by Kiefer, Lena
Ausgerechnet meine vierzehnjährige Schwester war es gewesen, die mich mitten in der Nacht aufgeweckt hatte. Sie hatte an meinem Bett gestanden und an meinem Arm gerüttelt, bis ich die dunklen Abgründe verlassen hatte und sie endlich erkannte. Danach war sie unter meine Decke geschlüpft und hatte sich an mich gekuschelt. »Was war los?«, hatte sie gefragt. »Was war mit ihm?« Und ich hatte sie irritiert angeschaut. »Mit wem?« Ich erinnerte mich so gut wie nie an meine Träume, weder an gute noch an schlechte – und schon gar nicht an das, was mich immer wieder weckte. Sonst wäre es ja einfach gewesen. »Mit Lyall«, hatte Eleni gesagt. »Du hast seinen Namen gerufen, als würde dir irgendetwas Schlimmes zustoßen und er müsste dich davor retten.«
Danach war sie eingeschlafen, und ich hatte wach gelegen und mich gefragt, wieso Lyall auf diese Art in meinen Träumen umhergeisterte. Dass es mich immer noch beschäftigte, was zwischen uns passiert war, wunderte mich nicht. Ich wusste, dass es noch eine Weile dauern würde, bis ich nicht mehr an ihn dachte – und seit mich Dr. Hanson dazu ermutigt hatte, das zu akzeptieren, war es etwas besser geworden. Zumindest hatte ich das geglaubt. Warum also hatte ich jetzt Albträume von Lyall? Das war die ganzen letzten Monate nicht der Fall gewesen. Vielen Dank, Unterbewusstsein.
»Kenzie?« Auch jetzt holte mich Eleni in die Gegenwart zurück. Ich atmete aus.
»Ja«, beruhigte ich sie und lächelte. »Alles bestens. Das letzte Nacht war wirklich nur ein Albtraum, sonst nichts. Weißt du noch, als du von dem überdimensionalen Happy Meal geträumt hast, das dich fressen wollte?«
Sie sah mich skeptisch an. »Da war ich sechs .«
»Und? Blöde Träume hat jeder mal.«
»Wer hat blöde Träume?« Willa wurde auf unser Gespräch aufmerksam.
»Niemand«, widersprach ich mir selbst.
»Was –«
»Wir sind da!«, verkündete mein Vater in der nächsten Sekunde vom Fahrersitz und parkte am Straßenrand. »Alle aussteigen.«
Wir befolgten den fröhlichen Befehl und verließen das Auto, nur um dann in unseren schicken Klamotten in der Dunkelheit auf dem Gehweg zu stehen und uns fragend umzusehen.
»Und … jetzt?«, fragte Juliet, endgültig genervt. Sie sprach uns allen aus der Seele.
»Hier entlang.« Dad lief los, direkt auf ein Backsteinhaus mit grüner Eingangstür zu, die von einem Strahler angeleuchtet wurde. Wir folgten nur zögernd.
»Jetzt ist er wirklich übergeschnappt«, murmelte Willa düster. »Ich dachte mir schon, dass Weihnachten ein Warnzeichen war, als er diesen Pullover mit den Lebkuchenmännern angezogen hat. Aber dass er nun normale Wohnhäuser für Restaurants hält … vielleicht sollten wir ganz schnell wegrennen.«
»Mädchen!«, rief unser Vater. »Nun kommt schon!«
Er klingelte an der Tür, während wir herankamen, und bald darauf öffnete eine blonde Frau in seinem Alter, die mir vage bekannt vorkam.
»Ihr seid da, wie schön«, lächelte sie und trat zur Seite. »Kommt rein.«
Ich machte einfach den Anfang und schüttelte ihr die Hand, wobei sie mir ihren Namen nannte – Susanna – und ich ihr im Gegenzug meinen. Woher kannte ich sie, verdammt? Ich war mir sicher, ich hatte sie schon einmal gesehen.
»Dr. Whistler?« Eleni, die als Letzte durch die Tür trat, sah die Frau mit großen Augen an. »Sie haben ein Restaurant?«
»Ein Restaurant? Was meinst du damit, Eleni?« Susanna schaute irritiert von ihr zu meinem Vater. »Thomas, was hast du ihnen denn erzählt?«
Dad stand auf der Schwelle und schien zu merken, dass sein Plan nicht aufgegangen war. Eleni und Juliet waren verwirrt, Willa sah skeptisch aus und mir dämmerte langsam, woher ich Susanna kannte. »Sie sind Elenis Ärztin gewesen«, stellte ich fest. »Als sie den Reitunfall hatte.« Allerdings sah sie in ihrem dunklen Etuikleid und mit offenen Haaren ziemlich anders aus als in der Arztkluft im Krankenhaus.
Sie lächelte. »Richtig. Da haben wir uns kennengelernt.«
»Kennengelernt?«, echote Juliet.
»Vielleicht nehme ich euch erst mal die Jacken ab und ihr geht rüber ins Esszimmer.« Susannas Lächeln blieb, auch wenn es etwas angestrengt wirkte. »Ich rede kurz mit eurem Vater und danach erklären wir euch alles.«
Ich sammelte die Jacken meiner Schwestern ein und gab sie zusammen mit meinem Mantel Susanna, bevor wir durch eine doppelflügelige Schiebetür gingen und in einem geschmackvoll eingerichteten Zimmer landeten, das von einem großen, für acht Personen gedeckten Tisch beherrscht wurde. Ich bemerkte die dezente Beleuchtung und die farblich abgestimmte Dekoration auf dem Sideboard, konnte mich aber gerade noch davon abhalten, die Vasen anders zu arrangieren.
»Was soll das?«, raunte mir Juliet zu. »Was machen wir hier?«
»Ist doch klar.« Willa zuckte mit den Schultern und grinste. »Dad ist jetzt Privatpatient.«
»Hä?« Eleni sah sie ratlos an.
»Mann, Leni, checkst du es nicht? Sie vö…«
Bevor ich sie unterbrechen konnte, erledigte das jemand anders. Man hörte Schritte auf der Treppe und zwei Jungs kamen ins Zimmer, ungefähr so alt wie Juliet und Willa. Der Jüngere war dunkelblond, der Ältere hatte etwas hellere Haare, und beide sahen nicht so aus, als würden sie uns für Einbrecher halten – also war ihre Mutter mit Infos wohl freigiebiger gewesen als unser Dad.
»Wow«, sagte der Ältere. »Als Mum sagte, ihr neuer Lover würde auftauchen und seine Töchter mitbringen, dachte ich nicht, dass ihr so viele seid.«
»Und so hübsch, nicht wahr?«, merkte Willa an. Ich warf ihr einen meiner Unangebracht -Blicke zu, den sie wie so oft großzügig ignorierte.
Der Typ grinste. »Fischst du gerade nach Komplimenten?«
»Nein, nach Höflichkeit und Anstand. Aber ich merke schon, der Teich ist vollkommen leer.«
»Autsch!«, er lachte und streckte dann die Hand aus. »Aber gut, das habe ich verdient. Ich bin Alex, das ist mein Bruder Ian. Es freut mich, euch kennenzulernen.«
Während Willa unsere Namen herunterratterte, als wäre Elenijulietkenziewilla eine einzige Person, kamen Susanna und Dad zurück von ihrer Besprechung, deren Inhalt ich mir nur zu gut ausmalen konnte.
»Ah, ihr habt euch schon kennengelernt?« Susanna sah zu ihren Söhnen.
»Mehr oder weniger«, murmelte Juliet, die wie gewöhnlich in solchen Situationen die Stillste von uns allen war. Daraufhin folgte der peinliche Moment, in dem unser Dad Alex und Ian die Hand schüttelte und Susanna uns erklärte, dass sie diesen Abend geplant hatten, damit ihre Familien sich kennenlernten. Als hätten wir uns das nicht längst zusammengereimt. Nur was ich davon halten sollte, wusste ich noch nicht.
»Gut, dann setzt euch am besten hin, ich hole den Auflauf.«
»Sie kann nämlich nichts anderes als Auflauf«, verriet uns Alex.
»Vielen Dank, Sohn.« Susanna verdrehte die Augen.
Ich sah in den Gesichtern meiner Schwestern sehr unterschiedliche Reaktionen, als wir uns setzten. Willa hatte mehr Augen für Alex als für die Tatsache, dass Dad eine Freundin hatte. Eleni sah hoffnungsvoll aus und Juliet so, als wäre sie lieber woanders. Als sie mich ansah, lächelte ich, um ihr das Gefühl zu geben, dass alles okay war. Aber war es das? Ich wusste es nicht. Wir waren daran gewöhnt, allein klarzukommen, wir fünf gegen den Rest der Welt. Eine neue Frau, die Mum ersetzte, das fühlte sich falsch an. Und ich hätte nicht erwartet, dass ausgerechnet ich damit Probleme haben würde, aber ich spürte Widerwillen gegen diese Person, die mein Vater ansah, als wäre sie direkt vom Himmel herabgestiegen.
Ab diesem Punkt würde sich einiges ändern, das stand fest.
Ich hielt mich jedoch zurück, während am Tisch die höflichen Fragen nach der Schule, Elenis Theatergruppe und Willas Zukunftsplänen losgingen.
»Du hast bei ›Stolz und Vorurteil‹ mitgespielt?«, fragte Ian, der im Gegensatz zu seinem Bruder weniger gesprächig zu sein schien.
Eleni nickte. »Die Elizabeth Bennet. Wir –«
Der Rest ihrer Erklärung ging im Rauschen in meinen Ohren unter.
Du weißt vieles über mich nicht, Miss Bennet. Ich hätte damit rechnen müssen
, dass mich ein Erinnerungsstreiflicht treffen würde, wenn Eleni von dem Stück redete. Aber ich war nie darauf vorbereitet, wenn so etwas passierte. Es war wie ein Schlag in die Magengrube, nach dem man keine Luft mehr bekam. Nur dass es nicht allein Schmerz war, den ich spürte. Es war auch fürchterliche Sehnsucht nach dem Mann, der mich so genannt hatte. Mit aller Gewalt drängte ich sie zurück. Verschwinde, Lyall , flehte ich innerlich. Bitte geh weg.
»Du bist ein Idiot, hat dir das schon mal jemand gesagt?«, holte mich Willa zurück an den Tisch. Ich hatte keine Ahnung, wieso sie das sagte.
»Nein, du bist die Erste, die das erkennt. Muss ein Zeichen sein.«
Willa grinste, Alex tat es ebenfalls, und ich schüttelte innerlich den Kopf darüber, dass es nur meine Schwester schaffte, bei einem Anlass wie diesem mit ihrem potenziellen Stiefbruder zu flirten.
»Und das mit euch hat im Krankenhaus angefangen?«, fragte ich Susanna, damit das Kennenlernen unserer Familien sich nicht nur auf Willa und Alex beschränkte.
»Na ja, nicht direkt.« Sie sah zu meinem Vater. »Eigentlich hat Thomas mir dort nur erzählt, was er beruflich macht, und da Alex mir schon mit einem Campervan in den Ohren liegt, seit er zwölf ist, dachte ich, nutze ich die Gelegenheit. Wir waren dann in der Firma und haben uns ein paar Modelle angesehen – und am Ende des Tages hatten wir zwar kein Geschäft abgeschlossen, aber Telefonnummern getauscht.« Sie lächelte Dad an und ich freute mich für ihn. Er hatte das verdient. Egal, wie merkwürdig es sich für mich anfühlte.
»Wir sind übrigens nur deswegen ohne Auto abgezogen, weil mein Favorit nicht zum Verkauf stand.« Alex nahm sich etwas nach. »Es war so ein dunkelblaues Geschoss mit Chromverzierungen. Heißes Teil, echt.«
»Das ist Loki, Kenzies Auto«, sagte Eleni. »Sie hat ihn selbst ausgebaut.«
»Cool.« Alex nickte in meine Richtung. »Ich bin neidisch, muss ich zugeben. Thomas hat uns kurz reinschauen lassen – perfekte Aufteilung und richtig schickes Design. Du kannst nicht zufällig für uns auch so etwas bauen?«
»Könnte ich.« Ich hob die Schultern. »Aber du kannst Loki auch einfach kaufen, wenn du willst.« Ich sah ihn und seine Mutter an. »Macht mir einen guten Preis und er gehört euch.«
Sofort wurde es still am Tisch. Schockiert sah mich meine Familie an – als hätte ich ihnen gesagt, dass ich ein Kind von einem verurteilten Serienkiller erwartete. »Was?«, fragte ich gereizt.
»Du willst Loki doch nicht ernsthaft verkaufen?« Mein Vater war immer noch fassungslos.
»Er ist mein Auto, ich kann damit machen, was ich will. Und wenn Alex nach so etwas sucht, wieso soll er ihn nicht bekommen? Wir verkaufen schließlich Camper, oder nicht?«
Eleni schüttelte den Kopf. »Aber du liebst Loki doch!«
»Er ist nur ein Auto , Leni.«
»Dein Auto! Dein Ein und Alles. Du hast ein Bild von ihm in deinem Portemonnaie! Wie kannst du ihn einfach so weggeben?«
Musste sie das mit dem Foto ausgerechnet hier erzählen? Das war doch echt peinlich.
»Weil ich kein dummes kleines Mädchen bin!«, knurrte ich. »Ich hänge mein Herz nicht an irgendwelche Gegenstände, als wären sie lebendig.«
Elenis Augen wurden groß vor Schreck. So hatte ich noch nie mit ihr geredet. »Du willst ihn doch nur loswerden, weil er dich an Lyall erinnert«, sagte sie dann leise.
»Halt deine Klappe!«, fuhr ich sie an.
»Sie hat aber recht, Kenz.« Willa sprang Eleni bei.
»Das geht euch einen Scheiß an!« Ich stand auf und warf die Serviette auf den Tisch. »Ihr habt keine Ahnung, was passiert ist, okay? Also schreibt mir nicht vor, was ich zu tun habe!«
Mit einem bühnenreifen Abgang verließ ich den Raum und ging in den Eingangsbereich, um meinen Mantel zu suchen und frische Luft zu schnappen. Susannas Vorgarten war dafür nicht der richtige Ort, denn die Fenster des Esszimmers zeigten dorthin. Also lief ich einfach los, die Straße hinunter.
Ich wusste, ich benahm mich albern, wie ein Teenager. Aber die Erinnerung an Lyall brachte mich ständig an meine Grenzen. Verdammte Scheiße, wir waren doch kaum richtig zusammen gewesen! Wieso machte mich das so fertig?
Vielleicht, weil jetzt auch noch alles andere in sich zusammenzufallen schien. Das mit Susanna war ein Schock für mich, vor allem, dass mein Dad schon seit Wochen mit ihr ausging, ohne mir ein Wort davon zu sagen. Und ja, auch das war albern. Aber ich konnte nichts dagegen tun.
Ich war bereits durch das halbe Wohngebiet gelaufen, als mein Telefon, das in der Manteltasche steckte, klingelte. Ich erwartete, dass eine meiner Schwestern nach mir fragen wollte, sah jedoch verwundert, dass es Theodora Henderson war. Ich atmete kurz durch, dann nahm ich das Gespräch an.
»Hallo, Dora.«
»Hi Kenzie, entschuldige die späte Störung. Hast du eine Minute für mich?«
»Auch mehr als eine.« Wenn sie mit mir reden wollte, würde ich wohl immer alles stehen und liegen lassen.
»Ich weiß, dass ich dich damit aus dem Nichts überfalle, aber es geht um ein Projekt, bei dem ich deine Hilfe brauchen könnte. Ich habe eine Hotelanlage auf Korfu übernommen, die eine Generalüberholung benötigt. Und da es ein paar Überschneidungen bei meinem Team gab, dachte ich, vielleicht hättest du Lust, für mich zu arbeiten? Allerdings würde ich dich nicht nur als Innendesignerin engagieren wollen, sondern auch wegen deiner handwerklichen Fähigkeiten. Wenn das in Ordnung ist. Du bekommst natürlich ein Gehalt sowie Kost und Logis hier im Hotel.«
»Okay«, hörte ich mich sagen. »Das klingt toll. Wann soll es losgehen?«
Sie geriet ins Stocken, offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich so schnell zusagen würde. »Schon nächste Woche. Dann sind die groben Arbeiten an den Gebäuden beendet. Wenn du dir also vorstellen könntest –«
»Ich bin dabei«, sagte ich so hastig, dass sie den Satz nicht einmal beenden konnte. Es war völlig überstürzt, aber gerade erschien mir alles besser als hier zu sein. Außerdem war es auf Korfu sicher wärmer als in England und ich brauchte dringend Ablenkung.
»Tatsächlich?« Theodora schien verwundert. »Musst du nicht noch mit deiner Familie sprechen oder das mit dem College klären? Ich bräuchte dich vermutlich länger als die zwei Wochen Ferien und manchmal stellen sich die Dozenten da quer.«
»Nein, das College ist kein Problem.« Ich hatte einige meiner studienbegleitenden Prüfungen vorgezogen und deswegen im nächsten Trimester nur noch meine Abschlussarbeit zu schreiben. Und auch, wenn ich lediglich ein grundständiges Studium in Kunst und Design machte, würde das Projekt von Theodora sicher ein gutes Thema dafür liefern. »Und meine Familie kommt zurecht.« Schließlich war Susanna jetzt da, also konnte sie sich ja um Eleni und Juliet kümmern. Sind wir gerade ein bisschen trotzig? Ja, vielleicht. Aber mein Zorn von vorhin war noch nicht ganz verraucht.
Theodora atmete aus. »Sehr schön, ich freue mich. Wenn du weißt, wann du fliegen willst, lasse ich dir über meine Assistentin ein Ticket zukommen. Es holt dich dann jemand vom Flughafen ab.«
»Super.« Du erinnerst dich bei deiner Fluchtplanung allerdings noch daran, dass sie Lyalls Mutter ist, oder? , fragte da das kleine Stimmchen aus meinem Hinterkopf. Mir wurde trotz der Kälte warm, als mir aufging, dass diese ideale Gelegenheit vielleicht einen Haken hatte. »Ähm, Dora, eine Frage noch.«
»Ja?«
»Lyall hat mit diesem Projekt nichts zu tun, oder?«
»Nein«, antwortete sie sofort. »Er macht bald seinen Abschluss in Chicago und hat jede Menge Arbeit. Er wird nicht dabei sein.«
»Okay.« Ich atmete erleichtert aus. »Danke. Dann bis nächste Woche.«
Wir verabschiedeten uns und ich legte auf, blieb wie paralysiert auf dem Gehweg stehen. Ich hatte gerade zugesagt, für Theodora Henderson zu arbeiten, einfach so – ohne es mit jemandem abzusprechen. Ich würde nächste Woche nach Korfu fliegen und dort eine Weile bleiben, um mit einer absoluten Ikone des Innendesigns zusammenzuarbeiten. Das war ein bisschen wahnsinnig, aber es fühlte sich vollkommen richtig an. Dieses Projekt war ein Wendepunkt für mich, das spürte ich in jeder Faser meines Körpers. Es war genau das, was ich jetzt
brauchte.
Ich stand immer noch irgendwo im Wohngebiet, also setzte ich mich wieder in Bewegung und suchte den Weg zurück zu Susannas Haus. Als ich fast dort war, kam mir Willa entgegen.
»Hast du dich beruhigt?«, fragte sie, als ich nah genug herangekommen war. Wir standen direkt neben einem kleinen Spielplatz, der um diese Zeit verwaist war.
»Glaub schon.« Ich nickte.
»Willst du wieder rein?«
»Lieber nicht.«
»Okay, dann komm.«
Sie zog mich an der Hand auf den Spielplatz und steuerte das Klettergerüst an, wo sich auch zwei Schaukeln befanden. Wir setzten uns hin und ich griff nach den eiskalten Ketten. Der Schmerz, den sie in meinen Handflächen auslösten, brachte wieder etwas Klarheit in mein konfuses Hirn.
»Wieso drehst du so durch? Ist es wegen Susanna?« Willa schaukelte vor. »Ich war auch geschockt, glaub mir. Das kam ziemlich überraschend.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Klar, ein Teil von mir will sie hassen und auf keinen Fall in unsere Familie lassen, aber ich weiß, wie lächerlich das ist. Dad hat Glück verdient. Und sie scheint wirklich nett zu sein.«
»Was ist es dann?«, fragte meine Schwester.
Ich wollte sie mit einer Ausrede abspeisen, aber stattdessen atmete ich ein. »Lyall«, antwortete ich leise. Der Stich in meinem Herzen, als ich den Namen sagte, war schlimmer als die schmerzhafte Kälte in meinen Händen.
»Was ist mit euch passiert?«, fragte Willa. »Und bitte sag mir nicht wieder, dass ich das schon weiß, denn ich bin mir sicher, das stimmt nicht. Du wärst nicht so krass drauf, wenn du dich wegen seiner Familie von ihm getrennt hättest. Dann hättest du eine Weile getrauert, es abgehakt und weitergemacht. Aber das hier? Eleni anschnauzen, Loki verkaufen wollen? Das bist nicht du.«
Sie hatte recht. Meine Familie war mir wichtiger als alles andere auf der Welt. Aber obwohl ich mit Dr. Hanson Fortschritte gemacht hatte, war das Ende des letzten Sommers wie ein Gewicht, das mich an den Füßen immer tiefer unter Wasser zog. Vielleicht war es gut, wenn ich Willa endlich davon erzählte.