollte doch wie ein Einbruch aussehen.«
Sie winkte ab, wobei sie die Kommode loslassen musste und kurzzeitig ins Schwanken kam. »Bei den anderen Exponaten sage ich nichts. Auch nicht, dass du Napoleons Büste angeschlagen hast, aber der Wallenstein ist aus dem Jahr 1854. In italienischer Sprache!« Sie schüttelte den Kopf. »Und das ›Le Musée Français‹ ist am Buchrücken beschädigt. Ich hatte von dir mehr Verstand erwartet und dass du den Wert dieser Bücher zu schätzen wüsstest.«
Den Wert dieser Bücher? Ich konnte ihr kaum sagen, wie wenig mir irgendwelche Bücher in diesem Augenblick bedeuteten. Unwillkürlich tauchte in meinen Gedanken Isabeau auf, die ihr Erlkönig-Manöver in den Händen hielt, und mir war, als hätten wir das Paradies, von dem darin die Rede war, längst verlassen und erinnerten uns nur noch an den Geschmack auf der Zunge. Küss mich, denn bald schon müssen wir dieses Paradies verlassen, und dann wird alles anders, und du gehst fort …
In Wahrheit war es Sergius gewesen, der fortmusste. Dieser Gedanke schnitt mir ins Fleisch, und ich spürte einen idiotischen Groll darüber, dass Sergius sein Ende selbst gewählt hatte. Dass er sogar noch im Tod manipulierte.
»Wirst du die Noten spielen, die ich dir habe bringen lassen?«, fragte der General. Und ich konnte kaum fassen, dass sie daran noch denken konnte. Gerade war Šimon damit beschäftigt, neues Fensterglas in der Bibliothek einzusetzen. Irgendeine Frau aus dem Dorf kehrte die Scherben auf und bohnerte das kostbare Intarsien-Parkett, und Jaro begrub mit Ewa das Herz ihres Vaters im angrenzenden Wald. Ich wusste nicht, was mit Katharina geschehen war und ob sie tatsächlich in dem Wagen gesessen hatte, der verunglückt war. Mein ältester und bester Freund hatte mich mit einem Blick des Hasses zurückgelassen, und noch immer lauerte Wassilij irgendwo dort draußen.
Wie konnte sie auch nur einen Gedanken an die Noten verschwenden? Der General musste auf ihre alten Tage übergeschnappt sein.
»Es ist unfassbar, dass du von mir erwartest, unter diesen Umständen für deine Freunde zu spielen. Ich kann einfach nicht glauben, dass es dir –«
»Du wirst nicht nur für meine Freunde spielen, sondern auch für deine Schwester Sara, die ihr Kommen angekündigt hat. Und ich erlaube dir, es zu Ehren deines Freundes zu tun«, sagte sie kalt. Doch ihre Augen triumphierten.
»Für Sergius?« Dass sie ihn meinen Freund nannte, war schon absurd genug, aber das ausgerechnet Sara kommen würde? Mein Puls beschleunigte sich, doch ich wollte nicht an Sara denken. Die Sara, die als Kleinkind nachts zu mir ins Bett gekrochen kam, die mir Geschichten erzählte und sich von mir vorspielen ließ, die gab es längst nicht mehr.
»Es wäre möglich, dass es Isabeau etwas bedeutet, sich auf eine feier
liche Art verabschieden zu können. Und auch für das Kind ist eine Trauerfeier angebracht. Sie wird es jetzt noch nicht verstehen, doch sich irgendwann daran erinnern, wenn sie älter ist, und es mag sie darüber hinwegtrösten, dass es keine Grabstelle gibt, die sie aufsuchen kann.«
Ich schloss die Augen und presste die Lippen fest aufeinander. Wie immer war die Argumentation des Generals bestechend, jedoch nicht lückenlos. Es war schließlich nicht nur Sergius, den wir verloren hatten. Was war mit Ferenc? Was war mit Laszlo, Raban und Darius? Es gab kaum noch etwas, das unseren Schwarm zusammenhielt, und wenn ich an unsere Zukunft dachte, dann schwamm sie vollkommen im Nebel. Doch der General wollte ihre Matinee, und sie würde sie bekommen. Zum Gedenken eines Drygalskis seinen Namen auf das Programmheft zu drucken, erschien ihr da offenbar das Geringste zu sein.
Der General wusste bereits, dass sie gewonnen hatte, noch bevor ich langsam nickte, und wandte sich zum Gehen. Aus der Gewohnheit, die sie mir von Kindheit an mit zweifelhaften Methoden antrainiert hatte und für die sie mich rügen würde, sollte ich darin auch nur ein einziges Mal nachlassen, öffnete ich ihr die Tür und ließ ihr den Vortritt.
»Aber kein Debussy«, raunte ich. Wenigstens in diesem Punkt wollte ich nicht nachgeben.
Ihr Lächeln war ganz das einer Schlossherrin und mehr noch das einer Dame, die über einen Rabenhorst herrschte. »Wir werden sehen«, sagte sie.
WUNDLIEBE
ISABEAU
Ich zwang mich zu einem Lächeln, als ich mich neben Alexej auf die schmale Bank quetschte, doch er sah nicht einmal auf. Wegen der Verletzung an meiner Schulter hatte ich in den letzten Tagen eine Schonhaltung eingenommen und saß seltsam schief. So schief, wie auch alles in mir drinnen aussah. Dabei hatte ich längst keine Schmerzen mehr. Es war allein das Gefühl des Verbands auf meiner Haut.
Alexej kniete auf der Bank, er stützte sich auf den Unterarmen ab, und sein Blick ruhte auf seinen gefalteten Händen. Weil ich nicht wusste, ob er betete, blieb ich ganz still neben ihm sitzen und horchte nur auf das leise Knarzen im Holz. Seit meinem Eintreten flackerten die Kerzen, und das, obwohl ich die Tür wieder geschlossen hatte.