Faded Duet 1 - Faded - Dieser eine Moment

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Faded Duet 1 - Faded - Dieser eine Moment Page 21

by Julie Johnson


  Orion oder Skorpion, die einander quer über den Himmel jagen …

  Verdammt.

  Ich bin stockbesoffen. Der Alkohol rast durch meinen Kreislauf wie ein Zug mit defekten Bremsen. Ich kann seine Auswirkungen nicht mehr aufhalten. Ich habe nicht länger die Fähigkeit, mich zu belügen. Ich bin gezwungen, mich den Tatsachen zu stellen.

  Ich bin am Ende. Ich bin einsam. Und ich hasse diesen verdammten Ort. Ich hasse diese verdammten Leute.

  Ich vermisse meine Freunde. Ich vermisse das Nightingale. Ich vermisse sie.

  Ihr Gesicht, ihren Duft, ihr Lächeln.

  Ohne über die Tatsache nachzudenken, dass sie nicht mal ein Handy besitzt, stolpere ich zu dem Haufen aus herumliegender Kleidung in der Ecke hinüber, schnappe mir meine Jeans vom Boden und greife in die Tasche, um mein Handy herauszuholen. Während ich daran herumhantiere, ertönt ein leises Klackern. Beccas Pillen fallen auf den Teppichboden, prallen daran ab und rollen in alle Richtungen. Ich starre sie eine Sekunde lang an und blinzle angestrengt, um den Nebel loszuwerden, der mein Gehirn einhüllt. Dann werfe ich einen Blick auf mein Handy.

  Keine verpassten Anrufe.

  Keine Nachrichten.

  Nicht dass ich irgendwas erwartet hätte. Das passiert eben, wenn man alle Brücken hinter sich abbricht, die einem je wichtig waren. Es gibt kein Zurück mehr.

  »Verdammt!«, brülle ich und schleudere mein Handy gegen die Wand, wo es sofort in mehrere Einzelteile zerbricht. Ich atme schwer, senke den Blick zu Boden und schließe die Augen in dem Versuch, mich zusammenzureißen, bevor ich vollkommen die Kontrolle verliere.

  Reiß dich am Riemen, Ryder.

  Das hier ist genau das, was du wolltest. Worauf du hingearbeitet hast.

  Es wird langsam Zeit, dass du anfängst, es zu genießen.

  Als meine Atmung langsamer wird und ich die Augen öffne, ist das Erste, was ich sehe, eine kleine weiße Pille, die harmlos neben meinen Füßen liegt. Ein kleiner Muntermacher, sagte Becca.

  Ich denke nicht nach, als ich mich vorbeuge und sie auf meine Zunge fallen lasse.

  20. KAPITEL

  Felicity

  »Ich weiß nicht, wann ich in der Lage sein werde, wiederzukommen«, teile ich ihr sanft mit. »Es könnte gut sein, dass ich für eine Weile fortbleiben muss.«

  »Eine Reise? Wie aufregend!«

  Ich nicke. »Vielleicht werde ich dir schreiben. Würde dir das gefallen?«

  »Das ist nett, Liebes.« Sie lächelt, wie man einen Fremden im Lebensmittelladen anlächeln würde, und streckt einen Arm aus, um meine Hand zu tätscheln. »Aber mach dir keine Sorgen um mich. Ich bin sicher, dass mich meine Tochter bald besuchen kommen wird.«

  Ich zucke zusammen, als sie meine Mutter erwähnt. Ich weiß, dass meine Großmutter die Zeit durcheinanderbringt – dass ihre Tochter für sie immer noch eine hoffnungsvolle junge Frau ist, die in einen Mann verliebt ist, von dem sie glaubte, dass sie ihn ändern könnte.

  »Meine Jüngste. Sie ist schwanger, habe ich dir das erzählt?« Meine Großmutter strahlt. »Ich werde Oma.«

  »Ich gratuliere.« Meine Kehle ist wie zugeschnürt. »Das ist wundervoll.«

  »Ich hoffe, dass es ein Mädchen wird. Ich denke, dass eine Enkelin perfekt wäre, findest du nicht?«

  »Ja«, krächze ich. »Absolut perfekt.«

  Ich werfe einen Blick aus dem Fenster und wische mir eine Träne von der Wange.

  »Allerdings bin ich nicht sicher, ob es mir gefallen wird, ›Großmutter‹ genannt zu werden.« Sie rümpft die Nase. »Ich denke, ich werde stattdessen lieber eine ›Omi‹ oder eine ›Oma‹ sein.«

  »›Oma‹«, sage ich mit erstickter Stimme. »Du solltest dich definitiv für ›Oma‹ entscheiden.«

  »Geht es dir gut, Liebes?«

  »Oh ja. Alles in Ordnung.«

  Das ist natürlich eine Lüge, aber das muss sie nicht wissen. Die Wahrheit ist, dass ich nicht mehr in Ordnung gewesen bin, seit das Telefon gestern Abend geklingelt hat.

  »Würdest du mit mir spielen?«, fragt sie hoffnungsvoll und deutet auf das Klavier.

  »Es wäre mir eine Ehre.«

  Wir sitzen in der Morgensonne nebeneinander und spielen Lieder von Patsy, Etta, Dolly und Loretta. Ich versuche, mir das Unbehagen, das wie Gift durch meine Venen fließt, nicht anmerken zu lassen. Aber ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass ich jeden Moment zusammenbrechen werde.

  Ich hasse es, dass ich mich von meiner Oma verabschieden muss und nicht weiß, wann ich in der Lage sein werde, wieder herzukommen, um sie zu besuchen. Aber ich habe keine Wahl.

  Er weiß, wo ich bin.

  Ich habe keine Ahnung, wie er es herausgefunden hat – ich habe keiner Menschenseele erzählt, dass ich herkommen würde … außer Devyn. Meine Cousine war diejenige, die vorschlug, dass ich versuchen sollte, eine Stelle im Nightingale zu bekommen. Sie versprach, meine Pläne für Nashville niemandem gegenüber zu erwähnen. Aber falls ihr doch etwas herausgerutscht ist und sie es ihrer Mutter erzählt hat, ist der Weg zwischen den Schwestern nicht mehr weit, und damit könnte es auch meine Mutter erfahren haben. Und schließlich er.

  Mein letzter Stand der Dinge ist, dass meine Eltern mit niemandem aus der Familie sprechen. Das Verhältnis verschlechterte sich vor ein paar Jahren während des Streits um die Kontrolle über das Vermögen der allseits geschätzten Bethany Hayes. Sobald meine Oma ihre Diagnose erhalten hatte, träumten meine Verwandten von dicken Tantiemenschecks. Sie waren wie besessen davon – egal wie viele Äste sie von unserem Familienstammbaum hacken mussten, um sie zu bekommen. Sie kamen aus ihren Löchern gekrochen, Cousins und angebliche Onkel, von denen ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal gewusst hatte. Und sie alle behaupteten, meine Großmutter mehr als ihr eigenes Leben zu lieben. Sie alle waren mehr als eifrig darum bemüht, derjenige zu werden, der sich um ihre Angelegenheiten kümmern sollte, nun, da sie nicht länger dazu in der Lage war.

  Ein einziger Haufen Geier.

  Als der Richter sein Urteil verkündete und die medizinischen Entscheidungen über meine Großmutter meiner Tante überließ, war von unserem Familienstammbaum nur noch ein Stumpf übrig. Ich war erleichtert. Kim ist der am wenigsten bösartige der kreisenden Raubvögel. Trotz großer Streitereien zog das Gericht auch das existierende Testament meiner Großmutter in Betracht und kam den darin festgehaltenen Bestimmungen nach. Ihr komplettes verbliebenes Vermögen wurde auf ein Treuhandkonto eingezahlt und verbleibt dort bis zu ihrem Tod. Wer das Geld bekommen wird, sobald dieser Tag eintritt, bleibt ein Geheimnis, aber ich bin froh, dass meine Oma wenigstens für den Moment geschützt ist.

  Meine Mutter war vollkommen entsetzt, als sie erfuhr, dass sie nicht an den Entscheidungen in Bezug auf die Pflege meiner Großmutter beteiligt sein würde. Ich war jedoch nicht im Geringsten überrascht. Die Geschichten, die Tante Kim vor Gericht über das erzählte, was im Haus meiner Eltern vorging, waren mehr als ausreichend, um die Entscheidung des Richters zu ihren Gunsten ausfallen zu lassen. Kein Diener des Gesetzes, der bei klarem Verstand ist, würde zwei Süchtigen mit einer Polizeiakte, deren Liste mit Vorfällen von häuslicher Gewalt länger ist als die Bibel, auf die sie schworen, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, die Kontrolle über ein Multimillionendollarvermögen überlassen.

  Ich mache Tante Kim keinen Vorwurf dafür, dass sie sich ihre Tochter geschnappt hat und sofort aus Nashville verschwunden ist, als die Gerichtsverhandlungen abgeschlossen waren. Wenn sie geblieben wären, hätten die Chancen gut gestanden, dass mein Vater sie aufgespürt und sein Missfallen auf die einzige Art ausgedrückt hätte, die er kennt.

  Durch gewalttätigen Zorn.

  Niemand, der auch nur einen Funken Verstand hat, würde wollen, dass dieser Mann weiß, wo man zu finden ist.

  Und genau deswegen bin ich jetzt hier und verabschiede mich von dem einzigen Familienmitglied, das je für mich da gewesen ist. Nicht dass ich es wollte, aber mir bleibt keine Wahl. Wenn er weiß, wo ich arbeite, ist es
nur eine Frage der Zeit, bis er auch weiß, wo ich wohne. Bis er herkommt und versucht, mich zurück nach Hause in mein altes Leben in Hawkins zu zerren.

  Ich würde lieber sterben, als dorthin zurückzukehren.

  Ich werde sterben, wenn ich dorthin zurückkehre.

  »Meine Mom war ebenfalls Sängerin, weißt du?«, murmle ich, als wir zu Ende gespielt haben.

  »Das überrascht mich nicht – du hast eine wundervolle Stimme, Liebes.« Meine Großmutter lächelt sanft. »Die muss ja irgendwoher gekommen sein.«

  Die habe ich von dir, Oma.

  »Sie sang mir immer etwas vor, als ich noch ganz klein war«, erzähle ich ihr und streiche mit den Fingerspitzen ganz leicht über die Oberfläche der Tasten. »Das ist eine meiner ersten Erinnerungen.«

  »Wie schön, Liebes.«

  »Meinst du …« Ich verstumme kurz. »Meinst du, dass du ein Lied für mich singen könntest?«

  »Oh, ich singe meine eigenen Lieder nicht mehr. Es ist einfach nicht mehr so wie früher. Meine Stimme ist nicht mehr das, was sie einmal war.«

  »Deine Stimme ist perfekt. Und es … es würde mir sehr viel bedeuten.«

  Sie starrt mir in die Augen, als würde sie darin etwas suchen. Doch in ihrem Blick liegt kein Erkennen, nur Mitgefühl für eine Fremde, die sie um einen Gefallen bittet.

  »Such dir ein Lied aus, Schätzchen.« Sie lächelt, und ihr knallroter Lippenstift ist so makellos wie immer. »Nur dieses eine Mal.«

  Und so sitzen wir an unserem letzten gemeinsamen Tag zusammen da. Ich spiele auf meiner Gitarre, und sie singt. Ihre Stimme ist faserig und dünn, als sie durchs Zimmer hallt.

  »Saw you in the crowd the other day …«

  Ich versuche, nicht zu weinen … Doch ich kann die Tränen nicht zurückhalten, als sie den Refrain singt.

  »Sure it’s sad but it isn’t complicated …

  You’re my only memory that never faded …«

  Es ist mehr als nur ein wenig herzzerreißend, dass ihr größter Hit aller Zeiten davon handelt, dass man niemals vergisst … obwohl sie sich selbst nicht an die letzten zwanzig Jahre erinnern kann. Obwohl sie sich nicht an mich erinnern kann.

  »You’re my only memory that never faded …«

  Es ist eine grausame Laune des Schicksals. Ironie in Reinform.

  Als würde man sich in der Nacht verlieben, in der man sich voneinander verabschiedet.

  Als würde man ein Zuhause finden, nur um es dann gleich wieder verlassen zu müssen.

  Die Tränen rollen ungehindert über meine Wangen, als ich in den Eingangsbereich hinausgehe, wo Carly auf mich wartet, um mich zurück zum Nightingale zu fahren, damit wir unsere Schicht antreten können.

  Ein weiterer Abschied.

  Ein weiteres gebrochenes Herz.

  Ein weiterer Neuanfang.

  Ich weiß nicht, wie oft ich das noch ertragen kann. Ich bin nicht sicher, wie viel ich überhaupt noch ertragen kann, bevor ich endgültig zerbreche.

  »Du kannst nicht einfach gehen.«

  »Ich habe keine Wahl, Carly.«

  Sie hat die Augen vor Verwirrung weit aufgerissen, während wir auf meinen Treppenstufen sitzen. Die Juliluft ist trotz der späten Stunde noch recht warm. Unsere Schicht endete vor ein paar Minuten.

  Meine letzte Schicht.

  Ich kann es kaum glauben.

  »Kannst du mir wenigstens erklären, warum du gehst? Oder mir sagen, wann du zurückkommen wirst?«

  »Wenn ich das wüsste, würde ich es dir sagen. Ich bin mir noch nicht mal sicher, wann ich aufbrechen werde.«

  »Wenn du mir erzählen würdest, was los ist, könnte ich dir vielleicht helfen.« Sie lässt den Blick über mein Gesicht wandern. »Vielleicht könnten wir zusammen eine Lösung finden, damit du nicht abhauen musst.«

  »Meine Vergangenheit holt mich ein, Carly. So einfach ist das. Ich muss mich auf den Weg machen, bevor sie mich erreicht.«

  »Ich hätte dich nicht für eine Gesetzlose auf der Flucht gehalten.« Sie lacht, aber es klingt traurig. »Was hast du angestellt? Eine Bank ausgeraubt?«

  Ich ringe mir ein Grinsen ab. »Das würde eine sehr viel bessere Geschichte abgeben.«

  »Hast du Isaac schon mitgeteilt, dass du gehst?«

  »Er war heute Abend nicht hier, also werde ich morgen Nachmittag vorbeikommen, um mit ihm zu sprechen. Danach verlasse ich dann mit dem Abendbus die Stadt.«

  »Morgen ist der vierte Juli! Bleib doch wenigstens noch für das Feuerwerk.«

  Sofort verspüre ich schmerzhaftes Bedauern. Ich habe mich auf das Festival gefreut, seit ich davon erfahren habe. Carly und ich hatten vor, zusammen hinzugehen, um uns mit ein paar ihrer Freunde vom College die musikalischen Darbietungen am Fluss anzuschauen.

  »Ich wünschte, ich könnte mitkommen«, murmle ich. »Glaub mir … ich will nicht gehen. Nashville ist für mich mehr ein echtes Zuhause gewesen als alles andere, was ich je hatte. Und deine Freundschaft hat eine Menge dazu beigetragen.«

  »Hör auf, sonst bringst du mich noch zum Heulen. Und diese Wimperntusche kostet dreißig Dollar.«

  »Das ist Wegelagerei.«

  »Wem sagst du das?« Wir lachen beide trotz unserer Tränen. Als sie wieder spricht, bricht ihre Stimme vor lauter Emotion. »Also … dann ist das unser Abschied?«

  »Ich schätze schon«, murmle ich. »Danke.«

  »Wofür? Ich habe nichts getan.«

  »Du hast mir gezeigt, wie hier alles läuft. Du hast mich immer aufgemuntert. Du bist meine spirituelle Führerin gewesen.«

  »Dafür musst du mir nicht danken, Felicity. Ich werde immer deine Freundin sein.« Sie wühlt in ihrer Handtasche herum, zieht einen Stift heraus und kritzelt eine Zahlenreihe auf ein Kaugummipapier, das sie mir hinhält, sobald sie fertig ist. »Ich weiß, dass du kein Handy hast, also werden wir es auf die altmodische Art machen müssen. Das ist meine Nummer. Falls du je Hilfe brauchst, ruf mich an. Ich bin da. Ohne Wenn und Aber.«

  Ich lege die Finger um das Papier. Mein Herz verkrampft sich schmerzhaft. »Carly …«

  »Und nur fürs Protokoll«, fügt sie hinzu und versucht, nicht zu weinen. »Ich denke, dass ich bei einem Banküberfall eine tolle Fluchtwagenfahrerin abgeben würde. Klar, mein Auto macht bei mehr als achtzig Kilometern pro Stunde schlapp … Aber ich kenne überall in der Stadt die besten Abkürzungen.«

  Dieses Mal muss ich mir das Grinsen nicht abringen. Es breitet sich von ganz alleine auf meinem Gesicht aus und ist vollkommen echt.

  Am nächsten Morgen brauche ich nicht lange, um zu packen. Ich besitze nicht viel. Meine Gitarre, meine Klamotten, die wenigen Besitztümer, die ich seit meiner Ankunft hier angesammelt habe, und den dicken Umschlag voller Geldscheine, den ich unter meinem losen Fußbodenbrett versteckt gehalten habe. Ich stopfe mir ein paar Zwanziger in den BH, nur für alle Fälle – meine spirituelle Führerin wäre so stolz auf mich –, und verstaue den Rest des Geldes ganz unten in den Tiefen meines Rucksacks, damit es sicher ist. Dabei stoße ich versehentlich mein Notizbuch zu Boden. Ich beuge mich vor, um es aufzuheben, und erstarre, als mein Blick auf eine mir nicht vertraute Kritzelei auf der letzten Seite fällt. Seltsam, das sieht nicht wie meine Handschrift aus …

  Mein Herz bleibt schlagartig stehen. Ich habe ganz vergessen, dass mir Ryder einen Brief hinterlassen hat – er erwähnte, dass er ihn in mein Notizbuch geschrieben hatte, um es dann zusammen mit meiner Gitarre zurückzubringen. Ich zittere am ganzen Körper, als ich das Notizbuch auf meinen Schoß ziehe und zu lesen beginne.

  Es ist gar kein Brief.

  Es ist ein Lied.

  Er hat ein Lied für mich geschrieben.

  Nicht nur den Text, sondern auch eine ganze Seite Noten für die musikalische Begleitung. Es ist eine vollständig ausgearbeitete Melodie mit Akkordfolgen und Tonartwechseln. Das ist nicht das Ergebnis einer einzigen Nacht voller Arbeit. Er muss Tage gebraucht haben, um dieses Lied fertigzustellen. Vielleicht sogar Wochen.

  Am ob
eren Rand der Seite steht ein Titel in seiner krakeligen Handschrift.

  A GIRL NAMED FELICITY

  Die Seite verschwimmt vor meinen Augen – ich muss dreimal eine Pause einlegen, um mich zusammenzureißen, bevor ich schließlich einmal den kompletten Text lesen kann. Und als ich es tue, scheint sich das klaffende Loch in der linken Seite meiner Brust, wo sich einst ein Herz befand, zum ersten Mal seit seiner Abreise ein wenig zu schließen.

  Ich kann es nicht bereuen, dass ich dem Mann, der diese Zeilen geschrieben hat, ein Stück von mir gegeben habe, auch wenn er jetzt fort ist. Dieses Lied ist die romantischste Geste, die mir je zuteilwurde. Es könnte nur noch übertroffen werden, wenn er hier wäre, vor mir stehen und es mir persönlich vorsingen würde.

  Ein Teil von mir will meine Gitarre aus dem Koffer holen, die Noten spielen und den Text in der Luft um mich herum zu einem Zauber verweben … Doch dieses Lied – sein Lied – ist nicht dafür gedacht, gespielt zu werden, während man Tränen zurückhält. Und in diesem Zimmer gibt es schon zu viele Erinnerungen. Von seinem Mund und seinen Händen … von seinem lüsternen Lächeln in der Dunkelheit und seinen ungleichen Augen, die sich im schwachen Licht des Morgens in meine brennen.

  Ich streiche mit den Fingerspitzen ehrfürchtig über die Seite und fahre seine unordentliche Handschrift nach, als wäre sie ein Teil von ihm. Es gibt keine Unterschrift, abgesehen von einem einzelnen schiefen R, das in die untere Ecke gekritzelt wurde. Ich lese mir den Text noch einmal durch, bevor ich mich zum Aufhören zwinge. Mit einer letzten andächtigen Liebkosung der Seite zwinge ich mich, das Notizbuch zu schließen und in meinem Rucksack zu verstauen.

 

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