Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 12

by Peter Singewald


  Estron hatte gelächelt. Das Wesen schien genau gewusst zu haben, wo er saß.

  „Komm doch näher!“ Obwohl er noch nie jemanden gesehen hatte, der so aussah, oder sich auf diese Weise bewegte, hatte Estron keine Angst. Er hatte vor den wenigsten Wesen wirklich Angst, denn inzwischen hatte er von so vielen erfahren, dass sie auch nicht anders waren als er, selbst wenn sie Federn anstelle von Haaren hatten und ihre Streitigkeiten beilegten, indem sie sich mit ihrer Scheiße bewarfen.

  Schließlich, als wenn das Wesen noch hatte überlegen müssen, kam eine Antwort, wobei sich das Wesen weiter auf Estron zubewegte.

  „Mhm, du hast mich gesehen? Man hatte mich ja gewarnt, dass du etwas Besonderes wärst.“

  Und mit einem Satz stand die Gestalt vor Estron. Sie war kahlköpfig, stämmig, wenn nicht sogar ein wenig untersetzt und trug ein spitzbübisches Lächeln auf seinem jungen, glatten Gesicht. Außerdem war er wohl gute zwei Köpfe kleiner als der Keinhäuser.

  „Erstaunlich“, bemerkte Estron. Er hatte noch keinen gesehen, dennoch war er sich sicher, dass ein Aleneshi vor ihm stand, einer von jenen, die von einigen verächtlich Hutzler oder sogar Zwerge genannt wurden. Allerdings war in keinem der Berichte, die er von anderen gehört hatte, jemals von einer so großen Gewandtheit und Schnelligkeit die Rede gewesen. Estron war sich sicher, dass diejenigen, die ihm von den Aleneshi berichtet hatten, so etwas Außergewöhnliches erwähnt hätten.

  „Es scheint so, als wenn du mich bereits kennen würdest.“

  „Kennen? Nö, kann man nicht sage. Aber ich habe einige Freunde, die mir von dir berichtet haben. Du bist immerhin so etwas wie eine Berühmtheit in den Dörfern und ich habe selten von jemandem mit so viel Wohlwollen sprechen hören, wie von dir.“

  „Willst du mir schmeicheln?“ Der Keinhäuser musste erneut lächeln. Langsam streckte er seine Beine aus, um sich aus dem Schneidersitz zu lösen, in dem er bisher gesessen hatte, und anschließend hinzuknien. „Und du bist ein Aleneshi?“

  „Oh, ein Gebildeter!“ Leichtfüßig machte das Wesen einen weiteren Schritt neben Estron und kniete sich ebenfalls hin. „Du kennst sogar den alten Namen. Und das bei einem Menschen. Ich fühle mich geehrt. Meine Freunde haben wirklich nicht gelogen.“

  „Du kennst vermutlich sogar meinen Namen, oder?“

  „Estron, man nennt dich den Keinhäuser. Obwohl ich der Meinung bin, dass das keine angemessene Bezeichnung für dich ist.“ Estron blickte den Aleneshi interessiert an, bis dieser hinzufügte: „Na, es gibt so viele andere, die auch kein Haus haben.“ Das Grinsen auf dem Gesicht des kleinen Wesens wurde so breit, dass man wohl zu Recht annehmen konnte, ein Karaka hätte nicht breiter Grinsen können. Und Estron wusste, wie breit das Grinsen eines Löwenfeens sein konnte.

  „Warum habe sie dich nicht den Dorfwanderer genannt, oder den Bodenschläfer. Auch Baumfreund wäre ein guter Name gewesen. Aber nein, sie geben dir einen vollkommen nichtssagenden Namen.“

  Estron lachte laut auf. Das kleine Wesen sah ihn dabei einfach nur lächelnd von der Seite an.

  „Du bist mir jetzt deutlich im Vorteil. Darf ich vielleicht auch deinen Namen erfahren?“

  „Natürlich. Hatte ich ihn noch nicht genannt? Meine Freunde nennen mich Shaljel.“

  „Die Sprache der Aleneshi ist eine sehr weiche Sprache, wie es scheint.“

  „Och, das kann man eigentlich nicht sagen. Ich habe immer eher das Gefühl, dass sie in der Kehle kratzt.“

  Estron hörte alles, was Shaljel sagte, aber erst später fiel ihm auf, dass man nur über eine fremde Sprache in dieser Weise sprach.

  „Und wie nennen dich deine Feinde?“

  „Ich wüsste nicht, dass ich Feinde habe, zumindest keine, von denen ich wüsste oder die mir irgendetwas zu sagen haben.“

  „Ach, das überrascht mich jetzt aber. Ich hatte gedacht, dass ihr Aleneshi genügend Feinde in den Städten haben solltet, nach den vielen Verfolgungen, die es inzwischen dort gab.“

  „Ich glaube nicht, dass man das als Feindschaft betrachten kann. Menschen sind einfach unheimlich dumm und lassen sich viel zu einfach alles Mögliche einreden.“

  Sie sahen sich für einen langen Moment lächelnd an. Schließlich fügte Shaljel hinzu, „Anwesende natürlich ausgeschlossen.“

  So war das Gespräch dahingeplätschert. Sie hatten sich auf freundliche Weise ausgefragt, wobei Estron immer das Gefühl hatte, dass der Aleneshi eigentlich nichts zu fragen hatte und selbst auch nur sehr unzureichende und wage Antworten zu geben bereit war. Aber er wollte nicht tiefer bohren. Das war nicht seine Art. Wenn Shaljel ihm etwas erzählen wollte, dann würde er es über kurz oder lang auch tun. So hatte Estron es immer gehalten und dadurch, dass er bereit war, zuzuhören, erzählten ihm am Ende auch die meisten alles, was er wissen wollte.

  Irgendwann hatte Estron jedoch fragen müssen, was den jungen Aleneshi so allein in den Wald getrieben hatte.

  „Ich bin auf Wanderschaft. Das machen wir manchmal so. Wir wandern von einer Zuflucht zur anderen. Irgendwer muss ja schließlich Nachrichten von einem Ort zum anderen bringen.“

  An dieser Stelle des Gespräches war sich der Keinhäuser nicht mehr ganz sicher gewesen, ob er dem kleinen Aleneshi vertrauen konnte oder nicht. Aber er war zu neugierig, um das Gespräch abzubrechen, und eine solche Gelegenheit für Gedankenaustausch verstreichen zu lassen.

  „Kann ich dich vielleicht begleiten?“

  „Ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee wäre.“

  „Du meinst, ihr Aleneshi wollt keine Menschen bei euch haben.“

  „So kann man es auch ausdrücken. Außerdem denke ich nicht, dass es eine gute Idee wäre, einem Menschen eines unserer Verstecke zu offenbaren.“

  „Was soll ich sagen? Ich verstehe dich gut, aber ich bin natürlich auch enttäuscht, dass ich nicht endlich auch mal eine Gemeinschaft deines Volkes sehen kann.“

  Shaljel hatte still geradeaus geblickt, als würde er eine schwierige Entscheidung treffen müssen.

  „Andererseits kann es vielleicht nicht schaden, wenn wir tatsächlich einmal den Großen vertrauten und jemanden wie dich zu uns kommen ließen.“

  Der Blick des Aleneshi war weiterhin in die Ferne gerichtet gewesen, aber er schien schon überlegt zu haben, wie er das gesagte in die Tat umsetzen könnte. Estron hatte ihn forschend und hoffnungsvoll angesehen. Er hatte nie zu hoffen gewagt, dass er tatsächlich einmal zu einer der geheimnisvollen Gemeinschaften der Aleneshi gelangen würde, geschweige denn, dass ihn ein Aleneshi einladen würde.

  „Bist du sicher? Ich meine ... ich meine, ihr würdet ja doch ein Risiko eingehen.“

  „Ich glaube nicht, dass wir ein Risiko mit dir eingehen. Deine Gefährten könnten schon ein größeres Problem werden. Sie müsstest du wohl eine Weile allein lassen.“

  „Das geht nicht.“ Der Satz war über Estrons Lippen gekommen, noch bevor er auch nur einen Moment lang hatte überlegen können.

  „Oh, aber warum nicht? Du bräuchtest sie doch nur für einen kleinen Moment lang allein lassen, sagen wir mal drei, vier Tage.“

  „Sie sind meine Schüler.“

  „Und warum kannst du sie dann nicht mal allein lassen?“

  „Ich bin ihr Lehrer. Das musst du doch verstehen! Ich bin für sie verantwortlich. Ich muss auf sie aufpassen. Und ihnen etwas beibringen. Ich kann sie nicht allein lassen. Sie vertrauen mir.“ Estron war tatsächlich etwas aufgebracht gewesen, als er dies gesagt hatte.

  Shaljel sah ihn erstaunt an. „Ach so. So hatte ich das bisher noch nie gesehen. Was machen wir denn da?“

  „Mach dir keine Gedanken.“ Estron war wieder etwas ruhiger geworden. „Je mehr Menschen zu euch kommen, desto größer ist ja auch die Gefahr für euch. Es wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein. Naja, vielleicht bietet sich ja doch nochmal die Gelegenheit.“

  „Du würdest tatsächlich eher auf die Möglichkeit verzichten, zu uns zu kommen, als deine Schüler für ein paar Tage alleine zu lassen? Erstaunlich, wirklich erstaunlich.“

  Nachdem Shaljel ihn kurz angesehen hatte, war sein Blick ein drittes Mal in die ferne gewandert, gerade so, als wenn er
überlegt hätte, wie er auch dieses Hindernis überwinden könnte. Wenn nicht schon so einige andere Ungereimtheiten gewesen wären, spätestens jetzt hätte Estron vermutet, dass dieses Treffen nicht so zufällig gewesen war, wie der Aleneshi es versucht hatte, scheinen zu lassen.

  „Ich weiß ja, dass du nicht viel von uns Menschen hältst, aber auch einige von uns glauben, dass es Regeln gibt, und Gebote, und Pflichten, denen man sich nicht entziehen darf, selbst wenn viele von uns selbst gegen das Gebot der Gastfreundschaft verstoßen.“ Estron wusste, dass man so manches sagte, nicht weil man wirklich etwas zu sagen hatte, sondern im Gegenteil, weil man eben nichts zu sagen hatte. Und deshalb hatte er nach diesem Satz geschwiegen und die Stille ertragen, in der der Aleneshi nachdachte. Er hatte nicht gewagt, zurück in seine Meditation zu fallen, aus Angst, dass Shaljel dann verschwunden gewesen wäre. So hatte er sich gerade noch getraut, den Blick von dem Aleneshi abzuwenden, um sich vorsichtig selber einige Gedanken zu machen.

  Hätte man ihn vor dieser Begegnung danach gefragt, ob er seine Schüler für ein paar Tage allein lassen würde, er hätte geantwortet, dass sie doch erwachsen waren, eigenständige, denkende Menschen, die sich in der Natur auskannten. Unerklärlicher Weise wagte er jetzt nicht mehr, sie sich selbst zu überlassen. Zu sehr waren sie ihm ans Herz gewachsen. Und wenn er recht überlegte, zu sehr hatte er Angst davor, dass ihnen dasselbe Schicksal zustoßen könnte, wie Unie und Lesigo. In jenem Moment, als er neben Shaljel gesessen und darauf gewartet hatte, dass jener etwas sagen würde, war ihm zum ersten Mal aufgefallen, dass er noch nie mit seinen beiden Schülern über seine Vergangenheit gesprochen hatte, abgesehen von dem, was er als lehrreich betrachtete.

  „Wir werde sehen, was ich tun kann, aber ich denke, ihr werdet alle drei eine Gemeinschaft der Aleneshi zu Gesicht bekommen. Erwartet nicht, dass man euch mit offenen Armen empfängt, aber man wird euch auch nicht abweisen oder gar töten.“ Unvermittelt war Shaljel aufgesprungen, um sich breitbeinig vor ihm hinzustellen. Estron hatte nichts zu sagen vermocht, so überrascht war er von der plötzlichen Aktivität des Kleinen und es dauerte einen Augenblick, bis das Gesagte zu ihm gedrungen.

  „Aber ... das ist doch nicht möglich ... ich meine, warum jetzt plötzlich doch?“ hatte er gestammelt, aber Shaljel war unbeeindruckt geblieben und hatte weitergesprochen: „Folge dem Schatten, den die Abendsonne wirft, bis du zu einem kleine Fluss kommst. Nachdem ihr diesen überquert habt, kommt ihr der Ruhe der Sonne näher. Du kennst das Gebirge, oder“, Estron nickte. Er mochte dieses gewaltige Gebirge nicht, konnte aber nicht sagen, warum. „Gut. Wenn ihr immer auf das Sonnenhorn, den Ausläufer des Gebirges, zuhaltet, dann werde ich dich und deine Schüler auf deiner Wanderschaft finden. Wenn der Mond einmal den Ring durchstoßen hat und wieder an diesem Punkt am Himmel erscheint, solltet ihr auf mich treffen“ Dann hatte er sich verbeugt und war davon gegangen, gemächlich, aber doch bestimmt, ohne einen Gruß Estrons abzuwarten.

  Der Keinhäuser hatte in Gedanken verloren dort gekniet, bis seine beiden besorgten Schüler ihn schließlich gefunden hatten. Sie hatten ihn mit Fragen bedrängt, die er, entgegen seiner eigentlichen Absicht, ihnen alle Fragen zu beantworten, nicht beantwortet hatte. Aber was hätte er tun sollen. Er hatte Shaljel zwar kein Versprechen gegeben, aber dennoch fühlte er sich verpflichtet diese Geheimnis zu wahren.

  Seitdem hatte sich vieles geändert. Zum einen waren Kam-ma und Tro-ky wieder vorsichtiger damit geworden, was sie zu fragen wagten. Estron war zwar immer noch offen und darauf bedacht, sie alles zu lehren, aber dieses Geheimnis musste zu ihrem eigenen besten gewahrt bleiben. Es bestand immer noch die Gefahr, dass Sonne und Schwert sie fingen. Und je weniger seine beiden Schüler von dem wussten, was Shaljel bei dem Gespräch damals gesagt hatte, desto besser konnte es nur für sie im Falle der Folter sein.

  Estron hatte aber auch begonnen, den beiden von seinen Wanderungen zu berichten. Zuerst hatten seine Erzählungen einen weiten Bogen um die Zeit mit den beiden Feenlingen geschlagen. Aber schließlich hatte er sie doch erwähnt. Kam-ma hatte merklich aufgehorcht, was eine Leistung war, so wie die beiden an seinen Lippen hingen, sobald er etwas zu berichten hatte. Zuerst hatte Estron befürchtet, dass sie eifersüchtig auf die früheren Gefährten des Keinhäusers werden würden. Dann aber war ihm klar geworden, dass sie anscheinend zum ersten Mal begriffen hatten, in welcher Gefahr sie sich befanden, solange sie ihn begleiteten. Estron konnte nicht erahnen, ob das gut oder schlecht war, aber er glaubte, dass die Kenntnis der Gefahr Leben retten konnte

  Er hatte ihnen jedoch noch nicht berichtet, was geschehen war, als Unie in seinen Armen verblutet war. Und dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er es nicht erzählte, weil sie ihn vielleicht noch mehr bewundern könnten, und er das nicht hätte ertragen könne, oder weil es hätte sein könne, dass sie sich von seiner Gewalttätigkeit abgestoßen fühlen würden.

  *

  Hylei war gewiss nicht glücklicher in den letzten fünf Jahren geworden. Sie vermisste immer noch ihre Eltern, obwohl sie manchmal, wenn die Wut sie überkam, glaubte, von ihnen verraten worden zu sein. Aber welche Eltern sie nun wirklich verraten hatten, wusste sie in diesen Momenten nie zu sagen. Waren es diejenigen gewesen, die sie im Wald ausgesetzt hatten, oder diejenigen, die sie all die Jahre gepflegt hatten. Denn so viel wusste sie inzwischen, dass es irgendwo da draußen jemanden gab, der Feenlinge zur Welt brachte und sie aussetzte. Ob dies wirklich die geheimnisvollen Feen waren, von denen die Feenlinge ihren Namen ableiteten, oder irgendjemand anderes, hatte sie nicht herausfinden können. Niemand unter den anderen Feenlingen konnte oder wollte sich mit dieser Frage beschäftigen. Und wenn sie es genau nahm, konnte es ihr auch gleichgültig sein, ob sie nun von irgendwelchen herzlosen Wesen geboren und ausgesetzt worden waren oder womöglich ein verrückter Drache sie gezüchtet hatte. An ihrer aller Situation hätte sich nichts geändert.

  Vielleicht empfand Hylei ihr größtes Unglück immer noch darin, nicht gestorben zu sein. Sie wusste zwar inzwischen, dass nur Dummköpfe sich selbst das Leben nahmen, aber es gab ausreichend Gelegenheiten zu sterben, ohne selbst Hand an sich legen zu müssen. Die anderen Feenlinge in Der Stadt, wie sie die Ansammlung an Baumhäusern nannten, waren sehr unglücklich darüber, dass Hylei so dachte. Nicht zuletzt, weil sie sich und andere damit immer wieder in Gefahr brachte. Dennoch wussten sie ihre Entschlossenheit in Gefahrensituationen zu schätzen, auch wenn einige dieser Gefahren von Hylei provoziert zu werden schienen.

  Die Stadt war inzwischen zu ihrer aller Heimat geworden. Doch war dies nicht auf die Heimelichkeit des Ortes oder die Zuneigung seiner Bewohner zurückzuführen. Nirgends sonst schien man sie haben zu wollen. Es war schwer für Hylei zu begreifen gewesen, dass diese Ablehnung nicht nur auf Neid gegründet war. Aber Atensul, der Jäger, der die Bande angeführt hatte, von der sie gefunden worden war, hatte sich sehr große Mühe gegeben, ihr all das beizubringen, was sie zum besseren Verstehen der Welt der Feenlinge benötigte. Er schien sich immer noch für sie verantwortlich zu fühlen, obwohl sie doch schon lange ihre eigene Bande gegründet hatte. Sein Gefühl der Fürsorglichkeit ging so weit, dass er alles Denkbare und undenkbare getan hatte, um in ihre Bande aufgenommen zu werden. Die dunkle Yari, ein weiteres Mitglied ihrer Bande und die einzige, die man vielleicht als Hyleis Freundin betrachten konnte, hatte ihr einmal von einem Ausspruch des Weisen Mannes ihres Heimatdorfes berichtet. Darin hatte dieser alte Mann, der vermutlich längst tot war, behauptet, dass jeder, der einen Selbstmörder rettet, für alle Taten verantwortlich wäre, die dieser in seinem weiteren Leben beging. Yari hatte nicht über diese angebliche Weisheit gelacht, wie sie es oft bei allzu vielen anderen Dingen tat, was nur heißen konnte, dass der kleine Krauskopf daran glaubte. Dennoch musste dies nicht bedeuten, dass Atensul tatsächlich dieser Lehre folgte. Hylei hätte keinen Gott gewusst, der einem Lebensretter eine solche Strafe auferlegt hätte, wobei sie auch zugeben musste, dass sie viele der Götter der anderen Feenlinge nicht kannte oder zu wenig über sie wusste. Für Hylei kam aber auch noch ein anderer Grund für Atensuls Fürsorglichkeit in Frage. Vielleicht war er ja in sie verliebt. Ein Geda
nke, der Hylei gefiel und schmeichelte, wenn sie auch am Ende immer nur belustigt war, sobald sie daran dachte ... Ihrer Meinung nach musste man sehr dumm sein, um sie zu lieben, sie, die sich mit ihrer Bande immer wieder dem Tod näherte. Aber vielleicht war ja auch in ihm die Sehnsucht nach dem Tod, so wie in ihr. Denn die Feenlinge schienen, mit nur wenigen Ausnahmen, dem Tod näher zu sein, als dem Leben. Vielleicht lag es daran, dass jeder von ihnen schon ein Menschenleben gelebt hatte, bevor er hierher gelangte.

  Die Stadt bestand aus gut dreißig Baumhäusern, alle groß genug, um einige Vorräte zu lagern und 5 Feenlingen Schutz vor den täglichen Unbillen zu bieten. Die Häuser selbst waren in den höchsten Bäumen errichtet worden und gegen den Blick von unten so gut wie irgend möglich durch Äste und andere, kleinere Bäume, geschützt. Sie machten nicht viel her, waren sie doch nur aus krudem Holz, Stroh und Moos gebaut worden. Man konnte sie nur über Strickleitern oder Seile, die zwischen den einzelnen Häusern gespannt waren, erreichen, es sei denn man war ein sehr guter Kletterer. Im Winter froren die Feenlinge bitterlich in den Baumhäusern, da es zu riskant gewesen wäre, sie zu beheizen. Deswegen kehrten sie, sobald das Laubdach der Bäume keinen Schutz mehr vor dem Wind bot, auf den Boden zurück. Dort waren fast über eine Tagesreise verteilt eine große Anzahl Häuser im Wald versteckt. Sie schmiegten sich an die Bäume, lagen unter Baumwurzeln, verbargen sich in Höhlen und ein paar waren in immer grünen Büschen verborgen. Die meisten dieser Häuser waren das ganze Jahr über bewohnt, so dass die Baumhausbewohner oft in kleinen Familien Aufnahme fanden, wenn ihre eigenen Behausungen zu kalt wurden. In Krisenzeiten hingegen verbargen sich auch diese Familien in den Baumhäusern, die dann mehr als Eng wurden und manchmal gefährlich zu schwanken begannen. Ansonsten waren die Baumhäuser den Anführern der Banden vorbehalten, denjenigen Feenlingen, die mit der Außenwelt in Kontakt kamen, und den Weisen Leuten, die von allen, außer von den Mitgliedern der Banden als Anführer der Stadt betrachtet wurden. Die Banden hätten niemals jemanden über sich als Anführer anerkannt, obwohl sie auf den „guten Rat“ der Alten hörten. Selbst untereinander fiel es den Banden manchmal schwer, ihre Vorgehensweisen abzustimmen, weswegen es ein Glück war, dass jede Bande ihre eigenen, festgelegten Gebiete zu kontrollieren hatte. Die Banden waren die Wächter, Krieger und auch Organisationskünstler der Feenlinge. Kam jemand den Häusern der Feenlinge zu nahe, wurden die Banden losgeschickt. Brach irgendwo ein Feuer aus, waren die Banden dafür verantwortlich, es zu löschen. Benötigte die Stadt neues Metall, gingen die Banden los, um es aus den Menschendörfern zu besorgen. Alle Mitglieder der Banden fühlten sich als etwas Besonderes, und jeder von ihnen wusste, dass die Stadt eigentlich nur der Bereich war, in dem sie selbst wohnten: die Baumhäuser auf den höchsten Bäumen, auch wenn alle anderen die Bodenhäuser mit einbezogen.

 

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