Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 42

by Peter Singewald


  Schließlich ohrfeigte er den Mann. Endlich rührte sich Lanei und Enk konnte ihn hochziehen. Es dauerte noch eine Weile, bis er ihn auch auf den Beinen bei halbwegs klarem Verstand hatte.

  „Wer seid ihr?“

  „Jemand, der dich hier rausholen will. Nenn mich Strick. Und du bist Lanei?“

  „Ja, woher kennt ihr mich?“ Die Worte kamen langsam.

  „Später. Wir müssen jetzt erst einmal hier herauskommen. Tu, was ich dir sage, und dir wird nichts geschehen. Es wird ein wenig unangenehm für dich werden, aber ich vermute, du hast hier schlimmeres erlebt.“ Enk warf einen Blick auf die Hände des Hünen an denen verschiedene Finger in Richtungen zeigten, in die sie nicht zeigen sollten.

  Lanei nickte und folgte Enk, der die Zelle verließ, sie wieder abschloss. Enk deutete dem Befreiten an, zur Tür zu gehen, während er die Kerze wieder an ihren Platz stellte.

  Auf der Treppe ließ er Lanei ihn an den Gürtel fassen so gut es mit den gebrochenen Finger ging. Auf den Gängen blieb er immer ein paar Schritte vor ihm, um in Ruhe Ausschau halten zu können. Enk spürte, wie das Kloster langsam aufwachte. Es waren kleine Geräusche, die von den Drehungen auf den Pritschen herrührten. Oder vom Strecken der Arme und Beine. Bald wären ihnen die Wege versperrt, deswegen verzichtete er auf einen Teil der Vorsicht und vergrößerte ihre Geschwindigkeit. Sie erreichten den Aufgang ungesehen und konnten bald von der Loggia hinunterblicken. Hier galt es, die Wachen abzuwarten, um dann ungesehen die Mauer hinunterzugelangen. In diesem Moment ging Enk ein Fehler in seinem Plan auf, denn Lanei konnte unmöglich mit diesen gebrochenen Fingern ein Seil hinunterklettern. Blieb nur Abseilen. Enk seufzte und beschrieb dem großen Mann, was zu tun war. Dieser ließ alles mit sich geschehen, und ergab sich in sein Schicksal.

  Sobald die Wachen vorbeigegangen waren, inzwischen weniger wacker und aufrecht als noch zu Beginn der Nacht, ließ Enk seine Beute am Seil langsam hinuntergleiten. Lanei wirkte dabei wie ein Sack, konnte aber nicht viel tun, um dies zu ändern.

  Anschließend befestigte Enk sein Seil mit einem Knoten, den er von unten lösen können würde, was den Abstieg nicht ungefährlich machte, aber im Zweifelsfall fiel er nicht allzu tief.

  Jetzt galt es nur noch aus der Stadt zu gelangen, bevor die Priester die Stadtwachen in Alarmbereitschaft versetzt hatten.

  Ein unmögliches Unterfangen, denn die Tore würden erst nach Sonnenaufgang geöffnet werden.

  *

  Obwohl sie sich meist von den Pilgern fern hielten und nur zu den Essen zu ihnen stießen, fühlten sich Hylei und Pethen konstant beobachtet.

  Vielleicht war es gerade das, was die Neugier der anderen reizte, dass sie sich die ganze Zeit abseits hielten. Selbst wenn sie in einer Herberge übernachteten und ihre Mahlzeiten zu sich nahmen, die sie dank ihrer Übereinkunft nicht bezahlen mussten, suchten sie sich eine Ecke für sich allein. Dass Hylei selbst in diesen Momenten immer noch ein Tuch um den Kopf trug, hätte als Anstand angesehen werden können – eine Wohlerzogene Frau bedeckte ihr Haupt. Sie zog es jedoch tiefer als nötig gewesen wäre, so dass es selbst ihre Augenbrauen bedeckte und ihre Augen beschattete. Auch, dass sie den Blicken auswich, wirkte weniger wie Schüchternheit oder Demut, sondern viel mehr wie Arroganz oder als wenn sie etwas zu verbergen hätte. Pethen kannte sich nicht so gut mit dem aus, was die Neugier von Männern erregen mochte. Er wusste wohl, dass Hylei eine Frau war, ihre Beziehung war jedoch vollkommen asexuell, selbst wenn er sich nach ihrer Anerkennung sehnte. Andere Frauen, die er kennen gelernt hatte, seitdem sein Körper ein Interesse für sie entdeckt haben konnte, waren ihm entweder aus dem Weg gegangen, wie die Mitschülerinnen oder die Bewohner des nahegelegenen Dorfes, oder waren seine Lehrer gewesen. Die eine Schankmaid, der sie in den letzten Tagen begegnet waren, hatte daher auch einige peinliche Gefühle in ihm ausgelöst, die er nur schwer verbergen konnte.

  Aber so sah er Hylei nicht. Was bedauerlich war, denn sonst hätte er vielleicht die Zeichen bei den beiden jungen Pilgern, Fiabaes und Ahnolas, zu deuten gewusst. Hylei selbst war jedoch ebenso blind wie ihr Gefährte. Möglicherweise, weil sie sie für die geringere Gefahr heilt, verglichen mit den beiden Söldnern oder dem Vater beziehungsweise Onkel. Möglicherweise auch, weil sie sie alle, ausnahmslos, verachtete und ihnen sehr bewusst keine Aufmerksamkeit schenkte. Naebaes hingegen hatte es nicht übersehen. Er hatte sie zwar nicht vor den Fremden gemaßregelt, aber doch vor den Söldner, die mit starren Minen zugesehen hatten. Allerdings hatte der alte Pilger auch seine beiden Mietlinge mit ernsten und wohl auch hochmütigen Worten bedacht. Bakolns und Iosimels Münder hatten nicht einmal gezuckt, aber die Stirnfalten mochten ein wenig enger geworden sein. Die beiden jungen Männer hingegen waren tief gedemütigt nach draußen verschwunden.

  Aber auch davon hatten die beiden Flüchtlinge nichts mitbekommen, und so gut sie ihre Arbeit als Kundschafter auch machten, so schlecht bemerkten sie, was hinter ihnen vor sich ging.

  Vielleicht wäre ihnen ja noch etwas aufgefallen, wenn sie mehr Zeit in den Schankräumen verbracht hätten. Für gewöhnlich übernachteten die beiden jedoch nicht in der Gaststube.

  In den drei Tagen, die sie mit den Pilgern bisher gereist waren, hatte keines dieser Häuser einzelne Zimmer gehabt und der Schankraum hatte gleichzeitig als Schlafsaal gedient. Genaugenommen also nichts Ungewöhnliches. Männer und Frauen wurden meist durch Vorhänge voneinander getrennt, in der zweiten Herberge musste es jedoch auch ohne gehen. Aber selbst hinter einem Vorhang, nur unter Frauen, wäre Hylei aufgefallen. Sie war zu schlank, zu blass, zu grazil. Kein Mensch hatte so reine Haut oder so feine Glieder. Vermutlich hätten andere Frauen sogar noch genauer auf sie geachtet, als es die Männer bereits taten.

  Aber selbst, wenn sie sich nicht mit anderen Gästen den Schlafsaal und damit die Wärme teilten, ein Stall war immer noch um vieles besser, als sich Ende Oktober unter einem Baum unter Decken zusammenzurollen. Nur begründen ließ sich ihre Vorliebe für den kühlen Stall gegenüber der warmen – wenn auch stickigen – Stube nur schwer. Ihre Ausrede war bisher immer die Enge und Menschenmenge, die sie angeblich nicht gewöhnt waren. Eine Begründung, die dazu passte, dass sie vorgaben, unzivilisierte Waldmenschen zu sein. Pethens Wortwahl, Höflichkeit und Gebaren, über die er sich keine Gedanken machte, verrieten aufmerksamen Zuhörern jedoch, dass sie nicht so unzivilisiert sein konnten.

  „Hylei?“

  „Mhm?“ Der Feenling hatte sich in eine Ecke hinter ein angebundenes Ges zurückgezogen und rieb sich mit einem alten Lappen und etwas Wasser ab. In der Zuflucht hatte man ihnen beigebracht, sich regelmäßig zu waschen, etwas, dass das Zusammenleben in den Höhlen erträglicher machte. Hylei war aber bereits zuvor sauberer gewesen als die meisten Menschen.

  „Du hattest vielleicht Recht.“ Hylei nickte nur, was Pethen nur sehen konnte, weil er inzwischen selbst mit geöffneten Augen mit der anderen Sicht wahrnahm.

  „Fällt dir was ein, wie wir uns von ihnen lösen können?“

  Sie verschwand hinter dem Ges und er konnte keine Reaktion von ihr erkennen.

  „Ich meine nur, dass es auffallen würde, wenn wir einfach verschwänden. Vielleicht begegnen wir ihnen nochmal. Man weiß nie. Mich würde das auf jeden Fall misstrauisch machen.“ Hylei stand wieder auf, sah ihn an und legte den Kopf schief, als wenn sie darauf warten würde, was er noch zu sagen hätte.

  „Ich weiß aber nicht, was ich ihm sagen soll, verstehst du?“ Er zögerte, hoffte auf eine Reaktion. „Das sie uns zu langsam sind? Wenn wir aber aufgehalten werden, dann … Ich weiß einfach nicht.“

  „Wir sind schneller als sie. Sie werden uns nicht einholen.“

  „Also sage ich ihm das morgen.“ Hylei nickte und wusch sich weiter. Vielleicht sollte er es ihr nachtun. Er erhob sich und wollte ebenfalls zu dem Wassereimer gehen, als er plötzlich etwas spürte.

  Er blickte sich um und auch Hylei reckte den Kopf während sie sich umschaute, als würde sie auf ein Geräusch lauschen. Sie bedeckte sich hektisch und schmierte etwas Schmutz ins Gesicht, um ihre helle Haut zu verbergen. Pethen schloss die Augen und versuchte sich besser auf die Gefühle und Eindrü
cke jenseits seiner normalen Sinne einzulassen. Er konnte aber nichts außerhalb des Stalls erkennen, nur ein Gefühl von Furcht, dass aber so unbestimmt war, dass es von einem Tier stammen mochte, welches vor einem Nachtjäger floh. Hylei ging zu ihrem Speer und schlich leise die Wände ab, immer mit den Ohren gespitzt und einem Blick nach Ritzen zwischen den Brettern, durch die sie hätte hinausblicken können. Es war jedoch nichts mehr zu hören. Schließlich zog sie sich den Rest ihrer Kleidung an. Sie schlich sich langsam und vorsichtig aus dem Stall, kam aber wenig später wieder zurück und ging zu der Stelle, die sie sich als Lager bereitet hatte.

  „Zu viele Spuren“, sagte sie, ohne sich umzublicken.

  „Und was machen wir jetzt?“

  „Wir müssen Wache halten.“ Diesmal war es Pethen der nickte.

  „Meinst du, es hat uns jemand belauscht?“ Hylei zog die Schultern hoch, legte sich hin und drehte sich zur Wand.

  „Ich hoffe nicht.“ Pethen setzte sich auf einen Hocker, von dem aus er das Tor beobachten konnte und machte sich bereit für die Wache, wurde aber noch einmal von Hyleis Stimme unterbrochen: „Sobald wir allein sind, üben wir wieder.“ Sie sagte es schroff, und die Worte schienen kaum einen Widerspruch zuzulassen. Der junge Magier fühlte sich dennoch nicht von ihnen angegriffen, sondern schmunzelte, weil sie damit indirekt zugab, dass sie gerne mit ihm zusammen lernte. Selbst, dass sie ihn, ohne ihm die Wahl zu geben, zur ersten Wache eingeteilt hatte, nahm er da gelassen.

  Wie hielt man sich wach und sorgte gleichzeitig dafür, dass man die Wachzeiten halbwegs gerecht einteilte?

  Wenn keine Wolken am Himmel zu sehen waren, konnte man in der Mitte der Nacht den Ring für eine Stunde leuchten sehen. Wenn der Mond am Himmel stand, konnte man an seinem Stand den Verlauf der Zeit ablesen. Manche Tiere kamen nur zu bestimmten Zeiten heraus. Hylei kannte sie und konnte durch sie ebenfalls etwas über die Zeit sagen. Sie brauchte jedoch keine Hilfsmittel mehr. Sie hatte die Zeit im Blut, soweit man dies von jemandem sagen konnte. Und mit der Zeit hatte auch Pethen etwas von diesem Gespür gelernt.

  Die letzten Tage aber, während sie in den Ställen saßen, sahen sie weder Mond noch Ring, hörten auch nicht die Tiere und es hatte Pethens Gespür durcheinander gebracht. Hylei schien davon nicht betroffen zu sein, davon wurden jedoch die Wachzeiten nicht gerechter. Deshalb hatte Pethen begonnen, seine eigenen Herzschläge zu zählen. Er hatte ausgerechnet, dass er bis 5250 zählen musste, damit Hylei genügend Schlaf bekam. Bei so hohen Zahlen verzählte man sich gerne, weswegen er lange Reihen von Strichen um seinen Platz malten, oder manchmal auch Steinchen sammelten. Um 16 Striche machte er einen Kreis und bildete dadurch besser zählbare Gruppen. Es war eine stumpfsinnige Tätigkeit, aber in einer langen Nacht hatte man viel Zeit, sich über Striche Gedanken zu machen. Es hielt einen wach, aber nicht besonders aufmerksam, was für gewöhnlich jedoch keine Rolle spielte, da Pethen seine ganze Umgebung wahrnehmen konnte

  Zwischendurch musste man aufstehen, sonst wurde man zu müde und kalt. Es war wohl eine der langweiligsten Tätigkeiten der man nachgehen konnte. Hinzu kam, dass Pethen sich nicht einmal wirklich anstrengen mussten, um alles im Auge behalten zu können. Er hatte gelernt, dass er mit seiner Sicht durch Büsche, um Ecken und auch in Löcher hineingucken konnte. Der Stall war ein Kinderspiel. Nur die Wände bildeten eine selbstverständliche Grenze, die er nicht überschritt, über die er sich aber auch noch keine Gedanken gemacht hatte. Seit sie ihr Training begonnen hatten, war er zu selten in Häusern gewesen. Er dachte bis zur Wand und nicht weiter. Deswegen bemerkte er auch nicht sofort, als sich Männer vor dem Stall einfanden.

  Als er sie spürte, war es bereits zu spät. Das Tor wurde mit einem lauten Schlag aufgestoßen, und Bakoln und Iosimel erschienen im Eingang. Ihnen folgten Naebaes und seine Verwandtschaft, aber wohl auch alle Gäste aus dem Schankraum. Bevor Pethen jedoch die Gesichter erkannte, spürte er die Angst und den Hass, wie sie ihm entgegenschlugen.

  Er wollte etwas sagen, sie fragen, was sie um diese Zeit hier wollten. Aber er wusste es. Er konnte es sehen, so klar, wie er ihre Körper sah. Und die Angst, die sie ihm entgegenwarfen ließ ihn erstarren. Ein kleiner, einsamer Gedanke wunderte sich, dass sie zwar hassten, dass es aber vor allem die Angst war, die sie vorantrieb.

  Er sah, wie Bakoln auf ihn zustürzte, mit dem Schwert in der Hand. Pethen brauchte nur eine Wand zu errichten, und sie wären sicher. Oder seine eigene Angst hinaussenden. Vielleicht hätte es sogar noch anderen Möglichkeiten gegeben, sich zu retten, aber er konnte sich nicht rühren. Er war gelähmt von den Gefühlen der anderen. Er konnte nicht einmal versuchen, auszuweichen.

  „Hylei“, brachte er gerade noch heraus, nicht laut genug, bevor der Söldner ihm mit dem Knauf des Schwertes gegen die Schläfe schlug. Er fiel von seinem Hocker und sah, wie die Füße des großen Mannes, seine Striche verwischten. Wie sollte er jetzt die Zeit messen?

  Er verlor nicht gleich das Bewusstsein, sondern konnte noch beobachten, wie die anderen Männer sich auf Hylei stürzten. Dann trafen ihn ein paar Tritte und er sah nichts mehr.

  *

  „Treureigen!“

  Ohnfeder schrie so laut, wie sie noch nie geschrien hatte. Trotzdem konnte Treureigen sie unmöglich hören. Es war Nacht, wie viele Stunden es noch bis zum Sonnenaufgab waren, ließ sich wegen der vermaledeiten geschlossenen Fensterläden nicht sagen. Ohnfeder würde auch nicht aufstehen, um es zu überprüfen. Wenn es überhaupt möglich war, war sie in den letzten Tagen noch schwerfälliger geworden. Sie konnte sich gerade noch eigenständig auf die Seite rollen, zu allem anderen benötigte sie die Hilfe ihrer Freundin.

  „Treureigen!“

  Sie wusste nicht, warum sie immer wieder nach ihrer Freundin brüllte. Wenn sie jedoch nicht nach ihr brüllte, dann würde sie nach irgendetwas anderem brüllen. Denn brüllen musste sie.

  Sie hatte bereits einige Wehen gehabt. Grasglanzen hatte ihr versichert, dass das ganz normal sei. Sie hatte auch gesagt, dass sie sich erst Sorgen zu machen brauchte, wenn es nicht mehr aufhörte oder das Wasser brach.

  Jetzt hörte es nicht mehr auf und wenn sie sich nicht selbst eingenässt hatte, war das Wasser gebrochen. Also brüllte sie.

  Warum war Treureigen gerade heute bei ihrer Familie? Verdammtes Mädchen! Die ganze Zeit übernachtete sie in ihrer Hütte und gerade heute Nacht war sie nicht da.

  Sie wusste nicht, wie lange sie gebrüllt hatte, als die Tür aufgestoßen wurde und Treureigen, eine Laterne in der Hand, ihre Schlafkammer betrat. Sofort setzte sie sich neben ihre Freundin und versuchte sie zu beruhigen: „Ich bin da, Ohnfeder, ich bin da.“

  „Wo warst du so lange?“ Ohnfeder presste ihre Worte während einer Wehe heraus und es klang nicht allzu freundlich.

  „Ich habe geschlafen.“ Treureigen hielt Ohnfeders Hand, während die Wehe abebbte. „Dann bin ich aufgewacht und dachte, dass ich dich hören würde. Da bin ich sofort hierher gelaufen.“ Ohnfeder lächelte sie dankbar an.

  „Wie konntest du mich hören?“

  „Ich weiß auch nicht. Hören ist vielleicht auch falsch. Ich wusste es einfach.“ Sie zögerte. „Ich glaube es war Emaofhia, der mir gesagt hat, dass ich zu dir kommen soll.“

  „Hör auf, Treureigen. Nicht jetzt. Das kann ich nicht auch noch brauchen. Du musst Grasglanzen holen.“

  „Keine Sorge. Ich bin aus Versehen auf ein paar Pilger getreten“, sie lächelte verschmitzt, fast schon gehässig. „Sie sind sofort losgelaufen.“ Auch auf Ohnfeders Gesicht breitete sich ein Grinsen aus, wurde aber gleich wieder von einer weiteren Wehe weggewischt.

  Treureigen versuchte weiter beruhigend auf Ohnfeder einzureden. Allerdings wurde es immer schwerer, zu ihr durchzudringen. Die Wehen kamen immer häufiger und ihre Hand tat bald weh von Ohnfeders krampfendem Griff. Glücklicherweise kam Grasglanzen schneller zum Haus, als beide erwartet hatten.

  „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Aber diese Lümmel da draußen sind in hellem Aufruhr.“ Treureigen konnte in ihrer Stimme das schwanken zwischen professioneller Gelassenheit, gerechtem Zorn über die Verzögerung und panischer Aufregung wegen der Geburt der göttlichen
Kinder hören. „Ich brauche warmes Wasser, Treureigen.“ Sie gebrauchte sanfte Gewalt, um Treureigens Hand aus Ohnfeders zu lösen. „Ich weiß ja, dass Frau Ohnfeder es nicht gerne hört, aber Emaofhia wird über sie wachen.“

  „Warum sagst du das dann gerade jetzt.“

  „Ich bin mir sicher, dass er mich geweckt hat.“ Treureigen wusste, was sie meinte und nickte nur. Sie verließ die Schlafkammer und begann die Glut zu schüren, nachdem sie einen der Gläubigen, die schüchtern in der offenen Tür standen, zum Wasserholen geschickt hatte. Alles andere lag schon seit Tagen bereit. Schüsseln waren geschrubbt, Leinentücher, von Nachbarn geliehen und von Pilgern gespendet, geplättet und ordentlich gefaltet, Babykleidung bereitgelegt, Binden gewaschen, Wiegen an der Wand aufgereiht.

  Treureigen überlegte die ganze Zeit über, was sie alles vergessen haben könnte. Alle Aleneshi der Umgebung wussten, von Ohnfeders Kindern. Mehrere Frauen warteten auf die Nachricht, um im Zweifelsfall ihren Dienst als Amme antreten zu können. Selbst unter den Zurückgebliebenen – sie schalt sich, weil sie sie immer noch so nannte – wollten einige junge Mütter Ohnfeder zur Hilfe kommen, wenn auch nur im Schutz der Nacht. Einer der großen Bauern, Hebelschmied Feldzieher ausgerechnet, hatte versprochen, mehrere seiner Lohnarbeiter als Wachen zu schicken. Wer hätte es gedacht bei den ständigen Streitigkeiten in deren Mittelpunkt der Grobschlächtige Mann immer wieder stand.

  Ein Wassereimer wurde an der Tür abgestellt und Treureigen füllte den Topf. Es würde eine Weile dauern, bis es warm genug war. Sie würden jedoch mehr als diesen einen Eimer benötigen. Also schickte sie erneut einige der Wartenden los, um weitere zu füllen und auch Holz zu holen. Zusätzlich schickte sie weitere Boten los, die alle Gehöfte der Nachbarschaft benachrichtigen sollten. Bei sechs Kindern würden sie mehr Hände benötigen, und alle hatten sich angeboten zu helfen. Von einigen hatte Treureigen Ohnfeder nicht einmal etwas erzählt, da sie nicht mit allen ihrer Nachbarn auf bestem Fuß stand.

 

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