Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)

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Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition) Page 21

by Engel, Kathinka


  »Es ist Weihnachten!«

  Ich ziehe mir mein Kissen aufs Gesicht und stöhne erstickt auf.

  »Es ist Weihnachten!«

  An meiner Tür ertönt ein Klopfen.

  »Amory! Weihnachten.«

  Ich antworte mit einem erneuten Stöhnen.

  »Weihnachteeeen!«

  Es ist Weihnachten. Aber es ist auch noch früh. Der Blick auf mein Handydisplay verrät mir, dass es gerade mal kurz nach sieben ist. Ich höre, dass Nicky über den Flur flitzt. Im nächsten Moment hämmert er gegen Curtis’ Tür. Der Arme.

  »Curtis! Weihnachten! Mom! Daaaaad!«

  Ich wälze mich einmal nach links, dann nach rechts. Nicky läuft die Treppe zum Schlafzimmer meiner Eltern hoch. Ich höre, wie er die Tür öffnet.

  »Wann gibt’s Geschenke?«, fragt er, und meine Eltern murmeln etwas, das ich nicht verstehen kann. Warum brauchen Zwölfjährige so wenig Schlaf?

  Im Bad spritze ich mir ein bisschen Wasser ins Gesicht. Meine Augen sind von der kurzen Nacht noch etwas geschwollen. An der Tür hängt mein flauschiger Bademantel, in den ich mich hülle. Als ich auf den Flur hinaustrete, geht gerade Curtis’ Zimmertür auf. Er sieht ebenso verschlafen aus, wie ich mich fühle. Und ganz entzückend dabei.

  »Dein Bruder hat zu viel Energie«, sagt er heiser.

  »Ihr seid wach!«, ertönt es nun von oben. »Mom, Dad, sie sind wach, können wir jetzt Bescherung machen?«

  Nicky läuft die Treppe hinunter. Er trägt einen Kinderschlafanzug, dessen Ärmel und Beine ein bisschen kurz sind. Er ist in den letzten Monaten ganz schön gewachsen.

  »Morgen«, sage ich. »Wie wäre es, wenn wir beide nach unten gehen, Kaffee kochen, damit die Erwachsenen die Chance haben, ungefähr auf dein Wachheitslevel zu kommen? Und dann packen wir Geschenke aus?«

  »Darf ich in meinen Strumpf gleich reinschauen?«, fragt er und wippt aufgeregt von einem Fuß auf den anderen.

  »Deal«, sage ich, und gemeinsam machen wir uns auf den Weg nach unten.

  Am Treppengeländer hängen drei prall gefüllte große Weihnachtsstrümpfe. Einer von ihnen ist neu, doch Nicky und ich steuern zielsicher unsere an. Darin befinden sich Nüsse, Orangen, Lebkuchen und Schokolade. Nicky nimmt sich einen Lebkuchen und folgt mir mit dem Strumpf im Arm in die Küche.

  »Warum seid ihr alle so müde?«, fragt er.

  »Weil wir erst spät im Bett waren. Die Frage ist eher, warum du so fit bist«, sage ich, während ich die Kaffeemaschine befülle.

  »Es ist doch Weihnachten!«

  »Ja, aber das weiß mein Schlafrhythmus nicht.«

  »Meiner schon.« Nicky grinst.

  »Dein Schlafrhythmus ist ein Quälgeist«, erwidere ich und schalte die Maschine ein, die augenblicklich beginnt zu gurgeln und zu zischen. Nicky stellt sich davor und beobachtet den dünnen Kaffeestrahl.

  »Wie lange braucht der Kaffee?«, fragt er.

  Ich zeige auf den Strich der Kanne. »Bis hierhin musst du warten. Dann gibt’s Geschenke.«

  »Acht Tassen?« Nicky klingt entsetzt. »Ihr seid doch nur vier!«

  »Aber wir sind doppelt so müde wie sonst.« Curtis tritt in die Küche. Er hat sich ein Sweatshirt und seine Jeans angezogen. Seine Haare stehen immer noch in alle Richtungen ab. Kurz male ich mir aus, wie es wäre, mit meinen Händen durch die hellbraunen Wellen zu fahren. Dann drehe ich mich um und nehme vier Becher aus dem Küchenschrank.

  »Gut geschlafen?«, frage ich.

  »Mhm«, macht er und lächelt.

  »Was hast du geträumt?«, will Nicky wissen. »Was von Weihnachten?«

  »Nicht jeder ist so besessen davon wie du«, sage ich.

  »Abgesehen von deiner Schwester.« Curtis setzt sich auf einen der Küchenstühle und reibt sich die Augen.

  »Ha!« Nicky zeigt triumphierend auf mich. »Also?« Er wendet sich wieder Curtis zu.

  »Hm«, macht er. »Kennst du das, wenn man in seinen Träumen Sachen verarbeitet, die man mal erlebt hat?«

  Nicky nickt.

  »Manchmal, wenn man an einen Ort kommt, mit dem man Erinnerungen verbindet …« Curtis sieht auf und mir direkt in die Augen. »… dann träumt man von den Erinnerungen.«

  Ich spüre, wie mir Röte ins Gesicht schießt. Das kann er doch unmöglich ernst meinen. Erzählt er gerade vor meinem Bruder, dass er einen Sextraum von mir hatte?

  »Acht Tassen!«, ruft Nicky und reißt Curtis und mich damit aus diesem Augenblick. »Jetzt geht’s los!«

  Kurz darauf sitzen wir alle mit dampfenden Kaffeetassen im Wohnzimmer. Meine Eltern auf dem Sofa, Curtis auf dem Sessel, ich auf der Armlehne. Nicky hockt auf dem Boden neben dem Weihnachtsbaum und zieht ein Geschenk nach dem anderen hervor.

  »Für wen ist das?«, fragt er.

  »Das ist von mir für deine Mom«, sagt mein Dad, und Mom packt einen neuen Schal aus.

  »Für wen ist das?«

  »Für dich von mir«, sage ich, und Nicky freut sich sehr über einen Experimentierkasten, mit dem man Kristalle züchten kann. Das Feuer im Kamin prasselt inzwischen wieder, und ab und zu knackt ein Holzscheit. Es ist der Inbegriff von Gemütlichkeit, hier mit meiner Familie und Curtis zu sitzen, Kaffee zu trinken und Nicky dabei zuzusehen, wie er bei jedem Geschenk hofft, es könnte für ihn sein.

  »Für wen ist das? Und das? Und das?« Nach und nach packen wir reihum Geschenke aus. Mein Dad bekommt ein Buch mit dem Titel Internet für Dummies, meine Mom passende Handschuhe und eine Mütze zu ihrem Schal. Meine Eltern schenken mir ein Buch mit mathematischen Rätseln und ein gerahmtes Foto von letztem Weihnachten, auf dem wir alle zusammen sind. Sogar Beowulf sieht weniger gerupft aus als sonst. Für Curtis haben sie wie jedes Jahr einen Fresskorb aus selbst gemachten Leckereien zusammengestellt, dessen Inhalt er innerhalb kürzester Zeit aufgegessen haben wird.

  »Für wen ist das?«

  »Von mir für dich«, sagt Curtis.

  Nicky reißt das Papier auf, und zum Vorschein kommt ein Lexikon über die Fauna in Mississippi.

  »Wow, wie cool!« Nickys Augen leuchten, als er die ersten Seiten umblättert. »Kenn ich! Kenn ich auch! Kenn ich auch!«, ruft er und zeigt auf Vögel, Käfer und Kröten. »Danke, Curtis!«

  Aus einem Impuls heraus berühre ich ihn mit meinen Fingerspitzen am Arm, lasse meine Hand sinken und verschränke für einen Moment unsere Finger ineinander. Die Tatsache, dass Curtis meinen kleinen Bruder so gut kennt, sich für ihn interessiert, macht mich so froh, dass ich einen Kloß im Hals kriege. Er sieht mich überrascht an, doch in seinem Blick ist eine zufriedene Sanftheit, die ich von ihm in New Orleans so noch nie gesehen habe.

  »Für wen ist das?« Es sind nun nicht mehr viele Geschenke übrig.

  »Von mir für Curtis«, sage ich und bin auf einmal etwas nervös. Vielleicht hätte ich es ihm lieber unter vier Augen geben sollen.

  Curtis packt das Büchlein aus. »Was ist es?«, fragt er und blättert die erste Seite um. »Du hast mir ein Gutscheinheft gebastelt?«, fragt er.

  Ich nicke und beiße mir auf die Unterlippe.

  »Gutschein für einmal nicht Skeeter Davis hören. Sehr praktisch«, sagt er. »Gutschein für Blueberry Pancakes ohne schlechte Nachrichten. Gutschein für …« Er bricht glücklicherweise früh genug ab, denn meine Familie muss nicht wissen, dass auf der Seite »Gutschein für einmal für den guten Zweck meine Brüste anfassen« steht. Als ich die Idee hatte, kam es mir vor wie ein ziemlich cooles Geschenk. Aber jetzt habe ich das Gefühl, es könnte albern wirken statt lustig.

  »Danke«, sagt Curtis, und diesmal ist er derjenige, der meine Hand drückt. Und dann mit seinen Fingern langsam über meinen Handrücken wandert. Ich kriege trotz Kaffeetasse, Kaminfeuer und Bademantel eine leichte Gänsehaut.

  Curtis hat natürlich recht. Dieser Ort ist so reich an gemeinsamen Erinnerungen. Intimen Erinnerungen. Auch wenn es nur zwei Weihnachtsfeste waren, die wir hier zusammen verbracht haben. Aber es passte einfach. Wenn auch nicht emotional, aber es passte. Es war Spaß, doch gleichzeitig auch mehr als das. Es war tiefer, aber mit angezogener Handbremse, damit wir uns nicht das Herz gegenseitig aus der Brust reißen. Oder so äh
nlich. An diesem Weihnachtsmorgen scheint es allerdings absurd, dass irgendjemand auf der Welt irgendjemand anderem das Herz aus der Brust reißen könnte. In der Glückseligkeit dieser Harmonie scheint kein Raum für Schlechtes zu sein. Für Ängste. Für Vorbehalte.

  »Für wen ist das?« Nicky zieht das letzte Geschenk unter dem Baum hervor. An dem Papier erkenne ich, dass es von Curtis sein muss.

  »Von mir für Amory«, sagt er, und ich strecke die Hand aus, um das flache Quadrat in Empfang zu nehmen.

  Ich reiße das Papier auf, und zum Vorschein kommt eine Schallplatte. Von Skeeter Davis. Eine Aufnahme von Gonna Get Along Without You Now. Und sie ist signiert!

  »Wie hast du … Wo gibt’s denn …« Mir fehlen die Worte.

  »Freust du dich?«, fragt Curtis leise.

  »Danke«, bringe ich hervor und schlinge meine Arme um ihn.

  »Schade, das war’s«, sagt Nicky. »Aber ich hab am meisten gekriegt.« Er macht sich daran, seine Ausbeute noch einmal zu begutachten, während meine Mom aufsteht, um die Gans in den Ofen zu schieben.

  »Nicky, hilfst du mir, die Tiere zu versorgen?«, fragt mein Dad, denn über die Feiertage haben die Farmarbeiter frei bekommen.

  »Klar!«

  Auch als mein Dad und Nicky das Wohnzimmer verlassen haben, befinden wir uns noch in der Umarmung. Es ist schön zu spüren, wie Curtis’ Brust sich hebt und senkt. Wie sein Herz an meiner Brust schlägt. Ich spüre seine weichen Haare an meiner Wange.

  »Du freust dich also sehr?«, fragt er nach einer Weile.

  »Ja«, sage ich.

  »Und ich freue mich, dass du keinen BH trägst«, sagt er und lacht leise.

  32

  Curtis

  Der Tisch in der Küche biegt sich unter den Essensmassen, die Agatha zubereitet hat. Wir haben ihr mehrfach unsere Hilfe angeboten, doch das Weihnachtsessen ist ihr Heiligtum, so wie es das Heiligtum ihrer Mom war.

  »Wenn ich mal einen Mann habe, lasse ich mir helfen«, sagt Amory. »Sorry, Mom, aber den Ehrgeiz habe ich nicht.«

  Jeder hat ein Stück Gans auf dem Teller, Kartoffelbrei, himmlisch duftende Gravy. Dazu gibt es Esskastanien und verschiedenes Gemüse, das meiste davon selbst gezogen.

  »Ach nein, wir haben ja das Wichtigste vergessen«, sagt Amorys Dad, bevor wir uns auf das Essen stürzen können. Mein Magen knurrt leise, und ich frage mich, was so wichtig ist, dass man dafür dieses Festmahl kalt werden lässt. Hoffentlich nichts, wofür man ins Internet muss.

  Seth steht auf und kommt mit einem Weihnachtsstrumpf zurück. »Wir dachten, weil du inzwischen einfach dazugehörst, solltest du deinen eigenen Strumpf kriegen.«

  Im ersten Moment bin ich so verwirrt, dass ich ihn einfach nur anstarre. »Wie bi…«, beginne ich, doch das Wort bleibt mir im Hals stecken, als ich merke, dass tatsächlich ich gemeint bin.

  »Es war meine Idee«, sagt Nicky mir gegenüber.

  »Vor allem, weil er nicht mehr mit dir teilen wollte«, präzisiert Agatha lachend.

  »Aber …«

  »Wir wissen, dass du eigentlich zu alt dafür bist, aber Amory bekommt auch jedes Jahr einen, deswegen …«

  Ich schlucke. Seth hängt den Strumpf über meinen Stuhl und setzt sich wieder.

  »Vielleicht ist es albern«, sagt er, »aber mit drei Strümpfen sah die Treppe dieses Jahr noch hübscher aus, finde ich.«

  »Danke«, sage ich etwas erstickt, weil mein Hals schon wieder zuschwillt. »Danke.«

  Während die anderen nun anfangen zu essen, drehe ich mich zu meinem Weihnachtsstrumpf um. Befühle ihn. Er ist aus rotem Filz und mit weihnachtlichen Motiven bestickt. Ihm entströmt ein winterlicher Duft nach Orangen und Lebkuchen. Hinter meinen Augen drückt etwas. Als der Druck so stark wird, dass sogar meine Nase anfängt zu laufen, entschuldige ich mich kurz, schiebe mit einem lauten Quietschen meinen Stuhl zurück und gehe ins Badezimmer.

  Ich klappe den Klodeckel zu und setze mich einen Moment darauf. Meine Emotionen überfordern mich maßlos. Normalerweise habe ich das nicht. Normalerweise ist Wut das höchste der Gefühle. Wut und Bock auf Amory. Aber hier, wo alle so nett zu mir sind … Sie haben mir einen Weihnachtsstrumpf aufgehängt. Sie haben mich zu einem Teil ihrer Familientradition gemacht. Sie haben … Ich gehe zum Waschbecken und hänge mich unter den Hahn, um einen Schluck zu trinken. Krieg dich in den Griff, Alter.

  »Curtis?« Amory klopft vorsichtig an die Tür. »Ist alles in Ordnung?«

  Amorys Hand um meine Hand. Meine Hand um ihre Hand. Unsere Umarmung, die noch viel länger hätte dauern können. Müssen. Sollen. Ihre Röte, als ich von meinem Traum geredet habe. Der Moment gestern an meiner Zimmertür. Es ist, als wären wir beide völlig aufgeladen. Oder ausgehungert.

  »Alles gut, bin gleich da.«

  Als ich an den Tisch zurückkehre, ist gerade eine lautstarke Diskussion im Gange, ob Nickys Lieblingshuhn Alba an Weihnachten ins Haus kommen dürfen sollte. Drei Stimmen sind für Nein, eine – Nickys – für Ja.

  »Und wer macht den Dreck weg?«, fragt Agatha.

  »Na, ich natürlich!«

  »So wie du den Dreck in der Dusche weggemacht hast?«, fragt Seth.

  Amory sieht ihren Bruder streng an.

  »Ich hab’s versucht«, gibt er kleinlaut zu. »Aber der ganze Schlamm …«

  »… hat den Abfluss verstopft«, vervollständigt Seth.

  »Nicky«, stöhnt Amory, »du bist unmöglich!«

  »Aber ich hab was draus gelernt«, sagt er. »Und das ist doch die Hauptsache.«

  Agatha lacht, und Amory stimmt mit ein. Sie lacht so laut, so schön. Und ich muss die Augen schließen, weil ich es eigentlich nicht ertrage.

  »Und, Nicky, was ist dein bestes Geschenk?«, fragt Amory.

  »Dass Alba ins Haus darf?«, probiert er es ein letztes Mal.

  »Nein«, erwidern Agatha und Seth wie aus einem Mund.

  »Dann das Tierlexikon.«

  »Ja, Curtis hat geschenketechnisch dieses Jahr voll ins Schwarze getroffen«, sagt Amory und sieht mich wieder mit diesem warmen Blick an, sodass mein Gesicht ganz heiß wird.

  »Und deins, Curtis?«, fragt Nicky.

  »Ich liebe sie alle«, sage ich wahrheitsgemäß. »Aber am meisten … hab ich mich über den Strumpf gefreut«, füge ich etwas leiser hinzu. Denn es stimmt. Das Gefühl, irgendwo dazuzugehören, ist mit keinem Geschenk der Welt zu vergleichen. Nicht mal mit der Aussicht, Amorys Brüste anzufassen – auch wenn das knapp dahinter kommt.

  Nach dem Essen – es ist bereits Abend – zeigt Nicky mir endlich sein Froschhaus. Allerdings ist es schon dunkel und ohnehin zu kalt für Frösche.

  »Die sind nämlich wechselwarm«, erklärt Nicky. »Wenn’s kalt ist, fahren die ihren ganzen Stoffwechsel so runter, dass sie sich nicht mehr rühren können.«

  »Du kennst dich echt aus«, sage ich.

  »Ja, ich find’s auch wirklich spannend.«

  Zurück auf der Veranda, bedeute ich ihm, schon mal nach drinnen zu gehen, während ich mich auf die oberste Stufe setze. »Ich brauch noch ’nen Moment«, sage ich und ziehe meine Schachtel Zigaretten aus der Hosentasche.

  »Warum rauchst du eigentlich?«, fragt Nicky.

  »Es entspannt mich.«

  »Darf ich auch mal?«

  »Untersteh dich. Das ist schlecht für dich.«

  »Und für dich nicht?«

  »Doch, für mich auch.«

  »Aber warum machst du es dann?«

  »Darauf habe ich keine Antwort.«

  »Raucht Amory auch?«, fragt er.

  »Deine Schwester?« Ich lache. »Nein, die hat keine Fehler.«

  »Ich glaube, da irrst du dich«, erklingt ihre Stimme von der Tür her. »Mom sucht dich«, sagt sie an Nicky gewandt. »Ich glaube, sie hat Angst, dass du irgendwelche Tiere ins Haus schmuggelst, die da nichts zu suchen haben.«

  Nicky stöhnt und verdreht die Augen. Dann trollt er sich nach drinnen.

  »Kann ich mich zu dir setzen?«, fragt Amory.

  Ich rutsche ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen.

  »Du bist heute so still«, sagt sie. »Geht’s dir nicht gut?«


  »Eher im Gegenteil«, gebe ich zu. Aber manchmal ist das Gegenteil so schön, dass es schmerzhaft ist. Weil einem auffällt, was sonst fehlt.

  »Du weißt, dass du alles Gute auf dieser Welt verdienst, oder?«, fragt Amory, als könne sie Gedanken lesen, und bringt mich damit zum Lachen.

  »Süß, dass du das sagst. Aber wir wissen beide, dass das nicht stimmt.«

  »Nur weil du eine Vollkatastrophe bist, heißt das nicht, dass du dich mit weniger als dem puren Glück zufriedengeben sollst«, sagt sie und nimmt wieder meine Hand in ihre. Wie heute Morgen. So, wie es immer sein sollte.

  Und ohne dass ich weiß, was ich tue, lasse ich die Zigarette aus meinen Fingern rutschen. Ich beuge mich zu ihr, über sie, lege meine Hand in ihren Nacken und presse meine Lippen auf die ihren. Fest und wild. Noch bevor ich wirklich begriffen habe, dass das ein Kuss ist, dringt meine Zunge in sie ein. Ich stöhne, sie erwidert meine Bewegung. Sie atmet laut ein, als müsste sie nach Luft schnappen. Auch ich muss das, aber ich habe keine Zeit zu atmen. Ich brauche nur sie. Näher und immer noch näher. Und mehr von ihr. Alles von ihr. Ihre weiche Lippe, ihre warme Zunge. Ihre glatten Zähne, der Gaumen. Ich will das alles, will, dass es für einen Augenblick mein ist. Meine Finger krallen sich in ihre langen offenen Haare, halten ihren Kopf, mit der anderen Hand presse ich ihren Körper so nah an meinen, dass es fast wehtut. Und immer weiter und immer tiefer bin ich in ihr, schmecke sie, fühle sie.

  Wir müssen ziemlich laut sein. Das Stöhnen, das Schmatzen, das Schnaufen. Es klingelt in meinen Ohren, aber das ist egal. Denn es wird vom Rauschen meines Bluts ohnehin noch mal übertönt. Unsere Münder prallen noch heftiger aufeinander, bis Amory auf einmal unter mir liegt, ohne dass ich gemerkt hätte, wie. Unsere Augen sind geöffnet. Während alldem sehen wir uns an. Sehen die Gier ineinander, die Lust aufeinander. Das Verlangen. Als es mir auffällt, verlangsame ich den Kuss, obwohl mein gesamter Körper brennt.

  »Wenn wir von schönen Geschenken sprechen«, sagt sie und lacht. Auch mir entfährt ein leises Prusten. »Dir ist schon klar, dass ich heute Nacht zu dir komme, oder?«, fragt sie, und wieder muss ich stöhnen.

  »Nicht, wenn ich zuerst bei dir bin«, sage ich, ohne dass ich auch nur ansatzweise wieder zu Atem gekommen wäre. Und ich weiß, dass ich dieses Wettrennen gewinnen werde.

 

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