by Andrew Lane
Mycroft verabschiedete sich vom Direktor, während Sherlock mit ausdrucksloser Miene dastand und die Ungeheuerlichkeit dessen zu erfassen versuchte, was eben geschehen war. Er würde nicht nach Hause kommen. Weder seinen Vater noch seine Mutter sehen. Keine Erkundungstouren in den umliegenden Feldern und Wäldern des Herrensitzes unternehmen, der seit vierzehn Jahren sein Zuhause war. Er würde nicht in seinem alten Bett im Zimmer unter dem Dach schlafen, in dem er all seine Bücher aufbewahrte.
Nicht in die Küche schleichen, wo die Köchin ihm ein Stück Brot mit Marmelade geben würde, wenn er sie anlächelte. Stattdessen würde er Wochen mit Menschen verbringen, die er nicht kannte. Sich so ordentlich benehmen wie möglich. In einer Stadt, in einer Gegend, über die er nichts wusste. Allein. Die ganze Zeit, bis er wieder in die Schule ging.
Wie sollte er das nur aushalten?
Sherlock folgte Mycroft aus dem Studierzimmer des Direktors über den Korridor zur Eingangshalle. Eine geschlossene zweispännige Kutsche wartete vor der Tür. Von der Reise, die Mycroft zur Schule unternommen hatte, waren die Räder noch mit Schlamm überzogen und die Seiten der Kabine mit Staub bedeckt. Das Wappen der Holmes-Familie prangte auf der Tür. Sherlocks Koffer war schon auf der Rückseite verstaut. Vorn auf dem Kutschbock saß ein hagerer Mann, den Sherlock nicht kannte. Schlaff hielt er die Zügel in den Händen, während die beiden Pferde geduldig warteten.
»Woher wusste er, dass das mein Koffer ist?«
Mycroft machte eine Handbewegung, die besagen sollte, dass das keine große Sache war. »Ich habe den Koffer vorhin vom Fenster des Direktorenzimmers aus gesehen. Er war als einziger unbeaufsichtigt. Und außerdem ist es der, den Vater immer benutzt hat. Der Direktor war so freundlich, einen Jungen loszuschicken, der dem Kutscher auftrug, den Koffer aufzuladen.« Er öffnete die Tür der Kutsche und forderte Sherlock mit einer Geste auf einzusteigen. Doch stattdessen blickte sich Sherlock noch einmal zu seiner Schule und seinen Mitschülern um.
»Du siehst aus, als würdest du denken, dass du sie nie wiedersiehst«, sagte Mycroft.
»Das ist es nicht«, erwiderte Sherlock. »Es ist nur, ich dachte, ich würde wegen etwas Schönerem von hier fortgehen. Aber jetzt weiß ich, dass mir etwas Schlechteres bevorsteht. So schlimm es hier auch ist, etwas Besseres ist jetzt jedenfalls nicht mehr zu erwarten.«
»So schlimm wird es nicht sein. Onkel Sherrinford und Tante Anna sind gute Menschen. Sherrinford ist Vaters Bruder.«
»Wieso habe ich dann noch nie was von ihnen gehört?«, fragte Sherlock. »Warum hat Vater nie erwähnt, dass er einen Bruder hat?«
Mycroft zuckte fast unmerklich zusammen. »Ich fürchte, es gab ein Zerwürfnis in der Familie. Das Verhältnis war eine Weile ziemlich gespannt. Mutter hat vor ein paar Monaten wieder Kontakt aufgenommen. Ich bin nicht mal sicher, ob Vater das weiß.«
»Und da schickst du mich hin?«
Mycroft tätschelte Sherlocks Schulter. »Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich mich dafür entscheiden, glaube mir. Nun denn, musst du dich von irgendwelchen Freunden verabschieden?«
Sherlock sah sich um und sein Blick fiel auf etliche Jungen, die er kannte. Aber war auch nur einer von ihnen ein wirklicher Freund?
»Nein«, sagte er. »Lass uns gehen.«
Die Reise nach Farnham dauerte mehrere Stunden. Nachdem sie durch das Städtchen Dorking gefahren waren, der Deepdene am nächsten gelegenen Ortschaft, rumpelte die Kutsche auf Feldwegen weiter. Unter ausladenden Baumkronen entlang und vorbei an einzeln stehenden strohgedeckten Cottages, größeren Häusern und Feldern voller reifer Gerste.
Die vom wolkenlosen Himmel brennende Sonne verwandelte die Kutsche trotz des Fahrtwindes schon bald in einen Backofen. Insekten schwirrten träge immer wieder gegen das Fenster, und Sherlock beobachtete eine Weile, wie die Welt an ihnen vorbeizog. Zum Mittagessen hielten sie an einem Gasthaus, in dem Mycroft etwas Schinken, Käse und einen halben Laib Brot kaufte. Irgendwann schlief Sherlock ein. Als er nach ein paar Minuten oder auch Stunden wieder aufwachte, fuhr die Kutsche immer noch durch die gleiche Landschaft. Eine Weile lang unterhielt er sich mit Mycroft darüber, wie es gerade bei ihnen zu Hause aussah. Sie sprachen über ihre Schwester und die schwache Gesundheit ihrer Mutter. Mycroft erkundigte sich nach Sherlocks Studien, und Sherlock erzählte ihm ein bisschen über die verschiedenen Lektionen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, um sich dann ein wenig ausführlicher über die unterrichtenden Lehrer auszulassen. Er imitierte ihre Stimmen und Schrullen so witzig und gehässig, dass Mycroft sich vor Lachen nicht mehr zu helfen wusste.
Nach einer Weile säumten immer mehr Häuser die Straße, und schon bald fuhren sie durch eine große Stadt. Die Pferdehufe klapperten auf den Pflastersteinen, und als Sherlock sich aus der Kutsche lehnte, fiel sein Blick auf ein Gebäude, das wie ein Rathaus aussah. Das Auffälligste an dem weiß verputzten und mit schwarzen Holzschnitzereien verzierten zweistöckigen Bau war eine riesige Uhr, die an einem horizontalen Träger befestigt war und weit auf die Hauptstraße hinausragte.
»Farnham?«, riet Sherlock.
»Guildford«, antwortete Mycroft. »Aber Farnham ist jetzt nicht mehr weit.«
Als sie Guildford hinter sich gelassen hatten, führte die Straße auf einer Anhöhe entlang, von der das Land zu beiden Seiten abfiel. Von hier oben sahen die Felder und Wälder wie eine Spielzeuglandschaft aus, auf der sich vereinzelte Tupfer gelber Phantasieblumen verteilten.
»Diese Anhöhe heißt Hog’s Back«, erklärte Mycroft. »Hier in der Nähe auf dem Pewley-Hügel gibt es eine Semaphor-Station. Sie ist Teil einer Signalkette, die sich den ganzen Weg von der Admiralität in London bis zum Hafen von Portsmouth erstreckt. Haben sie euch in der Schule etwas über Semaphor-Stationen beigebracht?«
Sherlock schüttelte den Kopf.
»Typisch«, murmelte Mycroft. »Den Jungens Latein eintrichtern, bis ihnen der Schädel platzt, aber keinen Sinn für praktische Dinge.«
Er seufzte tief. »Mit einem Semaphor können Nachrichten, für deren Übermittlung man mit Pferden Tage brauchen würde, rasch und über weite Entfernungen übermittelt werden. Semaphor-Stationen haben Signaltafeln oben auf dem Dach, die von Weitem sichtbar sind und sechs große Löcher aufweisen. Die Löcher können durch Verschlussklappen geöffnet oder geschlossen werden. Je nachdem, welches Loch geöffnet oder geschlossen ist, werden auf der Tafel verschiedene Buchstaben dargestellt. In jeder Semaphor-Stelle gibt es einen Mann, der die vorherige und die folgende Station der Kette mit einem Teleskop beobachtet. Wenn er eine Nachricht buchstabiert sieht, schreibt er sie auf und wiederholt sie dann auf seiner eigenen Semaphor-Tafel. Auf diese Weise wird die Nachricht weitergeleitet. Diese Semaphor-Kette beginnt beim Marineamt, verläuft über Chelsea und Kingston upon Thames bis hierher und setzt sich dann den ganzen Weg bis nach Portsmouth Dockyard fort. Eine andere Kette führt runter nach Chatham Dockyards und weitere nach Deal, Sheerness, Great Yarmouth und Plymouth. Sie wurden errichtet, damit die Admiralität im Falle einer französischen Invasion rasch Nachrichten zur Navy schicken konnte.
Aber nun sag doch mal … Wenn es dort sechs Löcher gibt und jedes davon entweder geöffnet oder geschlossen werden kann, wie viele verschiedene Kombinationen gibt es dann, um Buchstaben, Nummern oder Symbole darzustellen?«
Sherlock unterdrückte das spontane Verlangen, seinem Bruder zu sagen, dass die Schule vorbei sei, und schloss stattdessen die Augen, um einen Moment lang nachzurechnen. Ein Loch konnte zwei Zustände aufweisen: offen oder geschlossen. Zwei Löcher konnten vier Zustände haben: offen-offen, offen-geschlossen, geschlossen-offen, geschlossen-geschlossen. Drei Löcher hingegen … Er ging schnell die Kombinationen im Kopf durch, bis sich ein Muster abzuzeichnen begann. »Sechsundvierzig«, sagte er schließlich.
»Gut gemacht«, nickte Mycroft. »Ich bin froh, dass du zumindest in Mathematik auf Zack bist.« Er schaute nach rechts aus dem Fenster. »Ah, Aldershot. Interessanter Ort. Ist vor vierzehn Jahren von Königin Victoria zur Hauptausbildungsgarnison der britischen Armee ernannt worden. Davor war es eine kleine Ortschaft mit nicht mal tausend Einwohnern. Jetzt liegt die Bevölkerungszahl bei sech
zehntausend und sie wächst weiter.«
Sherlock reckte den Hals, um über seinen Bruder hinweg durch das andere Fenster zu sehen. Aber von seinem Blickwinkel aus konnte er nur eine lockere Ansammlung von verstreuten Häusern erkennen und etwas, bei dem es sich um eine Bahnlinie handeln mochte, die parallel zur Straße unten am Fuß des Abhangs verlief. Er setzte sich wieder auf seinen Platz, schloss die Augen und versuchte, nicht daran zu denken, was ihn erwartete.
Nach einer Weile spürte er, wie die Kutsche bergab fuhr, und kurz darauf bogen sie diverse Male ab. Das klappernde Geräusch, das die Pferdehufe auf den Pflastersteinen machten, wich dumpfen Tritten, als sie plötzlich auf hartgestampfter Erde weiterfuhren.
Er kniff die Augen noch fester zu, in der irrationalen Hoffnung, so den Moment hinauszuzögern, an dem er akzeptieren musste, was passiert war.
Die Kutsche hielt auf Kiesgrund. Vogelgezwitscher und der Klang des Windes, der durch die Baumkronen wehte, erfüllten die Kutsche. Sherlock konnte Schritte hören, die sich knirschend näherten.
»Sherlock«, sagte Mycroft sanft. »Zeit, sich der Realität zu stellen.«
Er öffnete die Augen.
Die Kutsche hatte vor dem Eingang eines riesigen Hauses gehalten. Vor ihnen ragte ein zweistöckiges Gebäude aus rotem Backstein in die Höhe, und den schmalen Fenstern nach zu schließen, die die Fläche der grauen Dachziegel durchbrachen, musste es darüber hinaus auch im Dachgeschoss noch eine ganze Reihe von Räumen geben.
Ein Diener war im Begriff, Mycroft die Tür zu öffnen. Sherlock glitt hinüber und folgte seinem Bruder nach draußen.
Oben auf den drei breiten Steinstufen, die zum Säulenvorbau am Haupteingang hinaufführten, stand eine ganz in Schwarz gekleidete Frau im tiefen Schatten. Ihr hageres Gesicht wirkte verhärmt. Mit ihren gespitzten Lippen und den zusammengekniffenen Augen sah sie aus, als hätte jemand ihren Morgentee mit Essig vertauscht. »Willkommen auf Holmes Manor. Ich bin MrsEglantine«, sagte sie mit trocken-spröder Stimme. »Ich bin hier die Hauswirtschafterin.« Sie fixierte Mycroft. »MrHolmes erwartet Sie in der Bibliothek, wann immer Sie bereit sind.« Darauf glitt ihr Blick zu Sherlock. »Und der Diener wird Ihr … Gepäck … auf Ihr Zimmer bringen, Master Holmes. Der Nachmittagstee wird um drei Uhr serviert. Bitte seien Sie so gut und bleiben Sie bis dahin auf Ihrem Zimmer.«
»Ich werde nicht zum Tee bleiben«, erklärte Mycroft ruhig. »Ich muss leider nach London zurück.« Er wandte sich Sherlock zu, und in seinen Augen spiegelten sich teils Mitleid, teils brüderliche Liebe, doch war auch eine stumme Warnung in ihnen zu lesen. »Pass auf dich auf, Sherlock«, sagte er. »Ich komme natürlich am Ende der Ferien zurück, um dich wieder zur Schule zu bringen. Und wenn ich kann, besuche ich dich in der Zwischenzeit. Sei brav, und nutz die Gelegenheit, die Gegend hier kennenzulernen. Soweit ich gehört habe, besitzt Onkel Sherrinford eine außergewöhnliche Bibliothek. Frag ihn, ob du dir das geballte Wissen, das sie birgt, zu Nutze machen darfst. Ich werde meine Kontaktdaten bei MrsEglantine hinterlassen. Wenn du mich brauchst, schick mir ein Telegramm oder schreib mir einen Brief.« Er streckte seine Hand aus und legte sie tröstend auf Sherlocks Schulter.
»Das sind gute Menschen«, sagte er so leise, dass MrsEglantine es nicht hören konnte. »Aber wie alle in der Holmesfamilie haben sie ihre Macken. Sei dir im Klaren darüber und verärgere sie nicht. Schreib mir, wenn du Zeit hast. Und denk daran: Das ist nicht das Ende deines Lebens. Es ist nur für ein paar Monate. Sei tapfer.« Er drückte Sherlocks Schulter.
Sherlock fühlte einen dicken Kloß der Verärgerung und Frustration in seinem Hals aufsteigen und würgte ihn herunter. Er wollte nicht, dass Mycroft ihm etwas anmerkte, und er wollte nicht, dass seine Zeit auf Holmes Manor mit einem bösen Start begann. Wie auch immer er sich in den nächsten paar Minuten verhalten würde, es würde die Atmosphäre seines weiteren Aufenthaltes bestimmen.
Er streckte die Hand aus. Mycroft nahm die Hand von Sherlocks Schulter und ergriff sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Auf Wiedersehen«, sagte Sherlock so beherrscht, wie er nur konnte. »Liebe Grüße an Mutter. Und an Charlotte. Und wenn du etwas von Vater hörst, lass es mich wissen.«
Mycroft drehte sich um und ging die Stufen zum Eingang empor. MrsEglantine bedachte Sherlock einen Augenblick lang mit ausdruckslosem Blick. Dann wandte sie sich ab und führte Mycroft ins Haus.
Sherlock blickte zurück und sah, wie der Diener sich abmühte, den Koffer auf die Schultern zu wuchten. Dann stolperte er an Sherlock vorbei die Stufen hoch, und Sherlock folgte ihm niedergeschlagen.
Der Boden der Eingangshalle war schwarz und weiß gefliest. Von den oberen Stockwerken schwang sich eine mit Verzierungen überladene Marmortreppe herab, die an einen gefrorenen Wasserfall erinnerte, und an den mit Mahagoni verkleideten Wänden hingen zahlreiche Bilder mit religiösen Szenen, Landschaften und Tieren. Mycroft ging gerade durch eine Tür links von der Treppe, und Sherlock konnte einen flüchtigen Blick in den Raum hineinwerfen. Reihen von in grünem Leder gebundenen Büchern säumten die Wände. Ein dünner, älterer Mann in einem altmodischen schwarzen Anzug erhob sich von einem Stuhl, dessen Polster im Farbton perfekt zur Farbe der Bücher passte. Sein bärtiges Gesicht war faltig und blass, die Kopfhaut mit Leberflecken gesprenkelt.
Die Tür schloss sich, als sie sich die Hände schüttelten. Den Koffer auf den Schultern balancierend, ging der Diener über den gefliesten Boden und steuerte auf die Treppe zu. Sherlock folgte ihm.
MrsEglantine stand auf der untersten Treppenstufe und blickte über Sherlocks Kopf hinweg auf die geschlossene Tür der Bibliothek.
»Sei dir darüber im Klaren, Kind, dass du hier nicht willkommen bist«, zischte sie, als er an ihr vorbeiging.
2
Sherlock hatte sich ein stilles Plätzchen im Wald außerhalb von Farnham gesucht. Von dort aus konnte er sehen, wie das Gelände vor ihm zu einem Pfad abfiel, der sich wie ein trockenes Flussbett durch das Unterholz schlängelte, bis er außer Sicht verschwand. Drüben auf der anderen Seite der Stadt lugte, an den Hang eines Hügels geschmiegt, eine kleine Burg zwischen den Bäumen hervor. Außer Sherlock war niemand da. Er hatte schon so lange einfach nur still dagesessen, dass sich sogar die Tiere an ihn gewöhnt hatten. Hin und wieder raschelte es im hohen Gras, wenn eine Maus vorbeihuschte, und über ihm am blauen Himmel zogen Habichte träge ihre Kreise. Geduldig warteten sie darauf, dass irgendein kleines Tier dumm genug war, sich auf freies Feld zu begeben.
Hinter ihm fuhr der Wind durch die Blätter der Bäume. Er ließ seine Gedanken schweifen und versuchte, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit zu denken. Er wollte einfach nur im Hier und Jetzt leben, solange es irgend ging. Die Vergangenheit schmerzte wie eine Wunde, und die unmittelbare Zukunft gehörte nicht zu den Dingen, die er sich rasch herbeiwünschte. Die einzige Möglichkeit, sich nicht unterkriegen zu lassen, bestand darin, nicht darüber nachzudenken. Sich einfach nur im Wind treiben zu lassen, während sich die Tiere um ihn herum tummelten.
Er lebte jetzt bereits drei Tage auf Holmes Manor, und die Dinge waren seit seinem ersten Erlebnis keinen Deut besser geworden. Das Schlimmste jedoch war MrsEglantine.
Als allgegenwärtiges Schreckgespenst lauerte die Hauswirtschafterin selbst in den abgelegensten Winkeln des Hauses. Wohin auch immer er sich wandte, stets schien sie schon in irgendwelchen dunklen Schatten auf ihn zu warten, um ihn mit ihren runzeligen Äuglein zu taxieren. Seit seiner Ankunft hatte sie kaum drei Sätze zu ihm gesprochen. Soweit er es beurteilen konnte, erwartete man von ihm nichts anderes, als pünktlich zum Frühstück, Mittagessen, Nachmittagstee und Abendessen zu erscheinen. Natürlich schweigend und ohne mehr zu essen als unbedingt nötig, um sich gleich danach wieder bis zur nächsten Mahlzeit in Luft aufzulösen. Nach diesem Schema würde sein Leben bis zum Ende der Ferien verlaufen. Bis Mycroft käme, um ihn aus seiner Haft zu erlösen.
Anna und Sherrinford Holmes – seine Tante und sein Onkel – waren normalerweise beim Frühstück und Abendessen anwesend. Sherrinford war ebenso groß wie sein Bruder und trotz seiner schlankeren Statur zweifellos eine dominante Erscheinung. Er hatte mark
ante Wangenknochen und eine nach vorn gewölbte Stirn, die seitlich an den Schläfen einfiel. Im Gegensatz zu seinem buschigen weißen Bart, der bis auf die Brust herabfiel, war seine Kopfbehaarung so spärlich, dass es für Sherlock so aussah, als wäre jede einzelne Haarsträhne sorgfältig auf die Kopfhaut gemalt und dann mit einer Schicht Glanzlack überzogen worden. Zwischen den Mahlzeiten verschwand er entweder in sein Arbeitszimmer oder in die Bibliothek. Den spärlichen Konversationsfetzen nach zu schließen, die Sherlock aufgeschnappt hatte, verfasste er dort religiöse Broschüren und Predigten für Gemeindepfarrer aus dem ganzen Land. Der einzig nennenswerte Wortwechsel mit seinem Onkel während der letzten drei Tage hatte beim Mittagessen stattgefunden. Plötzlich hatte Sherrinford von seinem Teller aufgeschaut, Sherlock mit Unheil verkündendem Blick fixiert und dann gefragt: »Wie ist es um deine Seele bestellt, Junge?« Sherlock, mit erhobener voller Gabel vor dem Mund, hatte kurz geblinzelt und sich dann glücklicherweise an MrTulley, seinen Lateinlehrer in Deepdene, erinnert. »Extra ecclesiam nulla salus«, verkündete Sherlock, ziemlich sicher, dass das so viel bedeutete wie: »Außerhalb der Kirche ist keine Erlösung.«
Das schien zu funktionieren. Denn Sherrinford Holmes nickte und murmelte »Ah, der heilige Cyprian von Karthago, natürlich«, um sich dann wieder seinem Teller zuzuwenden.
MrsHolmes – beziehungsweise Tante Anna – hingegen war eine kleine, vogelähnliche Frau, die sich in einem Zustand permanenter Bewegung zu befinden schien. Selbst wenn sie saß, flatterten ihre Hände unermüdlich umher, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. Dabei redete sie die ganze Zeit, ohne jedoch wirklich mit jemandem zu reden, so weit es Sherlock beurteilen konnte. Sie schien es einfach zu genießen, einen ewigen Monolog zu führen, und sie schien nicht zu erwarten, dass sich jemand daran beteiligte oder auf eine ihrer größtenteils rhetorischen Fragen antwortete.
Zumindest das Essen war passabel – jedenfalls besser als die Mahlzeiten in der Deepdene-Schule. Zum großen Teil bestand es aus Gemüse: Karotten, Kartoffeln oder Blumenkohl, die allesamt, wie er vermutete, auf dem Grund von Manor House angebaut wurden. Aber zu jeder Mahlzeit gab es in irgendeiner Form auch Fleisch, und im Gegensatz zu dem grauen und meist undefinierbaren Knorpelzeugs, das er von der Schule her kannte, war dieses gut gewürzt und lecker. So erfreute Sherlock sich zum Beispiel an Schinkenhaxen, Hähnchenschenkeln, Filets, die – wie man ihm erklärte – vom Lachs stammten, oder bei einer anderen Gelegenheit an großen Fleischstücken, die aus einer in der Tischmitte platzierten Lammschulter herausgetrennt wurden. Wenn er nicht aufpasste, nahm er noch so viel zu, dass er irgendwann wie Mycroft aussehen würde.