002 - Free like the Wind

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002 - Free like the Wind Page 2

by Kira Mohn


  Erst als ich einigermaßen sicher bin, wirklich allein zu sein, schüttele ich den Müllbeutel auf, den ich mit reingenommen habe, und streife mir die Einweghandschuhe über. Leere und noch halbgefüllte Popcorntüten, Eisschachteln, Plastikfolien, Pappbecher und Strohhalme – eine durchschnittliche Vorstellung füllt locker einen Fünfzigliterbeutel. Nach Sommersby liegen überdies noch jede Menge benutzter Taschentücher herum, und deshalb denke ich mir zunächst nichts dabei, als ich in der letzten Bankreihe etwas Weißes sehe. Tatsächlich klemmen in der Sesselspalte gleich mehrere Taschentücher, davor jedoch liegt ein aus einem Kalender herausgerissener Zettel.

  Viele Grüße, Zane, steht quer über dem heutigen Wochentag. In der unteren Ecke sind Blümchen abgedruckt. Garantiert der Kalender seiner Freundin.

  Ich starre einige Sekunden lang auf die zusammengeknüllten Taschentücher. Und auf den feuchten Fleck unter dem Blatt Papier. Dann befördere ich alles in den Müllbeutel und mache mich auf den Weg zurück zum Lagerraum, um einen nassen Lappen und eine Küchenrolle zu holen.

  Hoffentlich taucht dieser grässliche Psychopath nie wieder auf.

  Cayden

  Mitternacht ist gerade vorüber, und eben noch schien völlig klar zu sein, wie die Stunden mit Victoria bis zum Morgengrauen ablaufen würden. Das hier ist nicht unser erstes Date und auch nicht unsere erste gemeinsame Nacht. Bis vor wenigen Augenblicken dachte ich, zwischen uns werde alles wie immer seinen Gang gehen. Ein Besuch in einer Bar. Sex. Eventuell ein gemeinsames Frühstück. Und danach – bis irgendwann mal wieder.

  Den Barbesuch haben wir abgehakt, jetzt sind wir in Vics Schlafzimmer. Doch nach dem, was sie mir gerade bei ihrem spontanen Striptease ins Ohr geflüstert hat, kämpft der Teil in mir, der streng darauf achtet, nie falsche Hoffnungen aufkommen zu lassen, mit dem Teil, der versichert, man könne auch noch später darüber reden.

  Der erste Teil gewinnt.

  «Weißt du was – ich verzieh mich.»

  «Was? Jetzt?» Victoria starrt mich entgeistert an, tastet dann nach der Bettdecke und zieht sie über ihre nackten Brüste. «Wieso das denn?»

  Ohne zu antworten, angele ich nach meinem Shirt, das ich mir vor wenigen Minuten habe über den Kopf streifen lassen. So genau bin ich mir darüber selbst nicht im Klaren. Ich könnte es einfach auf das schieben, was Vic gesagt hat, doch es ist nicht nur das, es ist … keine Ahnung. Im Moment weiß ich nur, dass mir plötzlich nicht mehr nach Sex ist.

  «Cay! Du kannst doch nicht … aber wieso?»

  Ich schwinge die Beine über die Matratze. «Ich hab einfach doch keine Lust heute.»

  «Was? Sag mal, spinnst du?»

  In Victorias bestürzte Verwirrung mischt sich ein scharfer Unterton, und das ist mir ganz recht. Besser, sie ist wütend als verzweifelt – mit Wut kann ich umgehen. Sie an mir abprallen lassen.

  «Sorry, Vic.»

  «Deine Entschuldigung kannst du dir sonst wohin stecken! Du bist so ein … so ein … Cayden! Wenn du jetzt echt einfach abhaust, dann … was stimmt denn nicht?»

  «Gar nichts. Es hat keinen besonderen Grund, ich hab’s mir einfach anders überlegt.»

  «Du hast es dir einfach anders überlegt? Du hast es dir anders überlegt, nachdem du zugesehen hast, wie ich für dich strippe?»

  «Ich hab ein bisschen zu viel getrunken, okay? Mach jetzt keinen Stress.»

  Dass Victoria daraufhin ausflippt, ist beabsichtigt – es macht alles sehr viel einfacher.

  «Du bist so ein verfluchter Arsch! Für wen hältst du dich eigentlich? Denkst du, du kannst bei mir anrufen, wann auch immer du gerade Bock hast, und wenn dir mittendrin einfällt, dass es dir leider doch nicht passt, verschwindest du wieder?»

  Zumindest was das Anrufen betrifft, lief es bisher zwischen uns genau so ab, und das war für beide Seiten auch völlig in Ordnung.

  «Du rufst doch auch nur an, wenn du gerade mal Lust hast», erinnere ich sie.

  «Aber du kannst nicht immer!»

  Auf diesen Vorwurf hin zucke ich nur mit den Schultern. Dass Victoria immer Zeit hat und ich nicht, ist jetzt wirklich nicht mein Problem.

  «Du brauchst dich echt nicht mehr blickenzulassen, wenn du jetzt gehst, hörst du?»

  Gerade bin ich damit fertig geworden, mir Hosen, Socken und Schuhe wieder anzuziehen, und greife nach meiner Jacke, die über dem Schreibtischstuhl hängt. Ziemlich chaotischer Schreibtisch. Das krasse Gegenteil von meinem.

  «Cay, bitte!»

  Victorias plötzlich wieder flehentlicher Ton führt dazu, dass ich umso entschlossener die Türklinke umfasse.

  «Wir … wir müssen ja nicht zusammen … wir können auch reden.»

  Scheiße, nein. «Vic, ich melde mich einfach, okay?»

  Diese Antwort lässt glücklicherweise die Schärfe in ihre Stimme zurückkehren. «Du kannst mich mal. Vergiss es.»

  Die Tür zu Vics Zimmer fällt hinter mir ins Schloss, und Sekunden später höre ich etwas dagegenkrachen.

  Was für ein Auftritt.

  Ich ignoriere den Aufzug und nehme die Treppen. Grünliches Licht erhellt notdürftig die glatten, hellen Steinstufen, der Empfangstresen im Eingangsbereich ist unbesetzt. Ein einsamer Getränkeautomat leuchtet neben dem Ausgang, die elektronischen Schiebetüren des Wohnheims sind bereits deaktiviert. Von außen benötigt man jetzt einen Schlüssel, von innen jedoch öffnen sie sich nach dem Betätigen eines Schalters, und Sekunden später laufe ich im Licht der Straßenlaternen zu meinem Wagen.

  Nur kurz noch schweifen meine Gedanken dabei zu Victoria zurück, in erster Linie deshalb, weil sie gerade unbekleidet war. Doch das Bild ist nicht stark genug, um mich länger zu beschäftigen, und als ich den Motor anlasse, konzentriere ich mich endgültig auf den Weg nach Hause. Ich fühle mich seltsam leer.

  Es ist kurz vor eins, bis ich den Wagen in der Garage geparkt habe und die breiten Stufen von der Einfahrt zur Haustür hinaufsteige. Das Haus, in dem ich mit Jackson zusammenwohne, gehört meinem Vater. Er kauft gern Immobilien wie diese, weil sich das erstens steuerlich günstig auswirkt und zweitens zuverlässig im Wert steigt, selbst wenn es vom abgefuckten Sohn bewohnt wird.

  Habe ich gerade im Zusammenhang mit mir selbst das Wort abgefuckt verwendet? Nicht gut. Du bist, was du denkst.

  Die Villa hat zwei Stockwerke und ist zur Straße hin im oberen Bereich vollverglast. Der untere Teil, in dem sich nur die Gästetoilette, der Trainingsraum und eine Art Abstellzimmer befinden, in das Jackson und ich alles reinwerfen, wofür wir gerade keine Verwendung haben, ist bis auf die vordere Wand in einen Hügel eingegraben. Wie eine verdammte Hobbithöhle. Aber dafür ist der eigentliche Wohnbereich umso heller und weitläufiger.

  Ich streife die Schuhe ab und steige die Wendeltreppe am Ende des langen Flurs hinauf. Alles ist still. Nicht ganz selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass Jackson heute Vormittag angekündigt hat, Haven, seine Freundin, übernachte bei ihm. In der riesigen Küche mache ich mir einen Wodka Lemon und lasse mich damit im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Bei Victoria habe ich mich noch müde gefühlt, jetzt allerdings bin ich wieder hellwach. Ich schalte den Fernseher ein und zappe mich durch die Streamingkanäle.

  «Hey, schon wieder hier? Ich dachte, du bist heute bei Vic?» Jackson tritt aus dem Flur, von dem aus sein und auch mein Zimmer abgehen.

  «Und ich dachte, du schläfst gerade mit Haven. Schon fertig?»

  Er schüttelt nur den Kopf und geht in Richtung Küche. Als er wiederkommt, hat er sich eine Flasche Wasser unter den Arm geklemmt und trägt zwei Gläser in der Hand. «Ist alles in Ordnung?»

  Überrascht blicke ich auf. Auf dem Bildschirm werden einem Typen gerade die Eingeweide von einem Zombie herausgefressen. «Klar. Und bei dir?»

  «Hast du Vic abserviert?»

  «Wie kommst du jetzt darauf?»

  «Dass du mitten in der Nacht vor dem Fernseher klebst, obwohl du mit einer Frau verabredet warst, ist ein recht zuverlässiger Hinweis.»

  «Es ist halb zwei.»

  «Du magst Morgen-Quickies.»

  «Ist es dir nicht peinlich, so etwas zu wissen? Wie gut kennen wir uns eigentlich?»
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br />   «Ach, egal. Viel Spaß noch.»

  «Danke.»

  Jackson hat bereits den Flur erreicht, da dreht er sich noch einmal um. «Untersteh dich, mich morgen früh zu wecken. Ich lasse das Training mal ausfallen.»

  «Als ob du jeden Tag mitmachen würdest.»

  «Das nicht, aber du nervst mich oft genug damit.»

  «Weil mir deine Gesundheit am Herzen liegt.»

  «Hämmer morgen früh einfach nicht an meine Zimmertür.»

  «Botschaft verstanden. Dein Morgen-Quickie liegt mir natürlich auch am Herzen.»

  Jackson murmelt noch irgendetwas, dann verschwindet er endgültig, und ich stelle fest, dass ich nicht mitbekommen habe, wen die Zombies jetzt zerfleischen. Gelangweilt zappe ich weiter.

  Das Licht des Morgengrauens kriecht bereits durch die Fenster, als ich den Fernseher ausschalte, mir das Shirt über den Kopf zerre und gerade dabei bin, mich meiner Hosen zu entledigen, um noch eine Runde auf dem Sofa zu pennen, als mir einfällt, dass Haven später hier rumlaufen wird. Wegen mir kann mich halbnackt sehen, wer will, aber ich schätze, anschließend müsste ich mit Jackson darüber diskutieren.

  Der Umzug in mein Bett vertreibt allerdings leider die wattige Schläfrigkeit, die sich endlich in mir auszubreiten begonnen hatte. Die Vorhänge sind zu dünn, um den Raum zu verdunkeln, und es dauert nicht lang, da tanzen Sonnenflecken darauf. Meine erste Vorlesung findet erst um Viertel nach zwölf statt, doch bis dahin wollte ich wenigstens noch drei, vier Stunden Schlaf abgekriegt haben. Stattdessen liege ich jetzt da und starre an die Decke.

  Jackson findet mein Zimmer spartanisch, ich nenne es minimalistisch. Bilder, Kissen, Grünzeug – brauche ich alles nicht. Mir ist es lieber, die Welt um mich herum ist möglichst … leer. Aufgeräumt. Macht es auch der Haushälterin leichter, zweimal in der Woche hier durchzuputzen, während Jackson darauf besteht, sein Zimmer vorher aufzuräumen. Soll er. Mir wäre das zu langweilig. Nicht dass es vieles geben würde, was ich stattdessen interessant fände. Sex gehört normalerweise dazu – besser kann man sich kaum ablenken. Nur wird Sex mit ständig derselben Frau auch irgendwann langweilig. Gibt leider nicht viele Frauen, die das verstehen.

  «Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich sogar durch reine Bettbeziehungen eingeengt fühlt», hat Jackson mal gesagt. «Nimm’s mir nicht übel, aber ich wünsche dir wirklich, du würdest mal auf der anderen Seite stehen.»

  Das war, nachdem sich Allison, eine Freundin von Haven, bei Haven ausgeheult und Haven mich daraufhin zur Rede gestellt hat. Hätte ich gewusst, dass Ally mit ihr befreundet ist, hätte ich die Finger von ihr gelassen, so viel ist sicher. Nicht weil ich Havens Vorwürfe nicht ertragen könnte, sondern einfach weil es vermeidbarer Stress ist. Es gibt andere Frauen, und ich bin froh um jede, die an die ganze Sache herangeht wie ich: Man hat Spaß, solange es eben andauert, und wenn einer keine Lust mehr hat, ist es auch okay. Ich würde nie auf die Idee kommen, mich an eine Frau zu klammern, sobald sie mit der Geschichte durch ist. Im Gegenteil – es wäre mal ganz angenehm, ausnahmsweise mal nicht derjenige zu sein, der sich alles Mögliche anhören muss, nur weil man die Reißleine zieht. Weil man zum Beispiel bemerkt hat, dass es für den anderen ernster wird als für einen selbst.

  So wie vorhin bei Victoria. «Das gehört alles dir», hat sie gesagt, während sie lasziv ihre Hüften vor mir kreisen ließ und nach meinen Händen griff, um sie auf ihre Brüste zu legen. «Und nur dir.»

  Es sollte wohl locker klingen, aber ich hab’s in ihren Augen gesehen. Besser jetzt und so als in einigen Wochen unter Tränen.

  Ich wünschte, ich könnte schlafen. Es ist so mühsam, nicht schlafen zu können und es trotzdem ständig zu versuchen. Wie lange kann man eigentlich ohne Schlaf auskommen?

  Vielleicht bin ich ja selbst schon seit Ewigkeiten ein gottverdammter Zombie und weiß es nur nicht?

  2.

  Rae

  Ich habe mit Haven verabredet, sie bei Jackson abzuholen. Das Haus, in dem er zusammen mit einem Typen namens Cayden wohnt, hat mich bei meinem ersten Besuch vor einigen Monaten ziemlich umgehauen. Es ist eine elitäre, moderne Luxusvilla, und ich konnte schier nicht fassen, dass dort allen Ernstes nur zwei Studenten wohnen. Ich mag Jackson, aber Cayden Terrell ist ein arroganter Arsch, der das Glück hat, so beeindruckend gut auszusehen, dass die meisten Menschen ihm trotzdem hinterherrennen. Und das sage ich, obwohl ich eher auf dunkelhaarige Typen stehe und Cayden mit seinem silberblonden Haar nicht mal in mein Beuteschema passt. Trotzdem hat er eine faszinierende Perfektion an sich, die ich gleichermaßen anziehend wie unangenehm finde. Ich mag es nicht, wenn alles nur unnahbare Fassade ist. Einer der vielen Gründe, aus denen ich Haven liebe: Sie verstellt sich nicht. Haven ist vermutlich der ehrlichste Mensch, den ich kenne.

  Auf einer Party hat Cayden mal einen blöden Spruch über das Sexleben von Haven und Jackson gemacht, und während alle lachten und Jackson genervt die Augen verdrehte, hat Haven gefragt, warum dieses Thema für Cayden so wichtig sei. Ganz ernsthaft, wie es eben ihre Art ist – sie möchte die Dinge immer verstehen.

  Cayden hat sie daraufhin angegrinst und gemeint, er betreibe gelegentlich Feldforschung in dieser Hinsicht, als Ausgleich für sein anspruchsvolles Jurastudium.

  Haven schien sich nicht sicher zu sein, wie ernst sie Caydens Antwort nehmen sollte, weshalb ich mich eingemischt habe, um ihr beizustehen. «Dann erzähl uns doch ein bisschen was über deine persönlichen Erfahrungen – oder hast du nicht so viele und musst deshalb über andere reden?»

  Cayden hat mich gemustert, fast so, als würde er mich erstmalig überhaupt wahrnehmen, und dann hat er sich ein Stück weit vorgebeugt. Noch immer sehe ich sein scharfgeschnittenes Gesicht vor mir, die glatte Haut und das helle Haar, das ihm dabei bis fast in die Augen fiel, bevor er es mit einer Hand nachlässig zurückstrich. «Möchtest du gern Teil meiner Feldforschung werden?»

  Es passiert mir nicht oft, aber in diesem Fall sorgte die Kombination aus dem Gelächter der anderen und Caydens unverwandtem Blick dafür, dass meine Antwort zwei Sekunden zu lang auf sich warten ließ. «Danke, aber da bleibe ich doch lieber bei der Theorie.»

  Er lächelte spöttisch. «Ja, ist auch sicherer.»

  Seitdem weiß ich nicht nur, dass man sich bei Gesprächen mit Cayden Terrell in Acht nehmen muss, sondern obendrein, dass er ein Idiot ist.

  Entsprechend knapp fällt meine Begrüßung aus, als er mir auf mein Klingeln hin die Tür öffnet.

  «Hi», sagt er und tritt zur Seite, um mich hereinzulassen, wartet jedoch nicht, bis ich die Tür wieder geschlossen habe. Vor mir her geht er durch die Diele, sein graues Shirt hat entlang seiner Wirbelsäule verschwitzte, dunkle Flecken. «Haven ist oben.»

  Es gelingt mir nicht, meine Neugier so weit zu zügeln, dass ich nicht kurz in den Raum sehen würde, in dem er verschwindet.

  Ein eigenes Fitnessstudio. Wahnsinn.

  Cayden hängt sich an eine Klimmstange und zieht sich langsam hoch. Ich kann die Muskeln seiner Oberarme erkennen. So genau habe ich mir Caydens Arme noch nie angesehen, aber ganz eindeutig ist das nicht der erste Klimmzug seines Lebens.

  «Was ist?» Auf halber Höhe hält er inne und wirkt dadurch seltsam schwerelos. «Willst du mitmachen?»

  Vielleicht wäre er überrascht, wüsste er, dass ich bei seinen Klimmzügen problemlos mithalten könnte. Allerdings sehe ich keinen Grund, ihm das auf die Nase zu binden.

  «Danke, nein, ich will dich nicht frustrieren», erwidere ich und steuere endlich die Wendeltreppe an. Hinter mir kann ich Cayden doch tatsächlich lachen hören, aber davon werde ich mich jetzt nicht provozieren lassen.

  Haven und ich wollen gleich zu einer Probeyogastunde. Unsere Lehrerin soll nicht nur zertifizierte Asana-Flow-Trainerin sein, sondern auch noch spirituelle Lebensberaterin, Atemtherapeutin und obendrein ausgebildet in intuitiver Massage. Ich bin ziemlich gespannt und nur ein kleines bisschen skeptisch. Bisher haben mir meine Yoga-YouTube-Videos völlig ausgereicht, aber warum nicht mal etwas Neues ausprobieren?

  «Hi, ich hab die Klingel gehört.» Meine Freundin kommt mir durch das geräumige Wohnzimm
er hindurch bereits entgegen und schlüpft dabei in ihren zweiten Jackenärmel. «Wir können direkt los.»

  Jackson ist ihr ein paar Schritte hinterhergegangen. Seine dunklen Haare stehen nach allen Seiten ab, und er trägt nur ein graues Shirt über einer schwarzen Jogginghose. Grüßend hebt er die Hand. «Viel Spaß. Habt ihr danach noch was vor?»

  «Keine Ahnung. Hast du später überhaupt noch Zeit, Rae?», will Haven wissen.

  «Klar. Wir könnten ins Strawberry Kiss gehen.» Ich kenne dieses Café durch Haven, jetzt im Mai ist endlich die Eissaison wieder eröffnet, und außerdem gibt es da den besten Zimt-Caramel-Macchiato, den ich je getrunken habe.

  «Gute Idee!» Sie wirft Jackson eine Kusshand zu, bevor sie nach dem Geländer der Wendeltreppe greift. «Wir sehen uns morgen.»

  Diesmal achte ich darauf, nicht in den Trainingsraum hineinzublicken, und nur Haven steckt den Kopf durch die noch immer geöffnete Tür. «Bis dann, Cayden!»

  Warum sie gleichbleibend freundlich zu ihm ist, kann ich nicht nachvollziehen. Ich meine – dieser Typ kann wirklich nur zynisch, spöttisch oder gleichgültig.

  Von hier aus sind es keine zwanzig Minuten zu Fuß bis zum Yogastudio, und Haven nutzt die Gelegenheit, mir zu erzählen, wie froh sie darüber ist, die meisten Semesterarbeiten hinter sich zu haben, und dass sie sich wie verrückt auf den USA-Trip freut, den sie seit Wochen mit Jackson plant. Den ganzen April – und schon Wochen vorher – hat sie sich Sorgen gemacht, sie könne irgendwo durchfallen, dabei müsste sie mittlerweile wissen, dass ihre Erwartungen an sich selbst weit höher sind als das, was in ihrem Studium von ihr verlangt wird. Sämtliche Prüfungen und Hausarbeiten im vorhergehenden Semester hat sie mit super Bewertungen bestanden, und das wird diesmal bestimmt nicht anders sein.

  «Wie geht’s Jackson?», will ich wissen. «Ist er auch so erleichtert wie du?»

  «Total. Aber vor allem ist er noch immer glücklich darüber, dass er das Studienfach gewechselt hat.»

 

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