Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)

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Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition) Page 30

by Engel, Kathinka


  Ich hoffe, dir geht’s gut.

  Könnte schlechter sein.

  Ein paar Tage Funkstille.

  Und dir?

  Ich vermisse dich.

  Wieder Funkstille.

  Bald nicht mehr, du wirst schon sehen. Zwinkersmiley.

  Funkstille aufgrund von Weinkrampf.

  Bonnie sagt, du lebst noch. Das ist gut, schätze ich. Nichts-sehen-Affe.

  Man schlägt sich so durch …

  Zwanzig Sekunden später: Also ohne wirklich zu schlagen.

  Zehn Sekunden später: Denn das mache ich nicht.

  Fünf Sekunden später: Schlagen, meine ich.

  Fünf Sekunden später: Ignorier mich einfach.

  Ich kenne die Chats auswendig. Jedes Mal, wenn ich die App öffne, muss ich dem Drang widerstehen, ihm eine Belanglosigkeit zu schicken, einfach nur, um ihn an mich zu erinnern. Obwohl ich weiß, dass das unfair ist. Uns beiden gegenüber.

  Doch heute finde ich eine neue Nachricht von ihm in meinem Postfach. Mein Herzschlag beschleunigt sich, das Rührei in meinem Mund fühlt sich auf einmal an wie trockene Pappe.

  Ich würde heute meine Sachen holen, wenn das für dich okay ist. Habe sie lange genug bei dir geparkt. Sorry, dass ich so unzuverlässig bin.

  »Alles in Ordnung?« Esmé legt ihre Hand auf meinen Arm.

  »Es ist Curtis«, sage ich leise.

  »Oh.«

  Ich habe Esmé die ganze Geschichte erzählt. Am Ende musste ich heulen und sie komischerweise auch. Wieder schob sie es auf die Hormone. Dennoch fühlte es sich schön an. Solidarisch.

  »Er will nachher vorbeikommen, um seine Sachen zu holen.«

  »Soll ich das für dich übernehmen?«, fragt Esmé, und ich bin ihr so dankbar für das Angebot.

  »Ich glaube … ich möchte ihn sehen.« Ich weiß es.

  »Dann lasse ich euch besser allein«, sagt sie. »Ich wollte ohnehin einen Frühlingsspaziergang machen. Die Magnolienbäume kriegen schon Knospen. Dann kann ich mir auch gleich das Babybett anschauen, das ich auf ebay gefunden habe.«

  »Aber versuch nicht wieder, Sachen zu schleppen, die zu schwer für dich sind. Wenn du Hilfe brauchst, rufst du mich an.«

  »Alles klar, Boss.« Sie grinst.

  Komm, wann immer es dir passt. Ich bin da, schreibe ich an Curtis. Und dann wird mir ganz warm.

  Als es an der Tür klingelt, springe ich sofort auf. Seit geschlagenen zehn Minuten habe ich eigentlich nur auf meine Handy-Uhr gestarrt. Ich betätige den Summer und höre gleich darauf Curtis’ Schritte auf der Treppe. Seinen Haarschopf sehe ich als Erstes. Weiches hellbraunes Haar, das ihm leicht strubbelig in die Stirn fällt. Er trägt eine verwaschene Jeans und ein dunkles T-Shirt. Es ist nicht eng, aber gerade eng genug, dass man seinen Oberkörper erahnen kann.

  Ich lächle, und er erwidert es.

  »Hi.«

  »Selber hi.«

  Wir umarmen uns. Es ist ein wenig steif, aber sein Körper ist an meinem, und das will ich auskosten. Er riecht nach ihm, fühlt sich nach ihm an. Und dann löst er sich einfach von mir.

  »Komm rein«, sage ich mit klopfendem Herzen und versuche, so gelassen zu wirken wie er.

  Er steht im Flur. In unserem ehemals gemeinsamen Flur. Sein Anblick hier ist so normal, dass es wehtut. Und doch ist alles anders. Er reibt sich über die Haare, lässt den Blick schnell über mich wandern. Zu schnell. Nicht einmal bei meinem Dekolleté bleibt er hängen. Er räuspert sich, schweigt aber.

  Er sieht so gut aus, dass ich fast eifersüchtig werde. Anscheinend tut ihm die räumliche Trennung von mir wirklich gut. Es gefällt mir nicht, wie wenig mir das gefällt. Eigentlich sollte ich froh sein. »Kann ich dir noch was anbieten?«, frage ich. »Einen Kaffee oder einen Tee?«

  »Vielleicht ein Glas Wasser«, sagt er, und schon wieder bin ich enttäuscht. Ein Glas Wasser ist etwas, das man schnell zwischen Tür und Angel hinunterstürzt. Man setzt sich nicht hin, redet nicht. Es ist die Befriedigung eines Bedürfnisses, keine Einladung, um Zeit miteinander zu verbringen.

  »Klar.«

  Ich gehe vor ihm her in die Küche. Spüre seine Anwesenheit in meinem Rücken. Wünschte, ich würde stehen bleiben und ihn einfach in mich reinlaufen lassen. Aber das tue ich nicht.

  Aus dem Schrank hole ich ein Glas, eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank.

  »Danke«, sagt er, als ich ihm beides reiche.

  »Geht’s dir gut?« Ich will mit ihm reden. Will ihn dazu bringen, noch ein bisschen zu bleiben.

  »Ja, kann nicht klagen.«

  Sein Adamsapfel hüpft auf und ab, als er sein Glas in einem Zug leert.

  »Was macht das Haus?«

  »Es wird.«

  »So präzise«, sage ich und lache unbeholfen.

  »Sorry.« Wieder reibt er sich über die Haare, lächelt. »Es geht gut voran. Ich habe jetzt eine Dusche.«

  »Meinen Glückwunsch.« Ich klopfe ihm mit der Hand auf die Schulter. Eine selten blöde Bewegung. Eine kumpelhafte Geste, die meilenweit von dem entfernt ist, was ich eigentlich tun will.

  »Danke.« Er stellt das Glas auf die Anrichte.

  Einen Moment lang stehen wir unschlüssig herum. Ich sehe ihn an, er weicht meinem Blick aus. Ich würde gern noch etwas sagen, um ihn daran zu hindern, gleich wieder zu verschwinden.

  »Und … bei dir?«, fragt er und schaut mir dabei in die Augen.

  »Auch alles gut«, erwidere ich, obwohl meine Kehle eng wird.

  »Das ist schön.«

  Ich nicke.

  »Das ist wirklich schön, Amory.« Die Art und Weise, wie er meinen Namen sagt, jagt mir einen Schauer über den Rücken. Einen prickelnden, aufregenden Schauer. Obwohl ich weiß, dass er einfach nur meinen Namen gesagt hat. Ohne Bedeutung.

  »Na, dann will ich dich mal von meinem Krempel befreien.« Wieder ein Lächeln. Ein unverbindliches.

  »Die Kiste steht im Flur«, sage ich und nehme mir kurz Zeit, um tief einzuatmen, bevor ich hinter ihm die Küche verlasse.

  Er hebt die Kiste hoch. Seine Muskeln spannen sich unter dem T-Shirt an, und ich starre vielleicht einen Moment zu lange auf seine Oberarme. Dann blinzle ich und reiße mich wieder zusammen.

  »Danke, dass du mir keinen Stress deswegen gemacht hast«, sagt er und klingt dabei so anders als sonst, dass ich mich frage, ob er vielleicht das Alien ist, nicht das Wesen in Esmés Bauch. Er ist ganz gefasst. Ganz ruhig. Auf eine distanzierte Weise erwachsen. Und es schneidet in mein Herz.

  »Kein Ding. Ist ja nicht so, als hätte ich ein Platzproblem.«

  »Nein, wohl nicht.« Er lacht.

  Ich erzähle ihm nicht, dass ich ab und zu die Box aufgemacht und seine Gegenstände angesehen habe. Einfach, um ihm näher zu sein. In diesem Augenblick fühlt es sich erbärmlich an. Vor allem im Vergleich zu Curtis’ freundlicher Gleichgültigkeit.

  Er öffnet die Tür, stellt die Box ins Treppenhaus, wendet sich noch einmal um. »Also, bis bald«, sagt er. Dann umarmen wir uns. Ich würde gern sagen, dass es von ihm ausgeht, aber vermutlich wäre das falsch. Es ist wieder eine kurze Berührung. Eine freundschaftliche.

  »Du siehst übrigens gut aus.« Ich weiß auch nicht, warum das in diesem Moment aus mir herausplatzt. Selbst wenn es stimmt. Aber andere Sachen, die stimmen würden, behalte ich ja auch für mich. Dass ich ihn nicht mehr loslassen will, beispielsweise.

  »Du auch«, sagt er, während er sich wieder nach der Kiste bückt.

  Mein »Danke« wird von seinen Schritten übertönt.

  Ich lehne mich von innen gegen die Tür. Ich bin so verwirrt, dass ich nicht dazu in der Lage bin, einen klaren Gedanken zu fassen. Was um Himmels willen war das? Wieso hat er es geschafft, in nur zwei Monaten über mich hinwegzukommen, während ich mir nachts seinen Kissenbezug aufs Gesicht lege? Dabei habe ich doch darauf geachtet, mich nicht zu verlieben. Ich wusste, dass es eine dumme Idee war. Dass es mit ihm nie funktionieren würde. Aber dann kam Weihnachten, und wir waren so glücklich zusammen und …

  Mein Handy vibriert, und ich ziehe es aus meiner Hosentasche.

  Das war eine Untertreibung, lese ich. Du siehst unheimlich schön
aus .

  Aus einem verzerrten Lächeln wird eine Grimasse. Und dann beginnt meine Lippe zu zittern und ich zu weinen. Ich weiß, dass es nichts zu bedeuten hat. Dass er nett sein will. Aber genau das rührt mich so sehr, macht mich gleichzeitig derart tieftraurig, dass ich meine Gefühle nicht mehr zurückhalten will.

  »Hey«, sagt Esmé dicht an meinem Ohr und streicht mir die Haare zurück, »war es so schlimm?«

  Ich schüttle den Kopf. Denn genau das ist es ja. Es war gar nicht schlimm. Es war einfach nichts. »Sind nur die Hormone.«

  Esmé kichert leise und fährt mit der Hand über meine Wange, meine Schulter. »Lass es raus.«

  »Ich glaube …«, sage ich schluchzend. »Ich glaube … er ist über mich … hinweg.«

  »Das kann ja gar nicht sein. Niemand ist je über dich hinweg.« Ihre Stimme ist ganz ruhig, ihre Bewegungen sanft.

  »Er war … ganz anders.«

  »Das war bestimmt Selbstschutz«, sagt sie. Doch sie war nicht dabei. Hat nicht in sein Gesicht gesehen. Hat nicht die kurze Umarmung gespürt.

  »Ich hab ihm … auf die Schulter geklopft«, bringe ich hervor und werde von einem Wein-Lach-Krampf geschüttelt, weil ich mich so dämlich fühle. »Ich glaube … ich hab noch nie … jemandem auf die Schulter geklopft.«

  Auch Esmé muss leise lachen. »Das kann jedem mal passieren«, sagt sie, setzt sich auf das Sofa, auf dem ich liege. »Ich würde dir gern anbieten, den Kopf auf meinen Schoß zu legen«, sagt sie. »Aber mein Schoß ist leider inzwischen ein Nicht-Raum geworden.«

  Damit bringt sie mich wieder zum Lachen. »Danke trotzdem«, sage ich und setze mich auf. Dann klopfe ich ihr auf die Schulter. »Kumpel.«

  Sie grinst mich an. »Wie wäre es mit Planet Earth? «, schlägt sie vor. »Mit Pinkelpausen für die unförmige Frau ohne Schoß ungefähr alle Viertelstunde?«

  »Ich bitte darum«, erwidere ich.

  46

  Curtis

  »Komm rein, Curtis«, sagt Jacob und tritt einen Schritt von der Tür zurück. »Deine Großmutter ist schon da.«

  Ich zwinge mich zu einem Lächeln, einem Nicken. Es war kein Problem, an ihre Nummer zu kommen. Die Alte gegenüber, Miss Lisette, wie ich nun weiß, gab sie mir bereitwillig. Doch es dauerte geschlagene zwei Wochen, bis ich sie überhaupt darum bat. Noch einmal zwei Wochen vergingen, bis ich mich überwunden hatte, meine Großmutter anzurufen. Nach zweieinhalb Minuten Telefonat war es vorbei und ich ausgehöhlt. Wie nach der Begegnung mit Amory. Als wäre ich innerlich nicht mehr existent.

  Ich mache einen Schritt an Jacob vorbei in den Behandlungsraum. Und da sitzt sie. Auf dem Platz, den ich sonst einnehme. Ein weiterer Sessel vervollständigt heute die Sitzgruppe. Sie steht auf. Sieht runzlig aus. Älter, als ich sie in Erinnerung hatte. Bin mir nicht einmal sicher, wie alt sie jetzt ist. Mitte siebzig? Ende? Plötzlich weiß ich nicht mal mehr, wie viel Zeit vergangen ist. Ihr weißes Haar dreht sie immer noch in diesen perfekten Dutt an ihrem Hinterkopf. Ein dunkelgrauer Rock reicht ihr bis zu den Waden, und obenrum trägt sie eine sorgfältig gebügelte glänzende Bluse.

  Ich schlucke.

  »Curtis!«, sagt sie und steht auf. Ich sehe, dass sie zittert. »Junge.«

  Als ich keine Anstalten mache, auf sie zuzugehen, setzt sie sich langsam wieder hin. Sinkt etwas in sich zusammen.

  »Schön, dass Sie hier sind, Mrs Sullivan.« Jacob schiebt mich behutsam Richtung Sitzgruppe. Wir nehmen gleichzeitig Platz. Ich fühle mich wie gelähmt. »Ihr Enkelsohn ist in den letzten Monaten ein paar Themen angegangen, die ihn beschäftigt haben. Dass Sie sich bereit erklärt haben, ihn heute bei einem Stück dieses Weges zu unterstützen, freut mich sehr.«

  Ich kann sie nicht ansehen. Aber ich kann auch nicht wegsehen. Also begnüge ich mich damit, auf die faltige, fleckige Hand zu starren, die auf der Armlehne ihres Sessels liegt. Ich kenne diese Hand. Und doch ist sie mir so fremd.

  »Es ist von großer Bedeutung, dass wir verstehen, was zwischen Ihnen vorgefallen ist. Wie lange haben Sie sich nicht gesehen?«, fragt Jacob.

  »Sieben Jahre.« Die Stimme meiner Großmutter ist leise. Brüchig. Wie früher, aber anders.

  »Wollen Sie einfach gleich den Anfang machen? Curtis, wäre das für dich in Ordnung, wenn wir erst einmal deine Großmutter erzählen lassen?«

  »Klar, von mir aus.« Mir ist es egal.

  »Mrs Sullivan, wollen Sie uns Ihre Sicht der Dinge schildern? Was ist vor sieben Jahren passiert?«

  Ihre Hand zuckt. Einmal. Zweimal. »Ach, wissen Sie«, sagt sie dann. »Curtis war ein schwieriger Junge.«

  Mir schießt Hitze ins Gesicht, und ich wende mich ab, schließe die Augen. Stütze die Stirn in meine Hand. Jetzt geht es los. Vorwürfe, Unzulänglichkeiten.

  »Er hat nichts als Ärger gemacht. In der Schule, zu Hause.«

  Mir ist übel. Meine Beine werden taub.

  »Inwiefern?«, fragt Jacob.

  »Hat geraucht, getrunken. Geklaut. Er hat sich geprügelt. Kaum eine Woche verging, in der er nicht mit einer blutenden Lippe oder einem blauen Auge nach Hause kam. Er wurde von der Schule suspendiert …« Es klingt, als ließe sich die Liste endlos fortsetzen. In meinen Ohren rauscht es. Ich hätte sie nicht herholen sollen.

  »Wie war das für Sie?«, fragt Jacob, der alte Sadist, und Hitze kriecht meinen Hals hinauf. Innerlich wie äußerlich. Ich will das nicht hören. Will, dass sie still ist. Verflucht noch mal.

  »Es war schrecklich. Wissen Sie, ich hatte ja gerade meinen Sohn verloren. Und seine Frau … Und dann musste ich mich um einen Jungen kümmern, der nicht zu bändigen war … Als er achtzehn wurde, habe ich die Reißleine gezogen.«

  Mein Herz beginnt zu rasen. Curtis, die Zumutung.

  »Sie haben ihn gebeten, auszuziehen?«

  »Es gab keinen anderen Ausweg.«

  Ich schnaube, weil ich mir das nicht länger anhören kann. Wenn sie nur hier ist, um mich schlechtzumachen, kann sie gleich wieder verschwinden. Es ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, dass sie keinen Bock auf mich hatte.

  »Curtis?«, fragt Jacob. »Du reagierst ablehnend?«

  »Das ist doch Bullshit«, sage ich. »Ich konnte es ihr von Anfang an nicht recht machen. Sie hat mich eingesperrt. Sie wollte, dass ich von morgens bis abends bei ihr zu Hause hocke und mich nicht rühre. Mich benehme. Das war ihre Vorstellung von einem wohlgeratenen Kind. Sorry, dass ich so eine Enttäuschung war. Bin.«

  »Willst du deiner Großmutter das direkt sagen?«, fragt Jacob.

  Ich hebe den Blick und sehe sie an. Ihr blasses, faltiges Gesicht. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Doch ehe ich mich direkt an sie wenden kann, sagt sie: »Das ist nicht wahr. Ich habe dich nicht eingesperrt.«

  »Ach nein?«, frage ich giftig. »Ich durfte gar nichts. Nicht nach draußen, nicht zu Freunden. Nicht auf dem Schulweg trödeln. Nicht länger bei einer Bandprobe sein.«

  »Es war zu deinem Besten.« Ihr Tonfall ist flehend.

  »Wie fühlte sich das für dich an, Curtis? Wenn du sagst, du wurdest eingesperrt. Was hat das mit dir gemacht?«

  »Ich wollte raus. Wollte frei sein. Wollte mich irgendwie entladen, schätze ich.«

  »Es wurde immer schlimmer mit ihm«, sagt meine Großmutter.

  »Weil du mich immer weiter eingeschränkt hast. Mal darüber nachgedacht?«

  »Wie hast du reagiert, Curtis?«

  »Bin abgehauen. Habe mich geprügelt. Bin durch die Clubs gezogen.«

  »Manchmal, wenn ich morgens aufwachte, war er nicht da und torkelte dann irgendwann im Laufe des Vormittags ins Bett, statt in die Schule zu gehen. Vollkommen betrunken. Ein fünfzehnjähriger Junge. Was hätte ich denn tun sollen? Zusehen, wie er sein Leben wegwirft?«

  »Curtis?«, fragt Jacob. »Willst du das beantworten?«

  »Keine Ahnung. Vielleicht mal fragen, wie es mir geht oder so.«

  »Mich hat auch niemand gefragt, wie es mir geht. Niemand wurde gefragt. Die Stadt war kaputt. Ihre Seele war kaputt. Und damit unser aller Seele.«

  »Aber ich war ein verficktes Kind!«, rufe ich und balle meine Hände zu Fäusten. Will mich zwingen, sie locker zu lassen, will in
mich gehen, herausfinden, ob das eine adäquate Reaktion ist, so wie Jacob es mir beigebracht hat, aber dazu kommt es nicht.

  »Nicht fluchen!«, tadelt sie wie automatisch.

  Und dann passiert etwas in mir. Verschiebt sich. Lässt mich klarsehen. »Ja, das war dir immer wichtig, stimmt’s? Dass ich nicht fluche. Keine beschissenen Schimpfwörter in den Mund nehme. Scheißegal, wie es mir ging. Meine Eltern waren tot, aber Hauptsache …«

  »In meinem Haus wird nicht geflucht«, unterbricht sie mich.

  »In deinem Haus wurde gar nichts gemacht. Nicht mal gelebt wurde da! Und ich war dir nie gut genug.« Ich bin auf einmal so aufgebracht, dass ich mich selbst ermahnen muss, zu atmen. Ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht. »Du sagst, du hattest Angst, dass ich mein Leben wegwerfe. Welches verfluchte Leben sollte das deiner Ansicht nach denn gewesen sein?«

  »Ich hatte Angst, dich auch noch zu verlieren«, sagt sie auf einmal, und ihre Stimme ist ganz leise. Es ist ein so schreiender Unterschied zu meinem lauten Ausbruch, dass während der nächsten Sekunden nichts zu hören ist. Wir sind alle wie erstarrt. »Du warst das Einzige, was ich noch hatte. Von ihm.«

  Erst weiß ich nichts darauf zu sagen. Dann blicke ich ihr erneut direkt in ihre wässrigen Augen. »Und trotzdem hast du mich weggeschickt.« Ich klinge kalt.

  »Wie hat sich das angefühlt?«, fragt Jacob.

  »Na, wie wohl? Beschissen.«

  »Obwohl du dich bei deiner Großmutter eingesperrt gefühlt hast?«

  Ich überlege. »Ich wusste ja, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie mich rausschmeißen würde. Und als es dann wirklich passiert war – keine Ahnung. Es war trotzdem krass.« Ich zucke mit den Schultern.

  »Du hast mich dazu getrieben«, sagt sie.

  »Als wärst du nicht froh gewesen, mich endlich los zu sein. Gib’s doch zu.« Ich spucke die Worte beinahe aus.

  Sie schlägt sich die Hände vors Gesicht. »Nein«, keucht sie. »Nein, so etwas darfst du nicht sagen.«

  »Und warum stand ich dann am Tag nach meinem Geburtstag auf der Straße? Hm? Merkst du was?«

  »Es war mir einfach zu viel. Ich … konnte nicht mehr. Ich …« Sie zieht ein Taschentuch aus der Box mit den Blumenornamenten und tupft sich die Augenwinkel ab. Dann schnäuzt sie sich geräuschvoll. »Ich musste mich selbst schützen.«

 

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