Gold - Pirate Latitudes

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Gold - Pirate Latitudes Page 5

by Michael Crichton


  Die Stadt Port Royal unterteilte sich grob in Viertel, die im Umkreis des Hafens lagen. Ganz in der Nähe vom Kai fanden sich die Schenken und Bordelle und Glücksspielhäuser. Etwas weiter entfernt vom lärmenden Getriebe des Hafenviertels wurden die Straßen ruhiger. Hier waren die Lebensmittelhändler und Bäcker, die Möbelschreiner und Schiffsausrüster, die Hufschmiede und Goldschmiede angesiedelt. Noch weiter weg, an der Südseite der Bucht, lagen die wenigen ehrbaren Gast-und Privathäuser. Das Blue Goat war ein ehrbares Gasthaus.

  Hunter trat ein und nickte den Gentlemen zu, die an den Tischen tranken. Er erkannte Mr Perkins, einen der besten Ärzte unter den Landratten; den Gemeinderat Mr Pickering; den Büttel vom Zuchthaus Bridewell und etliche andere ehrbare Herrschaften.

  Normalerweise wäre ein gewöhnlicher Freibeuter im Blue Goat nicht willkommen, aber Hunter war ein gern gesehener Gast. Grund dafür war, dass der Handel im Ort in erheblichem Maße vom Erfolg regelmäßiger Freibeuterfahrten abhing. Hunter war ein erfahrener und wagemutiger Kapitän und somit ein wichtiges Mitglied der Gemeinde. Im Jahr zuvor hatten seine drei Kaperfahrten Port Royal über zweihunderttausend pistoles und Dublonen eingebracht. Ein Großteil dieses Geldes landete in den Taschen jener Gentlemen, und sie begrüßten ihn entsprechend.

  Mistress Wickham, die das Blue Goat betrieb, war weniger warmherzig. Sie war Witwe, und da sie sich einige Jahre zuvor mit Whisper eingelassen hatte, wusste sie, dass Hunter, wenn er auftauchte, mit ihm sprechen wollte. Sie stieß den Daumen in Richtung Hinterzimmer. »Da drin, Captain.«

  »Danke, Mistress Wickham.«

  Er strebte schnurstracks auf die Tür des Hinterzimmers zu, klopfte und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Er wusste, es würde keine kommen. In dem dunklen Raum brannte nur eine einzige Kerze. Hunter blinzelte, um sich an das trübe Licht zu gewöhnen. Er hörte ein rhythmisches Quietschen. Schließlich konnte er Whisper sehen, der in einer Ecke in einem Schaukelstuhl saß. Whisper hielt eine geladene Pistole in der Hand, mit der er auf Hunters Bauch zielte.

  »Einen guten Abend, Whisper.«

  Die Antwort war leise, ein raues Zischen. »Einen guten Abend, Captain Hunter. Seid Ihr allein?«

  »Jawohl.«

  »Dann kommt herein«, lautete die zischende Erwiderung. »Einen Schluck Teufelstöter?« Whisper deutete auf ein Fass neben sich, das als Tisch diente. Darauf standen zwei Gläser und ein kleiner Krug mit Rum.

  »Mit Vergnügen, Whisper.«

  Hunter sah zu, wie Whisper zwei Gläser mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit füllte. Seine Augen hatten sich jetzt vollständig an das Licht gewöhnt, und er konnte sein Gegenüber besser sehen.

  Whisper – keiner kannte seinen richtigen Namen – war ein großer, stämmiger Mann mit übergroßen blassen Händen. Er war selbst einmal ein erfolgreicher Freibeuterkapitän gewesen. Dann hatte er mit Edmunds den Angriff auf Matanceros unternommen. Whisper hatte als Einziger überlebt, nachdem Cazalla ihn gefangen genommen und ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Irgendwie war der Totgeglaubte nicht gestorben, hatte allerdings seine Stimme fast zur Gänze eingebüßt. Ein weiteres deutliches Zeugnis seiner Vergangenheit war die weiße, geschwungene Narbe unter seinem Kinn.

  Seit seiner Rückkehr nach Port Royal verkroch Whisper sich in diesem Hinterzimmer, ein starker, rüstiger Mann, aber ohne Mut – die Kraft war ihm entwichen. Er war ängstlich. Er hatte stets eine Waffe in der Hand und eine weitere neben sich. Jetzt, wie er schaukelnd in seinem Stuhl saß, sah Hunter in greifbarer Nähe ein Entermesser auf dem Boden schimmern.

  »Was führt Euch zu mir, Captain? Matanceros?«

  Hunter hatte wohl verdutzt dreingeschaut, denn Whisper brach in Gelächter aus. Whispers Lachen klang entsetzlich, ein schrilles, schnaufendes Zischen wie von einem Dampfkessel. Er warf beim Lachen den Kopf in den Nacken, wodurch die weiße Narbe deutlich sichtbar wurde.

  »Hab ich Euch erschreckt, Captain? Seid Ihr überrascht, dass ich es weiß?«

  »Whisper«, sagte Hunter. »Wissen noch mehr Bescheid?«

  »Einige«, zischte Whisper. »Oder sie ahnen was. Aber sie wissen nichts Genaues. Ich hab die Geschichte von Mortons Fahrt gehört.«

  »Ah.«

  »Wollt Ihr hin, Captain?«

  »Erzählt mir von Matanceros, Whisper.«

  »Wünscht Ihr eine Karte?«

  »Ja.«

  »Fünfzehn Shilling?«

  »Abgemacht«, sagte Hunter. Er wusste, er würde Whisper zwanzig zahlen, um sich sein Wohlwollen und sein Schweigen gegenüber etwaigen späteren Besuchern zu sichern. Und Whisper würde wissen, welche Verpflichtung sich aus den fünf Shilling extra ergab. Und er würde wissen, dass Hunter ihn töten würde, wenn er mit irgendwem sonst über Matanceros sprach.

  Whisper holte ein Stück Wachstuch und ein Stück Holzkohle hervor. Er legte sich das Wachstuch aufs Knie und zeichnete rasch.

  »Die Insel Matanceros, das spanische Wort für Gemetzel«, flüsterte er. »Sie hat die Form eines U, ungefähr so. Die Hafenmündung zeigt nach Osten, zum Ozean. An dieser Stelle –« er tippte auf die linke Seite des U – »liegt Punta Matanceros. Da hat Cazalla die Festung gebaut. Das Gelände da ist niedrig. Die Festung liegt keine fünfzig Schritte über dem Wasser.«

  Hunter nickte und wartete, während Whisper gurgelnd einen Schluck Teufelstöter trank.

  »Die Festung ist achteckig. Die Mauern sind aus Stein, dreißig Fuß hoch. Drinnen ist eine spanische Milizgarnison.«

  »Wie stark?«

  »Manche sagen zweihundert. Manche sagen dreihundert. Ich habe sogar vierhundert gehört, aber das glaube ich nicht.«

  Hunter nickte. Er sollte von dreihundert Mann ausgehen. »Und die Kanonen?«

  »Nur auf zwei Seiten der Festung«, krächzte Whisper. »Eine Batterie zum Ozean hin, nach Osten. Eine Batterie quer zur Hafenmündung, nach Süden.«

  »Was für Kanonen?«

  Whisper stieß ein schauriges Lachen aus. »Höchst interessant, Captain Hunter. Es sind culebrinas, 24-Pfünder, Bronzeguss.«

  »Wie viele?«

  »Zehn, vielleicht zwölf.«

  Das war interessant, dachte Hunter. Die culebrinas – Kolubrinen oder Feldschlangen – zählten nicht gerade zu den schlagkräftigsten Geschützen und wurden nicht mehr für den Einsatz auf Schiffen bevorzugt. Stattdessen fand sich auf Kriegsschiffen jeder Fahne inzwischen die kurze Kanone.

  Die Kolubrine war ein älteres Geschütz. Kolubrinen wogen über zwei Tonnen und hatten Rohre, die bis zu fünfzehn Fuß maßen. Durch die Länge der Rohre waren Kolubrinen über große Entfernungen tödlich präzise. Sie konnten schwere Kugeln abfeuern und ließen sich flink laden. Von erfahrenen Kanonieren bedient, konnten sie bis zu einmal pro Minute abgefeuert werden.

  »Die Festung ist also gut gesichert.« Hunter nickte. »Wer ist der Geschützmeister?«

  »Bosquet.«

  »Von dem hab ich schon gehört«, sagte Hunter. »Er hat die Renown versenkt.«

  »Genau der«, zischte Whisper.

  Die Kanoniere waren also gut ausgebildet. Hunter runzelte die Stirn.

  »Whisper«, sagte er, »wisst Ihr, ob die Kolubrinen fest montiert sind?«

  Whisper schaukelte einen langen Augenblick vor und zurück. »Ihr seid wahnsinnig, Captain Hunter.«

  »Wieso?«

  »Ihr plant einen Angriff von der Landseite.«

  Hunter nickte.

  »Das wird niemals gelingen«, sagte Whisper. Er tippte auf die Karte auf seinen Knien. »Edmunds hatte auch daran gedacht, aber als er die Insel sah, hat er es sich anders überlegt. Seht mal hier, wenn Ihr im Westen an Land geht« – er zeigte auf die Rundung des U –, »da ist ein kleiner Hafen, den Ihr benutzen könnt. Aber um über Land zum Haupthafen von Matanceros zu gelangen, müsst Ihr über den Leres-Kamm.«

  Hunter machte eine ungeduldige Geste. »Ist der Leres-Kamm schwer zu erklimmen?«

  »Da kommt keiner hoch«, sagte Whisper. »Kein normaler Mensch schafft das. Von der westlichen Bucht aus steigt das Gelände gut fünfhundert Fuß oder mehr sanft an. Aber es geht durch einen heißen, dichten Dschungel, mit Sümpfen. Trinkwasser gib
t es keins. Aber Patrouillen. Falls die Patrouillen Euch nicht entdecken und Ihr nicht am Fieber sterbt, gelangt Ihr zum Fuß des Kamms. Die Westflanke des Leres-Kamms ist eine Felswand, die gut dreihundert Fuß senkrecht aufragt. Selbst ein Vogel findet an der Wand keine Stelle, um zu landen. Und der unaufhörliche Wind hat Sturmstärke.«

  »Falls ich es doch bis oben schaffe«, sagte Hunter. »Was dann?«

  »Der Osthang ist sanft und stellt keine Schwierigkeit dar«, sagte Whisper. »Aber Ihr kommt niemals bis zur Ostflanke, das verspreche ich Euch.«

  »Falls doch«, sagte Hunter. »Was ist mit den Batterien in der Festung?«

  Whisper zuckte kaum merklich die Achseln. »Wie gesagt, sie zeigen zum Wasser, Captain Hunter. Cazalla ist kein Dummkopf. Er weiß, dass er vom Land aus nicht angegriffen werden kann.«

  »Es gibt immer eine Möglichkeit.«

  Whisper schaukelte lange mit seinem Stuhl, schweigend. »Nicht immer«, sagte er schließlich. »Nicht immer.«

  Don Diego de Ramano, auch bekannt als Black Eye oder einfach als der Jude, saß in seinem Laden auf der Farrow Street über die Werkbank gebeugt. Kurzsichtig, wie er war, begutachtete er mit zusammengekniffenen Augen die Perle, die er zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand hielt. Es waren die einzigen Finger, die ihm an der Hand noch geblieben waren. »Sie ist von vorzüglicher Qualität«, sagte er. Er gab Hunter die Perle zurück. »Ich rate Euch, sie zu behalten.«

  Black Eye blinzelte rasch. Seine Augen waren schwach und rosa wie bei einem Kaninchen. Fast unaufhörlich quollen Tränen daraus hervor, die er ab und zu wegwischte. Sein rechtes Auge hatte dicht neben der Pupille einen großen schwarzen Punkt – dem er seinen Spitznamen verdankte. »Aber das musstet Ihr nicht erst von mir hören, Hunter.«

  »Nein, Don Diego.«

  Der Jude nickte und stand von der Werkbank auf. Er durchquerte den schmalen Laden und schloss die Tür zur Straße. Dann klappte er die Fensterläden zu und drehte sich wieder zu Hunter um. »Also?«

  »Wie steht es um Eure Gesundheit, Don Diego?«

  »Meine Gesundheit, meine Gesundheit«, sagte Don Diego und schob die Hände tief in die Taschen seines weiten Gewandes. Er war empfindlich, was seine Versehrte linke Hand betraf. »Meine Gesundheit ist wie immer mäßig. Aber auch das musstet Ihr nicht erst von mir hören.«

  »Läuft das Geschäft gut?«, fragte Hunter, während er sich im Laden umsah. Auf groben Tischen war Goldschmuck ausgelegt. Der Jude betrieb den Laden seit nunmehr zwei Jahren.

  Don Diego setzte sich. Er blickte Hunter an, strich sich den Bart und wischte neue Tränen weg. »Hunter«, sagte er, »Ihr seid eine Nervensäge. Rückt endlich heraus mit der Sprache.«

  »Ich hab mich gefragt«, sagte Hunter, »ob Ihr noch mit Pulver arbeitet.«

  »Pulver? Pulver?« Der Jude starrte stirnrunzelnd ins Leere, als würde er die Bedeutung des Wortes nicht kennen. »Nein«, sagte er. »Ich arbeite nicht mit Pulver. Seit dem hier« – er deutete auf sein geschwärztes Auge – »und dem hier« – er hob seine fast fingerlose linke Hand – »arbeite ich nicht mehr mit Pulver.«

  »Lässt sich dieser Entschluss ändern?«

  »Niemals.«

  »Niemals ist eine lange Zeit.«

  »Wenn ich niemals sage, meine ich niemals, ohne Ausnahme, Hunter.«

  »Nicht mal für einen Angriff auf Cazalla?«

  Der Jude schnaufte. »Cazalla«, sagte er gewichtig. »Cazalla ist in Matanceros und kann nicht angegriffen werden.«

  »Ich werde ihn angreifen«, sagte Hunter leise.

  »Das hat Captain Edmunds auch getan, letztes Jahr.« Don Diego verzog das Gesicht bei der Erinnerung. Er hatte die Expedition als einer der Geldgeber unterstützt. Seine Investition – fünfzig Pfund – hatte er verloren. »Matanceros ist unangreifbar, Hunter. Lasst Euch durch Eitelkeit nicht den Verstand vernebeln. Die Festung ist uneinnehmbar.« Er wischte sich die Tränen von der Wange. »Außerdem ist da nichts zu holen.«

  »In der Festung nicht«, sagte Hunter. »Aber im Hafen!«

  »Im Hafen? Im Hafen?« Black Eye starrte wieder ins Leere. »Was gibt’s denn im Hafen? Ah. Das können nur die Naos sein, die im Auguststurm von der Schatzflotte getrennt worden sind, ja?«

  »Eine davon.«

  »Woher wisst Ihr das?«

  »Ich weiß es.«

  »Eine Nao?« Der Jude blinzelte noch schneller. Er kratzte sich die Nase mit dem Zeigefinger seiner Versehrten linken Hand – ein sicheres Zeichen, dass er in Gedanken war. »Die ist wahrscheinlich voll mit Tabak und Zimt«, sagte er düster.

  »Die ist wahrscheinlich voll mit Gold und Perlen«, sagte Hunter. »Ansonsten wäre sie schnurstracks allein weiter nach Spanien gefahren, auch auf die Gefahr hin, gekapert zu werden. Sie hat nur deshalb Matanceros angesteuert, weil sie eine kostbare Ladung an Bord hat und nicht riskieren will, Freibeutern in die Hände zu fallen.«

  »Mag sein, mag sein …«

  Hunter beobachtete den Juden scharf. Der Jude war ein großartiger Schauspieler.

  »Nehmen wir an, Ihr habt recht«, sagte er schließlich. »Die Sache interessiert mich trotzdem nicht. Eine Nao im Hafen von Matanceros ist so sicher, als wäre sie in Cadiz vertäut. Die Festung schützt sie und die Festung ist uneinnehmbar.«

  »Stimmt«, sagte Hunter. »Aber die Kanonen, die den Hafen sichern, können zerstört werden – falls Ihr bei guter Gesundheit seid und falls Ihr noch einmal mit Pulver arbeiten würdet.«

  »Ihr wollt mir schmeicheln.«

  »Ganz gewiss nicht.«

  »Was hat meine Gesundheit damit zu tun?«

  »Mein Plan«, sagte Hunter, »hat seine Tücken.«

  Don Diego blickte finster. »Soll das heißen, ich muss mitkommen?«

  »Natürlich. Was dachtet Ihr denn?«

  »Ich dachte, Ihr wollt Geld. Ich soll mitkommen?«

  »Das ist unerlässlich, Don Diego.«

  Der Jude stand abrupt auf. »Um Cazalla anzugreifen«, sagte er plötzlich aufgeregt. Er begann, auf und ab zu schreiten.

  »Ich träume jede Nacht von seinem Tod, seit zehn Jahren, Hunter. Ich träume …« Er blieb stehen und blickte Hunter an. »Auch Ihr habt Eure Gründe.«

  »Ja.« Hunter nickte.

  »Aber ist es zu schaffen? Wahrhaftig?«

  »Wahrhaftig, Don Diego.«

  »Dann möchte ich den Plan hören«, sagte der Jude in heller Aufregung. »Und ich möchte wissen, was für Pulver Ihr benötigt.«

  »Ich benötige eine Erfindung«, sagte Hunter. »Ihr müsst etwas herstellen, was es nicht gibt.«

  Der Jude wischte sich Tränen aus den Augen. »Lasst hören«, sagte er. »Lasst hören.«

  Mr Enders, seines Zeichens Bader und ein wahrer Künstler des Meeres, setzte den Blutegel vorsichtig an den Hals seines Patienten. Das Opfer, das zurückgelehnt im Stuhl saß, das Gesicht mit einem Handtuch bedeckt, stöhnte, als das nacktschneckenähnliche Geschöpf seine Haut berührte. Sogleich schwoll der Egel an mit Blut.

  Mr Enders summte leise vor sich hin. »So«, sagte er. »In ein paar Minuten geht es Euch spürbar besser. Ich sage Euch, Ihr werdet wieder besser atmen können und auch bei den Ladys Eindruck machen.« Er tätschelte die Wange unter dem Handtuch. »Ich schnappe nur rasch ein bisschen frische Luft und bin gleich wieder da.«

  Und schon eilte Mr Enders aus dem Laden. Er hatte nämlich vor dem Fenster Hunter bemerkt, der ihn nach draußen winkte. Mr Enders war ein kleiner Mann mit flinken, anmutigen Bewegungen. Wenn er ging, sah es fast so aus, als würde er tanzen. Er betrieb ein einigermaßen gut gehendes Geschäft in der Stadt, da viele Patienten seine Behandlungen überlebten, was manch anderer Bader nicht von sich behaupten konnte. Doch sein größtes Geschick und seine wahre Leidenschaft war das Steuern eines Segelschiffes. Enders, ein echter Künstler des Meeres, war eine Rarität, ein vollendeter Steuermann, dem es irgendwie gelang, zwischen sich und dem Schiff, das er lenkte, eine Verbindung herzustellen.

  »Braucht Ihr eine Rasur, Captain?«, fragte er Hunter.

  »Eine Mannschaft.«

  »Dann habt Ihr Euren Bader gefunden«, sagte Enders. »Und was ist das Ziel der Fah
rt?«

  »Blutholz fällen«, sagte Hunter und grinste.

  »Ich fälle Blutholz für mein Leben gern«, sagte Enders. »Und um wessen Blutholz mag es sich handeln?«

  »Cazallas.«

  Sogleich war Enders’ scherzhafte Stimmung verflogen. »Cazalla? Ihr wollt nach Matanceros?«

  »Leise«, sagte Hunter eindringlich und blickte sich auf der Straße um.

  »Captain, Captain, Selbstmord ist eine Sünde gegen Gott.«

  »Ihr wisst, dass ich Euch brauche«, sagte Hunter.

  »Aber das Leben ist süß, Captain.«

  »Gold auch«, sagte Hunter.

  Enders verstummte und runzelte die Stirn. Er wusste, genau wie der Jude, genau wie jeder in Port Royal, dass sich in der Festung von Matanceros kein Gold befand. »Wenn Ihr mir vielleicht erklären würdet?«

  »Lieber nicht.«

  »Wann segelt Ihr?«

  »In zwei Tagen.«

  »Und werde ich die Gründe in Bull Bay erfahren?«

  »Ihr habt mein Wort.«

  Enders streckte schweigend die Hand aus, und Hunter schüttelte sie. Aus dem Laden drang das Stöhnen des Patienten, der sich unbehaglich wand. »Oh Schreck, der arme Kerl«, sagte Enders und hastete zurück in den Raum. Der Egel war dick und fett mit Blut und ließ rote Tropfen auf den Holzboden fallen. Als Enders den Blutegel abnahm, schrie der Patient auf. »Na, na, immer mit der Ruhe, Euer Exzellenz.«

  »Ihr seid ein verfluchter Pirat und Halunke«, sagte Sir James Almont, riss sich das Tuch vom Gesicht und betupfte damit den angebissenen Hals.

  Lazue war in einem Bordell auf der Lime Road umringt von kichernden Frauen. Lazue kam aus Frankreich. Der Name war eine Verballhornung von Les Yeux, denn die Augen dieser Kämpfernatur waren groß und strahlend und legendär. Lazue konnte besser als sonst wer nachts im Dunkeln sehen. Schon häufig hatte Hunter seine Schiffe mit Lazue auf dem Vorderdeck durch Riffe und Untiefen gebracht. Außerdem konnte Lazue hervorragend schießen, war schlank und wendig wie eine Katze.

  »Hunter«, knurrte Lazue, einen Arm um eine dralle Frau. »Hunter, her mit dir.« Die Frauen kicherten und spielten mit ihrem Haar.

 

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