by Andrew Lane
Angewidert ging Sherlock weiter.
Er kam an Ständen mit heißen Würstchen, kandierten Liebesäpfeln am Stiel, Orangen-Biscuits, Blätterteiggebäck und gesalzener, knusprig gerösteter Schweineschwarte vorbei. Er war sich nicht sicher, ob es sich bei dem flauen Gefühl in seinem Magen um Hunger oder Nervosität handelte. Oder beides.
Die Menge wurde nun dichter, und damit wurde es zunehmend ungemütlicher. Sherlock wurde von hinten geschoben und gestoßen, während die Leute um ihn herum johlten und knurrten. Eine Stimme erhob sich über ihnen und rief: »Wer wird den ungeschlagenen Champion herausfordern? Wer hat den Mut, sich Nat Wilson entgegenzustellen, dem Wunderkämpfer aus Kensal Green? Einen Sovereign, wenn Sie gewinnen, nichts als Hohn und Spott, wenn Sie verlieren!« Sherlock stolperte und landete auf einem Knie. Er wollte sich wieder aufrappeln, wurde jedoch zur Seite gestoßen. Dann traf ihn etwas hart im Rücken. Er drehte sich um und stellte verblüfft fest, dass er plötzlich vorne vor der Menge stand. Das Ding, über das er gestolpert war, war ein Holzpfosten, der zusammen mit drei weiteren Pflöcken die Ecken eines Quadrats markierte. Zwischen den Pfosten waren Seile gespannt worden. In der Mitte der Arena stand ein Mann, der nichts weiter als eine Lederkniehose trug und sich gestenreich vor der Menge in Pose warf. Brustkorb und Arme waren mit gewaltigen Muskelpaketen bepackt. Ein anderer Mann, der einen staubigen Anzug trug und eine Melone auf dem Kopf hatte, starrte Sherlock geradewegs an.
»Wir haben einen Herausforderer!«, schrie er. Die Menge applaudierte.
Sherlock versuchte, sich zu verdrücken. Aber die Leute hinter ihm schoben ihn nach vorne. Hände zogen die Seile auseinander, um eine Lücke zu bilden, und ehe er es sich versah, wurde Sherlock auf das grasbewachsene Areal geschoben.
»Nein!«, rief er, als er erkannte, dass er irgendwie zum Herausforderer geworden war. »Ich habe mich nicht …«
Der Ausrufer schnitt ihm das Wort ab. »Standard Broughton-Regeln«, verkündete er in einem seltsam gedehnten Sprechsingsang. »Keine Handschuhe, keine Schlagringe. Alles ist erlaubt. Außer einen Mann zu schlagen, wenn er zu Boden gegangen ist. Geht jemand zu Boden, hat er dreißig Sekunden Zeit sich zu erholen und acht weitere Sekunden, um wieder die Position an der Ausgangslinie einzunehmen. Der Kampf ist zu Ende, wenn einer nicht mehr aufstehen kann.« Er musterte Sherlock, der hektisch um sich blickte, im verzweifelten Versuch, eine Lücke in der Menge zu finden, durch die er vielleicht noch entkommen könnte. »Junge«, murmelte er, »ohne Hilfe gebe ich dir nicht mehr als eine Minute. Hältst du fünf durch, verdoppel ich den Preis. Muss ja die Zocker bei Laune halten.«
»Ich sollte gar nicht hier sein!«, protestierte Sherlock.
»Dafür ist es jetzt ein bisschen spät«, erwiderte der Ausrufer.
»Aber das Ganze ist ein Versehen!«
»Nein.« Der Mann lächelte und entblößte seine schwarzen verrotteten Zähne. »Es ist ein Massaker.«
Der Ausrufer steuerte auf den Ringrand zu, wo die Leute die Seile für ihn auseinanderhielten. Sherlock versuchte, ihm zu folgen, aber die Seile schnellten wieder an ihren Platz zurück, und die Männer, Frauen und Kinder johlten spöttisch, als er sich näherte. Steine wurden nach ihm geworfen, so dass Sherlock sich gezwungen sah, in die Ringmitte zurückzuweichen.
Der andere Kämpfer blickte grimmig entschlossen mal hier mal dort in die Menge und kam Applaus heischend zu ihm hinüberstolziert. Er war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Sherlock und hatte ein viel breiteres Kreuz.
Seine Hände sahen aus wie zwei riesige, mit Walnüssen gefüllte Lederbeutel. »An die Linie«, grunzte er.
»Was?«
Der Kämpfer zeigte auf zwei parallele Linien, die man ins Gras gestampft hatte und etwa einen Meter voneinander entfernt waren. »Du stehst hinter der einen, ich steh hinter der anderen. Wenn der Gong ertönt, kämpfen wir. So funktioniert das.«
»Ich will nicht kämpfen«, protestierte Sherlock.
»Is’ deine Entscheidung, Junge«, knurrte der Kämpfer. »Hab trotzdem dafür zu sorgen, dass das Ganze fünf Minuten dauert, und deine Birne wird wie Hackfleisch aussehen, wenn de dich nicht verteidigst.« Kritisch beäugte er Sherlock. »Wird vermutlich sowieso so aussehen, selbst wenn de das tust«, fügte er hinzu. Er schob Sherlock auf die nächste Linie im Gras zu. »Nimm die Hände hoch, schütz dein Gesicht. Und bleib aufrecht stehen. Wenn de fällst, tret ich dich, bis du wieder stehst.«
»Ich dachte, der Schiedsrichter hat gesagt, dass man den Gegner nicht schlagen darf, wenn er am Boden liegt.«
Der Kämpfer zuckte die Achseln. »Aber von Treten hat er nix gesagt.«
Ungläubig ging Sherlock zu seiner Linie. Mit seinen gestiefelten Füßen stand der Kämpfer an der anderen Linie. Sherlock sah sich um und hielt nach jemandem Ausschau, der ihm helfen könnte. Nach irgendjemandem. Aber er blickte nur in rote, verschwitzte und vor Aggressivität verzerrte Gesichter.
Ein Gong ertönte.
Sherlock trat erst einmal zurück, doch im gleichen Augenblick sauste auch schon die Faust seines Gegners knapp an seiner Nase vorbei.
Er riss die Hände hoch, um sich zu verteidigen, und wich noch weiter zurück, als sein Gegner auf ihn zukam. Die Menge brüllte. Er hatte Bilder von Boxern in Büchern gesehen. Außerdem hatte er sich ein paar Kämpfe in der Deepdene-Schule angeschaut und sogar selbst ein wenig geboxt. Also nahm er die Stellung ein, an die er sich erinnerte, und hielt die zu Fäusten geballten Hände vor seinen Körper. Aber ganz offensichtlich hatte sein Gegner nicht die gleichen Bücher gelesen. Denn der kam einfach auf Sherlock zugetrottet und holte mit beiden Armen seitlich aus, um sie dann in Schulterhöhe mit geballten Fäusten auf Sherlock niedersausen zu lassen. Sherlock kassierte einen Treffer an der linken Schulter – derjenigen, die jüngst erst von Clem malträtiert worden war –, und augenblicklich schoss ihm der Schmerz wie flüssiges Metall den Arm hinab. Seine Hand fiel nutzlos zur Seite herunter. Wie hatte das alles nur passieren können? Noch vor einer Minute war er ein anonymer Zuschauer in der Menge gewesen, und nun stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit! Es war fast so, als hätte etwas, nein jemand, die Menge so gelenkt, dass er in diese Situation geraten war.
Sein Gegner machte wieder ein paar Schritte auf ihn zu, offenbar bereit, ihm einen Aufwärtshaken ins Gesicht zu verpassen. Also trat Sherlock zurück und ließ seine rechte Faust vorschnellen. Wie durch ein Wunder traf er den Mann genau auf die Nase. Sherlock spürte, wie etwas unter seinen Fingern knackte und dann lief seinem Gegner auch schon Blut an Kinn und Brust hinab. Der Mann zuckte zurück, atmete explosionsartig durch die Nase aus und besprühte Sherlocks Hemd dabei mit einem Schwall von Blut. Fast gleichzeitig führte er eine gerade Rechte gegen Sherlocks Brust. Der Treffer ließ Sherlock nach hinten taumeln. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seine Rippen. Einen Moment lang dachte er, sein Herz wäre stehengeblieben. Er versuchte Luft zu holen, aber wie es schien, hatte seine Lunge ihre Arbeit eingestellt. Zusammengekrümmt stand er da und versuchte verzweifelt, etwas Luft einzusaugen.
Eine Hand packte ihn hinten am Nacken und schleuderte ihn über die Grasfläche. Der Aufprall auf den Boden quetschte ihm das letzte bisschen Atemluft aus dem Körper, woraufhin jedoch sich sein Brustkorb reflexartig weitete und schlagartig wieder Luft in die Lunge strömte. Er rollte sich zur Seite – einen Wimpernschlag bevor sich ein Fuß an der Stelle in den Boden rammte, an der eben noch sein Kopf gewesen war. Taumelnd rappelte sich Sherlock wieder hoch.
Das Gesicht seines Gegners war eine einzige blutverschmierte Maske, die nur von zwei schmalen, wütend blitzenden Augen und einer Reihe gefletschter Zähne unterbrochen wurde. Der Mann machte ein paar Schritte auf Sherlock zu und schlug eine Links-Rechts-Kombination. Die Linke landete in den Rippen, die Rechte an der Schläfe. Grellroter brutaler Schmerz erfüllte Sherlocks Welt und auf einmal schien alles ganz weit entrückt. Er fiel, aber er spürte den Aufprall schon nicht mehr, als er auf den Boden aufschlug.
Dunkelheit umfing ihn und Sherlock ließ sich bereitwillig von ihr verschlingen.
10
Als Sherlock wieder aufwachte, hatte er das Gefühl, ihm würde der Schädel platze
n. Der Schmerz schien sich um die rechte Schläfe herum zu konzentrieren und pulsierte auf unerträgliche Weise in Einklang mit seinem Herzschlag. Er hatte das irrationale Empfinden, als säße ein riesiger weicher pochender Klumpen mitten in seinem Kopf, an dem er nicht vorbeisehen oder vorbeiklettern konnte. Eine Weile lag er einfach nur so im Dunkeln. Er dachte an nichts, sondern ließ sich von dem Schmerz vor- und zurücktreiben, und wartete darauf, dass er nachließ. Was er schließlich auch tat.
Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war, wie er von dem Jahrmarktsboxer bewusstlos geschlagen worden war. Und nun lag er in einem bequemen Bett, und sein Kopf ruhte auf einem Stapel weicher Daunenkissen. Was bedeutete, dass er sich nicht mehr auf dem Jahrmarkt befand. Er lag weder im matschigen Grasring noch war er wie ein nasser Sack in irgendein Zelt verfrachtet worden, bis er wieder zu sich kam. Es sei denn natürlich, er war am Halluzinieren. Was durchaus möglich war, in Anbetracht der Tatsache, dass er eine Kopfverletzung erlitten hatte.
Nein, so sagte er sich energisch, er musste einfach davon ausgehen, dass das, was er fühlte, hörte und sah, der Realität entsprach und nicht einfach nur die Ausgeburt eines ramponierten Gehirns war.
Das diffuse Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge drang, verriet ihm, dass es immer noch Morgen war. Er lag nicht in seinem Bett, so viel war jedenfalls klar. Sein eigenes Bett war härter, und die Kissen hatten eine klumpige unbequemere Füllung.
Jemand von Holmes Manor musste ihn gefunden und dorthin zurückgebracht haben. Allerdings hatte man ihn in ein bequemeres Bett gesteckt, wahrscheinlich eines, das für den Doktor und die Dienstmädchen leichter zu erreichen war. Er lauschte angestrengt, ob draußen vor dem Fenster irgendwelche Bewegungen zu hören waren. Aber abgesehen von einem Geräusch, bei dem es sich um entferntes Vogelgezwitscher handeln mochte, war da nichts.
In welchen Schwierigkeiten mochte er wohl nun schon wieder stecken? Bei dem Gedanken daran entfuhr ihm unwillkürlich ein Stöhnen. Er hatte gegen die klaren Anweisungen seines Onkels verstoßen, und er hatte das dumpfe Gefühl, dass jeder Versuch, das Ganze mit einem Hinweis auf ein vermeintliches Treffen mit Amyus Crowe zu erklären, mit rigoroser Härte beantwortet werden würde. Schlimmer noch: Er war in einen ordinären Faustkampf verwickelt worden. Und sogar schlimmer noch als das: Er hatte verloren. Das würde zwar Sherrinford und Anna Holmes wahrscheinlich nicht sonderlich berühren, aber wenn Sherlocks Vater jemals etwas davon mitbekäme, würde er außer sich vor Zorn sein. War doch eine seiner beliebtesten Redensarten: »Ein Gentleman beginnt niemals einen Kampf, sondern beendet ihn stets.«
Wenn er Glück hatte, würde ihn sein Onkel für den ganzen nächsten Monat zu Stubenarrest verdonnern und seine Mahlzeiten auf Brot und Wasser beschränken. Wenn er Glück hatte. Wenn er keines hatte, dann … na ja, da war er sich nicht so sicher. Aber seiner Vermutung nach würde die Strafe schrecklich ausfallen. Eine Tracht Prügel vielleicht? Oder eine Züchtigung mit dem Rohrstock oder dem Ledergürtel? Sein Onkel würde das wahrscheinlich eher mit Bedauern als mit Wut machen. Aber gab es da nicht irgend so einen Spruch in der Bibel, der »Wer die Rute spart, verzieht das Kind!« oder so ähnlich lautete?
Es würde übel werden.
Sherlock hob die Hand, um seinen Kopf zu berühren. Seine Finger ertasteten eine riesige Beule, und als er vorsichtig dagegen drückte, hatte er das Gefühl, ihm würde jemand einen glühenden Nagel durch den Kopf treiben.
Vorsichtig setzte er sich auf. Weder Kopf noch Magen reagierten sehr dankbar auf die Bewegung.
Die Wände des Raumes, in dem er sich befand, waren mit Holz getäfelt. Er selbst lag in einem Himmelbett, über dem sich ein mit kunstvollem Stickwerk verzierter Baldachin wölbte. Weder das Bett noch sonst etwas an der Einrichtung kam ihm von Holmes Manor her bekannt vor. Er sah an sich hinab. Er war immer noch angekleidet, auch wenn man ihm die Jacke ausgezogen hatte. Er blickte sich um und sah sie schließlich an einem Kleiderhaken hängen, der an der Innenseite der Tür angebracht war.
Er warf die Decke zurück, unter der er gelegen hatte, und drückte sich langsam in die Höhe. Einige Augenblicke lang schien die ganze Welt wie Wasser hin- und herzuschwappen, das in einem gerade abgestellten Eimer allmählich zur Ruhe kam. Man hatte ihm die Schuhe ausgezogen. Aber wie er feststellte, waren sie nebeneinander ans Fußende des Bettes gestellt worden. Er wankte ans Bettende und gab sein Bestes, um in die Schuhe zu schlüpfen, ohne sich nach vorne zu beugen. Denn das, sagte ihm ein untrügliches Gefühl, wäre eine äußerst schlechte Idee.
Er ging zum Fenster hinüber und zog den Vorhang zurück. Aber der Ausblick, der sich seinen Augen bot, hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Landschaft, die Holmes Manor umgab.
Das Land dort draußen war flach und öde, und auf der rötlich braunen, trockenen Erde wuchsen weder Gras noch sonstige Pflanzen. Stattdessen war das Grundstück, so weit das Auge reichte, mit Holzkisten übersät, die jeweils auf einer Bodenplatte mit vier massiven Beinen standen. Sie sahen ein wenig wie Hühnerställe aus, waren aber viel kleiner. Jede Kiste wies unten – kurz oberhalb der Stelle, wo sie auf der Bodenplatte ruhte – ein kleines Loch auf.
Die Kisten waren in einem regelmäßigen Muster aufgestellt. Eine rasche Multiplikation im Kopf verriet Sherlock, dass er auf etwa fünfhundert Kisten starrte.
Rauchschwaden schienen sich über einigen Kisten zu kräuseln. Allerdings musste der Wind hier auf ziemlich merkwürdige Weise verwirbelt werden, denn die Rauchwolken über den einzelnen Kisten wehten in ganz unterschiedliche Richtungen davon. Einige schwebten nach oben, einige nach links oder rechts, während andere einfach nur vor den Öffnungen in den Kisten umherzuschweben schienen, als würden sie versuchen heraus- oder hereinzukommen.
Hinter einer der Kisten kam eine Gestalt hervor. Sie war in einen locker sitzenden Overall gekleidet, der aus Leinen zu bestehen schien. Der Kopf war vollständig von einer Maske aus Musselinstoff bedeckt, der durch hölzerne Streben vom Gesicht abgehalten wurde und so dünn war, dass der Träger hindurchsehen konnte. Die Gestalt ging zu einer anderen Kiste und hob vorsichtig den Deckel an. Noch mehr Rauch quoll nach draußen und umhüllte den Kopf der Gestalt, was ihr jedoch nichts auszumachen schien. Vielmehr beugte sie sich noch näher heran, um nach einem Blick in die Kiste den Deckel schließlich wieder zu schließen. Daraufhin zog sie aus dem Boden der Konstruktion etwas heraus, das wie ein hölzernes Tablett aussah. Die Gestalt musterte das Tablett ein paar Sekunden lang. Dann machte sie ein paar Schritte und legte es auf einen Stapel gleichartiger Tabletts ab.
Plötzlich war Sherlocks Hirn wieder hellwach, und schlagartig wurde ihm klar, was er da gerade beobachtete. Die Wolke, die er von der Männerleiche im Wald nahe Holmes Manor hatte aufsteigen sehen; der Rauch, den Matty beobachtet hatte; die Pollen, die er zu Professor Winchcombe gebracht hatte: Endlich ergab das alles einen Sinn.
Sie hatten es nicht mit Rauch, sondern mit Bienen zu tun. Kleine schwarze Bienen. Und das bedeutete, dass es sich bei den Kisten um Bienenstöcke handelte, und der Mann in der Maske ein Imker war.
Aber was waren das für Bienen und wozu brauchte man sie? Um Honig zu produzieren? Zur Verteidigung? Oder für etwas anderes? Aber noch wichtiger: Wo zum Teufel war er eigentlich?
Hinter ihm ging die Tür des Zimmers auf. Rasch drehte er sich um. Zwei Männer standen im Türrahmen. Ihre schwarze Samtkleidung aus kurzem Überrock, Weste, Kniehose und Beinlingen war makellos rein, aber von altmodischem Schnitt. Die Gesichter steckten hinter schwarzen Samtmasken mit Sehschlitzen.
Einer der Männer wies über die Schulter nach hinten. Die Bedeutung war klar: Sherlock sollte mit ihnen kommen. Einen kurzen Moment lang spielte er mit dem Gedanken zu rebellieren. Schließlich war er noch nie besonders gut darin gewesen, Befehlen zu gehorchen, die ohne Erklärungen erteilt wurden. Aber nachdem er eine Sekunde darüber nachgedacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass sie ihn einfach packen und mit sich fortschleppen würden, wenn er ihren Anordnungen nicht Folge leistete. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie dabei auch nicht gerade zimperlich vorgehen würden.
Außerdem, so wurde ihm bewusst, war das wohl die einzige Mögl
ichkeit herauszufinden, was da vor sich ging.
Obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte, gelang es Sherlock, eine ruhige, ja sogar gelangweilte Miene an den Tag zu legen, als er auf die Tür zuging. Die beiden Diener traten zurück, um ihn durchzulassen.
Die Tür führte auf einen weiten, opulent geschmückten Korridor hinaus, der in satten Rot- und Violetttönen gehalten war. In die Tapete war ein markantes Wappen eingewebt, das als Stickmotiv auch auf den Samtvorhängen zu sehen war.
Einer der Diener geleitete Sherlock eine breite Treppe hinab, während der andere ihm auf den Fersen folgte. Bis auf Sherlocks Schritte, die von den weißen Marmorstufen widerhallten, war kein Laut zu hören. Denn die Schuhe der Diener waren umwickelt und erzeugten kaum mehr als den Hauch eines Scharrens.
Am Fuß der Treppe angekommen, führte der erste Diener Sherlock auf eine geschlossene Tür zu, die sich neben einem wuchtigen Teakholzschrank befand. Er zog die Tür auf und bedeutete Sherlock mit einer Geste hindurchzugehen.
Mit einem dumpfem, endgültig klingendem Ton schloss sich die Tür hinter ihm.
Der Raum, in dem er nun stand, war groß, kalt und lag fast vollständig im Dunkeln. Sämtliche Fenster waren mit dicken Vorhängen bedeckt. Lediglich ein paar wenige, diagonal verlaufende Lichtstrahlen durchdrangen die Finsternis, und in ihrem spärlichen Licht konnte Sherlock unmittelbar vor sich gerade eben noch die vorderen Konturen eines riesigen Holztisches erkennen, vor dem ein massiver Stuhl stand. Alles andere war im Dunkeln verborgen, mit Ausnahme einiger glitzernder Flecken, bei denen es sich um metallene Gegenstände handeln mochte, die an den Steinwänden hingen.
Es schien offensichtlich, was man von ihm erwartete. Er spürte, wie ihm vor Nervosität und Anspannung Schweißperlen den Nacken hinabrannen, als er auf den Stuhl zuging und sich setzte.