The Kraus Project

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The Kraus Project Page 26

by Karl Kraus


  „Sie steht jetzt im zwanzigsten Jahr, war dreimal verheiratet, hat eine kolossale Menge Liebhaber befriedigt, da melden sich auch schließlich die Herzensbedürfnisse.“

  Eine solche biographische Anmerkung würde, wie sie ist, auch von einem der Nestroyschen Gedankenträger gemacht werden, wenn er sich mit dem gleichen Schwung der Antithese über das Vorleben seiner Geliebten hinwegsetzen könnte. Und im „Erdgeist“ könnte einer ungefähr wieder den wundervollen Satz sprechen, der bei Nestroy vorkommt:

  „Ich hab’ einmal einen alten Isabellenschimmel an ein’ Ziegelwagen g’seh’n. Seitdem bring’ ich die Zukunft gar nicht mehr aus’m Sinn.“

  Vielleicht aber ist hier das absolut Shakespearische solch blitzhafter Erhellung einer seelischen Landschaft über jeden modernen Vergleich erhaben. Es ist ein Satz, an dem man dem verirrten Auge des neuen Lesers wieder vorstellen möchte, was Lyrik ist: ein Drinnen von einem Draußen geholt, eine volle Einheit. Die angeschaute Realität ins Gefühl aufgenommen, nicht befühlt, bis sie zum Gefühl passe. Man könnte daran die Methode aller Poeterei, aller Feuilletonlyrik nachweisen, die ein passendes Stück Außenwelt sucht, um eine vorrätige Stimmung abzugeben. An solchem Satz bricht der Fall Heine auf und zusammen, denn es bietet sich die tote Gewißheit, daß ein alter Isabellenschimmel zu sinnen anfinge: Wie schön war mein Leben früher – Heut’ muß ich den Wagen zieh’n – O alter Zeiten Gewieher – Dahin bist du, dahin! – Der Wagen aber sprach munter – Das ist der Welten Lauf – Geht der Weg einmal hinunter – so geht er nicht wieder hinauf … Und wir wären über die Stimmung des Dichters inklusive der ironischen Resignation vollständig informiert. Bei Nestroy, der nur holperige Coupletstrophen gemacht hat, lassen sich in jeder Posse Stellen nachweisen, wo die rein dichterische Führung des Gedankens durch den dicksten Stoff, wo mehr als der Geist: die Vergeistigung sichtbar wird. Es ist der Vorzug, den vor der Schönheit jenes Gesicht hat, das veränderlich ist bis zur Schönheit. Je gröber die Materie, umso eindringlicher der Prozeß. An der Satire ist der sprachliche Anspruch unverdächtiger zu erweisen, an ihr ist der Betrug schwerer als an jener Lyrik, die sich die Sterne nicht erst erwirbt und der die Ferne kein Weg ist, sondern ein Reim. Die Satire ist so recht die Lyrik des Hindernisses, reich entschädigt dafür, daß sie das Hindernis der Lyrik ist. Und wie hat sie beides zusammen: vom Ideal das ganze Ideal und dazu die Ferne! Sie ist nie polemisch, immer schöpferisch, während die falsche Lyrik nur Jasagerei ist, schnöde Berufung der schon vorhandenen Welt. Wie ist sie die wahre Symbolik, die aus den Zeichen einer gefundenen Häßlichkeit auf eine verlorene Schönheit schließt und kleine Sinnbilder für den Begriff der Welt setzt! Die falsche Lyrik, welche die großen Dinge voraussetzt, und die falsche Ironie, welche die großen Dinge negiert, haben nur ein Gesicht, und von der einsamen Träne Heines zum gemeinsamen Lachen des Herrn Shaw führt nur eine Falte. Aber der Witz lästert die Schornsteine, weil er die Sonne bejaht. Und die Säure will den Glanz und der Rost sagt, sie sei nur zersetzend. Die Satire kann eine Religionsstörung begehen, um zur Andacht zu kommen. Sie wird leicht pathetisch. Auch dort, wo sie ein gegebenes Pathos nicht anders einstellt als ein Ding der Außenwelt, damit ihr Widerspruch hindurchspiele. Ja und Nein vermischen sich, vermehren sich, und es entspringt der Gedanke. Ein Spiel, gesinnungslos wie die Liebe. Das Ergebnis dieser vollkommenen Durchdringung, Erhaltung und Verstärkung polarer Strömungen: eine Nestroysche Tirade, eine Offenbachsche Melodie. Hier unterstreicht der Witz, der es auslacht, das Entzücken an einem Schäferspiel; dort schlägt die Verzerrung einer schmachtenden Mondscheinliebe über die Stränge der Parodie ins Transzendente. Das ist der wahre Übermut, dem nichts unheilig ist.

  „Mich hat ein echt praktischer Schwärmer versichert, das Reizendste is das, wenn von zwei Liebenden eins früher stirbt und erscheint dem andern als Geist. Ich kann mich in das hineindenken, wenn sie so dasitzet in einer Blumennacht am Gartenfenster, die Tränenperlen vom Mondstrahl überspiegelt, und es wurd’ hinter der Hollerstauden immer weißer und weißer und das Weiße wär’ ich – gänzlich Geist, kein Stückerl Körper, aber dennoch anstandshalber das Leintuch der Ewigkeit über’n Kopf – ich strecket die Arme nach ihr aus, zeiget nach oben auf ein’ Stern, Gotigkeit,,dort werden wir vereinigt‘– sie kriegt a Schneid’ auf das Himmelsrendezvous, hast es net g’sehn streift die irdischen Bande ab, und wir verschwebeten, verschmelzeten und verschwingeten uns ins Azurblaue des Nachthimmels…“

  Gewendetes Pathos setzt Pathos voraus, und Nestroys Witz hat immer die Gravität, die noch die besseren Zeiten des Pathos gekannt hat. Er rollt wie der jedes wahren Satirikers die lange Bahn entlang, dorthin wo die Musen stehen, um alle neun zu treffen. Der Raisonneur Nestroy ist der raisonnierende Katalog aller Weltgefühle. Der vertriebene Hanswurst, der im Abschied von der Bühne noch hinter der tragischen Figur seine Späße machte, scheint für ein Zeitalter mit ihr verschmolzen, und lebt sich in einem Stil aus, der sich ins eigene Herz greift und in einem eigentümlichen Schwebeton, fast auf Jean Paulisch, den Scherz hält, der da mit Entsetzen getrieben wird.

  FRAU VON ZYPRESSENBURG: Ist sein Vater auch Jäger? – TITUS: Nein, er betreibt ein stilles, abgeschiedenes Geschäft, bei dem die Ruhe seine einzige Arbeit ist; er liegt von höherer Macht gefesselt, und doch ist er frei und unabhängig, denn er ist Verweser seiner selbst; – er ist tot. – FRAU VON ZYPRESSENBURG (für sich): Wie verschwenderisch er mit zwanzig erhabenen Worten das sagt, was man mit einer Silbe sagen kann. Der Mensch hat offenbare Anlagen zum Literaten.

  Und es ist die erhabenste und noch immer knappste Paraphrase für einen einsilbigen Zustand, wie hier das Wort um den Tod spielt. Dieses verflossene Pathos, das in die unscheinbarste Zwischenbemerkung einer Nestroyschen Person einfließt, hat die Literarhistoriker glauben machen, dieser Witz habe es auf ihre edlen Regungen abgesehen. In Wahrheit hat er es nur auf ihre Phrasen abgesehen. Nestroy ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge. Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab. Bezeichnend dafür sind Wendungen wie:

 

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