by Andrew Lane
Crowe lächelte freudlos. Er sah fort und mied Sherlocks Blick. »Ich bin jedenfalls kein Tutor, soviel ist mal sicher«, sagte er mit sanfter Stimme. »Auch wenn sich das allmählich zu einem immer interessanteren Zeitvertreib entwickelt. Nein, ich bin – nun ja, sagen wir mal von der amerikanischen Regierung, um es leichter zu machen – angeheuert worden, um Männer aufzuspüren, die während des Bürgerkrieges die entsetzlichsten Gräueltaten begangen haben und ins Ausland fliehen konnten, bevor die amerikanische Justiz sie ergreifen konnte. So ist es auch gekommen, dass ich deinen Bruder kennengelernt habe: Er hat nämlich den Vertrag unterzeichnet, der es mir gestattet, hier zu sein. Und deswegen habe ich mir auch ein Netz von nützlichen Leuten aufgebaut, vor allem in den Docks und in den Häfen. Als du mir also erzählt hast, dass der Baron seinen Plan – um welchen auch immer es sich handeln mag – mit größerem Tempo vorantreiben wollte, habe ich einfach meine Leute benachrichtigt, dass sie nach den Frachtkarren des Barons Ausschau halten sollen. Und wie ich zugeben muss, war ich überrascht, dass sie sie so leicht aufgespürt haben.« Er blickte wieder Sherlock an. »Zufrieden?«
Sherlock nickte.
»Das habe ich nicht vielen Leuten erzählt«, fügte Crowe hinzu. »Wäre dir dankbar, wenn du es für dich behalten würdest.« Dann machte er sich wieder davon, noch bevor Sherlock etwas sagen konnte.
Sherlock widmete sich weiter seinem Spiel und rollte den Pflasterstein unermüdlich vor und zurück, während eine Minute nach der anderen verstrich. Er behielt das Lagerhaustor permanent im Auge, aber es blieb fest verschlossen und nichts rührte sich.
Plötzlich erhob sich irgendwo hinter ihm ein wilder Radau, und fast hätte er sich umgedreht, um nachzusehen. Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig davon abhalten. Er ließ den Pflasterstein ein wenig weiter wegkullern. Als er ihn zurückholte und sich schließlich wieder umdrehte, ließ er seine Augen zur Seite gleiten, wodurch er einen Blick auf die Taverne werfen konnte. Eine Tür stand offen und eine Gruppe offensichtlich stark angetrunkener Männer kam auf die Straße hinausgetorkelt. Sie scherzten derbe miteinander, wandten sich dann in seine Richtung und kamen auf ihn zu. Er konzentrierte sich auf seinen Stein und lauschte angestrengt, ob einer von ihnen etwas über das Lagerhaus, die Bienenstöcke, Baron Maupertuis oder sonst irgendetwas sagte, das mit den rätselhaften Vorgängen in Verbindung stand.
»Wann ziehen wir ab?«, fragte einer von ihnen.
»Beim ersten Tageslicht, gleich morgen früh«, antwortete ein anderer. Etwas an der Stimme kam Sherlock bekannt vor, aber er konnte sie einfach nicht einordnen.
»Wer hat den Einsatzplan?«, fragte eine dritte Stimme.
»Den hab ich im Kopf«, erwiderte der zweite Mann. »Du machst dich nach Ripon auf. Snagger geht nach Colchester. Jungspund Nichelson hier macht ’ne Spritztour nach Woolwich, und ich muss zurück nach Aldershot.«
»Kann ich nicht lieber nach Aldershot?«, fragte eine Stimme mit nördlichem Akzent – vermutlich besagter Jungspund Nichelson.
»Du gehst dahin, wohin man es dir sagt, Sonnenschein«, erwiderte der zweite Mann. Beim Sprechen kam er dicht an Sherlock vorbei. Sein Fuß stieß gegen Sherlocks Pflasterstein und beförderte diesen ein Stück die Straße hinunter.
Ohne es zu wollen, sah Sherlock auf … und blickte dem Mann genau in die Augen.
Es war Denny: der Mann, dem Sherlock zum Lagerhaus in Farnham gefolgt war, der Mann, der dabei gewesen war, als sein Freund Clem auf das Boot gesprungen war, um Sherlock und Matty anzugreifen. Der Mann, der für Baron Maupertuis arbeitete.
So viel zum Thema Unsichtbarkeit. Dennys Gesicht wurde augenblicklich rot vor Wut.
Hände griffen nach Sherlock. Er rollte sich rasch zur Seite, sprang auf die Beine und rannte auf dem Pflasterweg davon. Eigentlich hatte er auf die Taverne zulaufen wollen, in der sich Amyus Crowe befand, aber die Männer standen zwischen ihm und der Tavernentür. Stattdessen rannte er also immer weiter weg … fort von Crowe, fort von Matty und von allem, was er von der Gegend kannte.
Hinter ihm wirbelten dröhnende Schritte über das Pflaster. Gespenstisch hallte ihr Echo von den Häuserwänden wider, an denen er vorbeiflitzte. Ihm brannte der Atem in der Kehle, und sein Herz hämmerte wie ein lebendes Wesen, das man in seinem Brustkorb eingesperrt hatte und sich nun mit aller Macht befreien wollte. Zweimal spürte er, wie Finger seinen Nacken streiften und hastig nach seinem Kragen griffen, und zweimal musste er sich in einer verzweifelten Kraftanstrengung losreißen. Abgesehen von Sherlocks pochendem Herzen, den unterdrückten Flüchen, die seine Verfolger beim Laufen ausstießen, sowie dem Dröhnen ihrer Stiefel verlief die Hetzjagd in absoluter Stille.
Als er ein gutes Stück weiter gerannt war, erkannte er plötzlich, dass der Weg vor ihm abrupt in einer Ziegelsteinmauer endete. Entsetzt riss Sherlock die Augen auf.
Er saß in der Falle! Er drehte sich um und versuchte fieberhaft abzuschätzen, ob er noch genug Zeit haben würde, um zurückzurennen und einen anderen Weg zu finden. Aber die Männer kamen schnell näher. Insgesamt hatte er es mit fünf Kerlen zu tun, wie er in einer merkwürdigen Mischung aus Angst und Gelassenheit feststellte, die plötzlich Besitz von ihm ergriffen hatte. Und alle hielten entweder Messer oder schwere Stöcke in den Händen. Er würde niemals lebend hier rauskommen.
Plötzlich konnte er eine deutlich vernehmbare Stimme in seinem Kopf hören. Er hätte trotzdem nicht sagen können, ob sie seinem Bruder, Amyus Crowe oder ihm selbst gehörte, aber auf jeden Fall sagte sie: »Wege und Straßen führen von einem Ort zum anderen. Ein Weg, der einfach in einer Mauer endet, ist nicht logisch. Er erfüllt keinen Zweck und wäre somit auch gar nicht erst gebaut worden.«
Sherlock wirbelte herum und ließ den Blick über die Ziegelsteinmauer gleiten. Keine Türen, keine Fenster. Nichts außer einem großen Schattenfleck in der Ecke, dort, wohin das matte Sonnenlicht nicht vordringen konnte.
Wenn es einen Ausweg gab, dann müsste er dort sein.
Er rannte in den Schatten hinein. Hätte sich dort nichts befunden, wäre er geradewegs gegen die Ziegelsteine gedonnert und k.o. gegangen. Stattdessen aber stieß er auf einen schmalen Durchgang. Da war sie, seine Fluchtmöglichkeit!
Der enge finstere Gang führte zwischen zwei Gebäuden entlang. Er rannte weiter und hörte plötzlich frustrierte Rufe hinter sich, als seine Verfolger auf der Suche nach dem Durchgang kurzzeitig orientierungslos im Schatten umhertappten. Dann kamen sie einer nach dem anderen hinter ihm in den Gang gestolpert, und Sherlock hörte ihre ächzenden Atemzüge von den hohen Mauerwänden widerhallen.
Mal an die linke, dann wieder an die rechte Wand stoßend, stürmte Sherlock im Zickzack weiter durch den dunklen Gang voran, bis er schließlich auf eine breite Straße hinausstürzte, die auf beiden Seiten von Häusern gesäumt war. Die dröhnenden Stiefeltritte seiner Verfolger in den Ohren rannte er ein Stück geradeaus, bevor er plötzlich aus vollem Lauf schlitternd in einen kleinen Weg nach links einbog. Schon hatte er wieder ein paar Meter Vorsprung gewonnen.
Doch im nächsten Augenblick kam ein Hund aus einer Maueröffnung auf ihn zugeschossen. Allerdings war Sherlock schon vorbei, als die Zähne des Hundes hinter ihm laut in die leere Luft schnappten und das rasende Tier sich gleich darauf auf die Männer stürzte, die hinter ihm her waren. Sherlock hörte wütendes Gebell und heftiges Gefluche, als seine Verfolger dem Hund auszuweichen versuchten. Dann vernahm er, wie ein Stiefel mit dumpfem Ton auf etwas Weiches traf – ein Übelkeit erregendes Geräusch, bei dem Sherlock unwillkürlich zusammenzuckte. Der Hund jaulte laut auf und krabbelte winselnd davon.
Als Sherlock gleich darauf mit Höchstgeschwindigkeit wieder um eine Ecke flitzte, rannte er mit voller Wucht in einen Mann und eine Frau hinein, die anscheinend gerade am Ufer der Themse einen Spaziergang machten. Während Sherlock bloß etwas nach hinten taumelte, schlug der Mann der Länge nach hin.
»Du elender kleiner Dreckskerl«, schrie der Mann, als er sich wieder auf die Beine hievte. »Ich zieh dir die Hammelbeine lang!« Er schob sich die Ärmel seiner Jacke hoch und entblößte muskelbepackte Unterarme, die mit blauen Anker- und Meerjungfrauen-Tattoos überzogen
waren.
»Tu ihm nichts, Bill. Er hat’s nicht mit Absicht gemacht!« Die Frau klammerte sich an den Arm ihres Begleiters. Ihre bleiche Haut war übertrieben geschminkt. Ihre Lippen sahen aus wie ein blutiger Schlitz, und ihre Augenlider waren mit schwarzem Puder schattiert, was ihr Gesicht im Endergebnis wie einen Totenkopf aussehen ließ. »Er ist doch nur ein Kind.«
»Ich dachte, er wär ’n Dieb«, knurrte der Mann noch einmal, diesmal allerdings schon weniger aggressiv.
»Hinter mir sind Männer her«, stieß Sherlock zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Ich brauche Hilfe.«
»Du weißt, was sie in dieser Gegend mit kleinen Jungen alles anstellen«, sagte die Frau. »Das würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen. Tu was, Bill. Hilf dem Jungen.«
»Stell dich hinter mich«, sagte Bill. Da die Ärmel ohnehin schon einmal hochgekrempelt waren, schien er große Lust auf einen Kampf zu haben, und offensichtlich zerbrach er sich auch nicht allzu sehr den Kopf darüber, mit wem er es gleich zu tun bekommen würde.
Sherlock schlüpfte hinter den massigen Körper des Mannes, als seine Verfolger auch schon um die Ecke kamen.
»Bleibt, wo ihr seid«, sagte Bill mit tiefer Stimme, die vor Gewaltbereitschaft nur so triefte. »Lasst das Kind in Ruhe.«
»Keine Chance«, erwiderte Denny, der an der Spitze der fünf Männer stand. Er brachte seine Hand in die Höhe, in der er ein Messer hielt. Das Licht der Nachmittagssonne perlte wie eine glühende Flüssigkeit auf dem scharfen Grat der Klinge entlang. »Der gehört uns.«
Bill langte nach dem Messer, doch Denny warf es von seiner rechten in die linke Hand und stieß es dann in einer raschen Vorwärtsbewegung in Bills Brust. Der Mann fiel auf die Knie, spuckte Blut und starrte mit ungläubigem Gesichtsausdruck vor sich hin. Fast sah es so aus, als könnte er nicht akzeptieren, dass diese Sekunden hier im Straßendreck seine letzten auf Erden sein sollten.
Lächelnd musterte Denny Sherlock, als Bill nach vorne auf das Pflaster krachte. »Bei dir«, versprach er, »wird’s nicht so schnell gehen.«
13
Sherlocks gesamter Körper schien vor Entsetzen und Fassungslosigkeit zunächst wie gelähmt zu sein. Doch dann wurde er von glühend heißer Wut gepackt. Er trat auf Denny zu und rammte ihm mit voller Wucht die Faust in den Unterleib. Verzweifelt nach Luft japsend, klappte der Schurke zusammen. Als sein Gegner zu Boden ging, wich Sherlock etwas zurück und trat ihm gegen den Unterkiefer. Etwas knackte. Der Mann schrie aus weit aufgerissenem Mund, mit einer grotesk verbogenen Kinnlade, die plötzlich wie eingerastet zu sein schien.
Die Frau – Bills Begleiterin – schrie ebenfalls wie am Spieß. Ihr schrilles Gekreische schnitt wie ein Messer durch die Luft. Fassungslos sahen sich die anderen vier Männer an. Dann bewegten sie sich auf Sherlock zu und streckten ihre schmutzigen Hände nach ihm aus. Alle Einzelheiten dieses schrecklichen Erlebnisses sollten sich unauslöschlich in Sherlocks Gedächtnis einbrennen: der Dreck unter ihren Fingernägeln, die Haare auf den Handrücken, die sich auf dem Boden ausbreitende Blutlache, das Gekreische der Frau und Dennys Schreie, die sich zu einem einzigen Schreckenslaut der Qual vereinten. Die Welt um ihn herum schien sich zu verlangsamen und schließlich zu erstarren, um gleich darauf in unzählige Teile zu zerspringen. Mit trockenem Mund wandte er sich der Frau zu. »Es tut mir so leid«, brachte er hervor.
Dann nahm er wieder die Beine in die Hand. Zwei der Männer folgten ihm, wohingegen die anderen bei Denny zurückblieben, der neben Bill auf dem Straßenpflaster zusammengebrochen war. Die Frau stand einfach nur da und blickte auf die beiden hinab, während ihr Gekreische nach und nach zu einem erstickten Schluchzen verebbte.
Als Sherlock um eine Ecke bog, sah er ein riesiges kuppelförmiges Gebäude vor sich. So wie es inmitten eines ansonsten unbebauten und mit Büschen und Bäumen bepflanzten freien Geländes stand, wirkte es irgendwie ganz und gar fehl am Platz. Mehrere Straßen – keine schmalen Wege diesmal, sondern richtige, breite Straßen – führten von dem Gebäude fort, das von einem unablässigen Wirrwarr aus Menschen und Pferden umschwärmt wurde. Weiter hinten konnte Sherlock eine Steinmauer erkennen und dahinter wiederum das graue, aufgewühlte Wasser der Themse.
Sherlock rannte auf das Gewimmel zu. Wo Leute waren, war er wahrscheinlich auch in Sicherheit.
Obwohl er in vollem Lauf immer wieder gut gekleidete Herren und Damen umkurven und sich einmal sogar unter einer Kutschendeichsel hindurchducken musste, hielt er unbeirrt auf das Gebäude zu. Als er näherkam, sah er, dass die Fassade mit Statuen und Fliesenmosaiken verziert war. Dann nahm er eine riesige Öffnung wahr, die sich dunkel und bedrohlich vor ihm auftat. Das musste der Eingang sein! Er änderte leicht die Richtung und steuerte direkt darauf zu. Laute Flüche und Schreie hinter ihm zeigten an, dass seine Verfolger noch nicht aufgegeben hatten.
Der Eingang führte in eine runde Halle. Erleuchtet wurde der weite Raum von hellem Sonnenlicht, das durch unzählige in der Kuppel eingelassene bunte Glasfenster fiel. Das Licht verlieh dem Ort eine zirkushafte, clowneske Atmosphäre. In der Hallenmitte befand sich ein großes Loch im Boden, das von einer Galerie umgeben war. Dicht aneinandergereiht standen dort jede Menge Menschen, die auf irgendetwas hinabstarrten. Auf einer Seite schraubte sich am Rand des Loches eine breite Steintreppe in weiten Spiralen in die Tiefe der Erde hinab.
Sherlock stürzte darauf zu und schob sich, so schnell es ging, durch die dichte Menschenmenge. Als er den Anfang der Treppe erreicht hatte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie zwei seiner Verfolger sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Einer von ihnen war ein glatzköpfiger Kerl mit deformierten Ohren und einer ebensolchen Nase, was den kleinen Bereich in Sherlocks Hirn, der sich gerade nicht verzweifelt mit potentiellen Fluchtmöglichkeiten beschäftigte, zu der Vermutung gelangen ließ, dass es sich um einen Boxer handeln könnte. Der andere war ein klapperdürrer Mann mit scharfen Wangenknochen und spitzem Kinn. Sie waren offensichtlich ganz versessen darauf, ihn zu fangen – koste es, was es wolle. Bevor er Denny den Unterkiefer gebrochen hatte, hätten sie vielleicht aufgegeben, aber jetzt waren sie von einem Ziel getrieben. Einer von ihnen war bis auf die Knochen blamiert worden, und Sherlock würde dafür büßen müssen.
Er drehte sich um und machte sich an den Abstieg.
Die Treppe schraubte sich an der Innenwand eines gigantischen Schachtes in die Tiefe. Hin und wieder wurde sie von einer Galerie unterbrochen, die sich horizontal um den Schacht herumzog, bevor die Stufen weiter in den Abgrund hinabführten. Ein Geruch stieg aus dem Schacht empor. Ein Geruch, in dem sich feuchter Dunst, Fäulnis und Moder zu einem einzigen unerträglichen Gestank verbanden, der Sherlock in der Nase stach und ihm das Wasser in die Augen trieb. Während er immer an der Wand des zylindrischen Schachtes entlang in die Tiefe stapfte, nahmen seine Schritte allmählich einen gleichmäßigen Rhythmus an. Er hatte keine Ahnung, was sich unten auf dem Boden des Schachtes befand. Aber ein kurzer Blick über das Geländer zeigte ihm, was ihn oben erwarten würde. Zwei von Baron Maupertuis’ Männern kamen die Treppe herunter auf ihn zugerannt.
Er beschleunigte seine Schritte. Was auch immer er dort unten vorfinden würde, es konnte unmöglich so schlimm sein wie der sichere und vermutlich langsame Tod, der ihm im Nacken saß.
Es kam ihm vor, als hätte er einen Großteil der letzten paar Tage entweder damit verbracht wegzulaufen oder zu kämpfen. Doch selbst jetzt, da seine Füße über die Steinstufen wirbelten und die über das Treppengeländer rutschende Hand wie Feuer brannte, beschäftigte sich ein Teil seines Gehirns fieberhaft mit den entscheidenden Fragen: Was war das für eine wichtige Sache, die Sherlock nach Meinung des Barons wusste und für die er sterben sollte? Was genau hatte der Baron vor, und warum stand Sherlock seinen Plänen im Wege?
Plötzlich kamen seine Beine aus dem Rhythmus und er strauchelte. Er hatte bereits den ebenen Grund des Schachtes erreicht, ohne es gemerkt zu haben. Er befand sich in einer von Gaslampen erleuchteten Halle, aus der zwei bogenförmige Tunnelöffnungen in gleicher Richtung fortführten. Die Bögen waren etwa vier bis fünf Mal so hoch wie ein erwachsener Mann und aus Ziegelsteinen g
emauert. Sherlock musterte die Steine. Wohin sein Blick auch fiel, an allen Stellen war das Mauerwerk triefend nass. Und Sherlock wusste auch warum. Der Lage der Öffnungen nach zu schließen, verliefen die beiden Tunnel direkt unter der Themse hindurch und endeten vermutlich auf der Nordseite in einem ähnlichen Schacht.
Wenn er es bis zur anderen Seite schaffte, könnte er vielleicht noch einmal mit dem Leben davonkommen.
Er stolperte in den Tunnel zu seiner Linken hinein. Auch hier war alles voller Menschen. Entspannt flanierten sie umher, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, unter einem Fluss herumzuspazieren. Sogar Pferde wurden hier in aller Seelenruhe am Halfter mitgeführt. Die Leute hatten offensichtlich keine Vorstellung von den Abertausenden Tonnen von Wasser, die sich nur ein paar Meter über ihren Köpfen befanden und nur von bröckeligem Mauerwerk und ein bisschen Putz zurückgehalten wurden.
Es gab Zeiten, in denen übermäßig logisches Denken ein Fluch war. Und dieser Moment gehörte zweifellos dazu. Sherlock hatte eine gute Vorstellung von dem gewaltigen Druck, der auf den Tunnelwänden lastete. Nur ein kleiner Riss und sie würden alle im hereinströmenden Wasser ertrinken.
Trotzdem lief er immer weiter. Schließlich hatte er keine andere Wahl.
Oder vielleicht doch? Im Laufen fiel ihm auf, dass die beiden Tunnel parallel zueinander verliefen und etwa alle zehn Meter durch kleinere Nebentunnel miteinander verbunden waren. In sämtlichen dieser Nebentunnel hatten unternehmenslustige Londoner Stände aufgebaut, an denen sie Essen, Getränke, Kleidung und allen möglichen Krimskrams verkauften. Wenn er sich einfach durch einen dieser Tunnel davonstahl, könnte er sich in dem anderen Haupttunnel wieder zurück zum Eingangsschacht begeben, zum Lagerhaus zurückkehren und dort nach Amyus Crowe suchen.
Er hielt nach rechts auf die Tunnelwand zu und bog kurz darauf scharf in den erstbesten Seitentunnel ein, auf den er stieß. Ein Mann wandte sich ihm zu. Eine Öllampe, die an einem Nagel an seinem Bretterstand hing, warf ihr Licht auf sein bleiches Gesicht. Seine graue Haut war feucht und sah aus wie etwas, das viel zu lange unter der Erde gewesen war. Er hatte sich in eine alte Decke gehüllt, die mit der Zeit vor Dreck ganz steif geworden war und ihn wie eine bizarre Rüstung umgab. Aus Augen, die nur aus Pupillen zu bestehen schienen, starrte er Sherlock einen Moment an.