Gold - Pirate Latitudes

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Gold - Pirate Latitudes Page 17

by Michael Crichton

»Sir James hat einen ausgeprägten Geschäftssinn. Für ihn zählt nur Gold.«

  »Ich finde«, sagte Sanson, »Ihr solltet im Interesse der gesamten Besatzung versuchen, ihm die richtige Denkweise nahezubringen.«

  Hunter zuckte die Achseln. Er hatte selbst auch schon daran gedacht und sich vorgenommen, die Sache dem Gouverneur vorzutragen.

  Aber er wollte Sanson keine Versprechungen machen.

  Der Franzose schenkte Wein ein. »Nun«, sagte er zufrieden. »Wir haben Großes bewirkt, mein Freund. Welche Route habt Ihr für die Rückkehr geplant?«

  Hunter schilderte seine Absicht, nach Süden zu fahren und so lange auf offener See zu bleiben, bis sie nach Westen Kurs auf Port Royal nehmen konnten.

  »Meint Ihr nicht«, gab Sanson zu bedenken, »es wäre sicherer, den Schatz auf die beiden Schiffe zu verteilen und uns jetzt zu trennen, um auf verschiedenen Routen zurückzukehren?«

  »Ich halte es für besser, wenn wir zusammenbleiben. Zwei Schiffe wirken abschreckender, wenn sie aus der Ferne gesichtet werden. Einzeln könnten wir angegriffen werden.«

  »Aye«, sagte Sanson. »Aber in diesen Gewässern patrouillieren Dutzende spanische Kriegsschiffe. Wenn wir uns trennen, ist es eher unwahrscheinlich, dass wir beide auf eines treffen.«

  »Von spanischen Soldaten haben wir nichts zu befürchten. Wir sind ein herkömmliches spanisches Handelsschiff. Aber die Franzosen oder die Engländer könnten uns angreifen.«

  Sanson lächelte. »Ihr traut mir nicht.«

  »Natürlich nicht«, erwiderte Hunter und lächelte zurück. »Ich will Euch im Blick haben, und ich will den Schatz unter meinen Füßen.«

  »So sei es«, sagte Sanson, doch in seinen Augen lag ein dunkler Ausdruck, von dem Hunter sich vornahm, ihn nicht zu vergessen.

  KAPITEL 26

  Drei Tage später sichteten sie das Ungeheuer.

  Die Fahrt entlang der Inselkette der Kleinen Antillen war ereignislos verlaufen. Der Wind stand günstig und die See war ruhig. Hunter wusste, dass sie jetzt ungefähr hundert Meilen südlich von Matanceros waren, und mit jeder Stunde, die verging, wurde ihm leichter ums Herz.

  Seine Besatzung war damit beschäftigt, die Galeone so seetüchtig wie nur möglich zu machen. Die spanische Mannschaft hatte die El Trinidad ziemlich herunterkommen lassen. Die Takelage war ausgefranst, die Segel waren stellenweise dünn oder zerschlissen, die Decks verdreckt und die Frachträume stanken nach Abfall. Es gab allerhand zu tun, während sie gen Süden segelten, vorbei an Guadeloupe und Dominica.

  Gegen Mittag des dritten Tages bemerkte der stets wachsame Enders eine Veränderung im Wasser. Er zeigte nach steuerbord. »Seht mal«, sagte er zu Hunter.

  Hunter wandte sich um. Das Wasser war friedlich, nur leichter Wellenschlag störte die spiegelglatte Fläche. Doch knapp hundert Yards entfernt wurde das Wasser unter den Wellen aufgewühlt – irgendetwas Gewaltiges kam auf sie zu, und das mit einer unglaublichen Geschwindigkeit.

  »Wie schnell sind wir?«, fragte er.

  »Zehn Knoten«, sagte Enders. »Barmherzige Mutter Gottes.«

  »Wenn wir zehn Knoten fahren, dann ist das Ding da zwanzig schnell«, sagte Hunter.

  »Mindestens zwanzig«, sagte Enders. Er blickte zur Besatzung hinüber. Niemand hatte etwas bemerkt.

  »Dreht landwärts«, sagte Hunter. »Wir müssen in seichteres Wasser.«

  »Kraken mögen keine Untiefen«, sagte Enders.

  »Hoffentlich.«

  Das Ungetüm unter Wasser kam näher und schwamm im Abstand von gut fünfzig Yards am Schiff vorbei. Hunter erkannte verschwommenes Grauweiß, eine Andeutung von Fangarmen, und dann war es verschwunden. Es entfernte sich, beschrieb einen Bogen und kam wieder zurück.

  Enders schlug sich selbst auf die Wange. »Ich träume«, sagte er. »Es muss ein Traum sein. Sagt, dass das nicht wahr ist.«

  »Es ist wahr«, sagte Hunter.

  Lazue, die im Ausguck auf dem Hauptmast saß, pfiff auf den Fingern. Sie hatte das Wesen auch gesehen. Hunter blickte hoch zu ihr und schüttelte den Kopf, damit sie Ruhe bewahrte.

  »Gott sei Dank hat sie keinen Schrei ausgestoßen«, sagte Enders, »das hätte uns noch gefehlt, was?«

  »In flaches Wasser«, sagte Hunter grimmig. »Und zwar schnell.« Er sah, wie das aufgewühlte Wasser erneut näher kam.

  Oben im Ausguck, hoch über dem klaren blauen Wasser, konnte Lazue den Kraken deutlich sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Halse, denn es war ein sagenhaftes Biest, wie es für gewöhnlich nur in Seemannsliedern und Geschichten für die Kinder von Seefahrern vorkam. Aber nur wenige hatten je ein solches Ungetüm gesehen, und auch Lazue hätte gern auf diese Erfahrung verzichtet. Ihr war, als würde ihr das Herz stehen bleiben, als sie sah, wie das Ungeheuer die Wasseroberfläche aufwühlte, als es beängstigend schnell erneut auf die El Trinidad zugeschwommen kam.

  Als es ganz nah war, sah sie das ganze Tier deutlich. Die Haut war totengrau. Es hatte einen spitzen Kopf, einen bauchigen, wenigstens zwanzig Fuß langen Körper und zog ein Gewirr von Tentakeln hinter sich her wie ein Medusakopf. Es schwamm unter dem Schiff hindurch, ohne den Rumpf zu berühren, doch die Wellen, die es erzeugte, brachten die Galeone ins Schaukeln. Dann sah sie es auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen und in die blauen Tiefen des Ozeans verschwinden. Sie wischte sich die schweißnasse Stirn.

  Lady Sarah Almont kam an Deck und sah Hunter über die Reling nach unten spähen. »Einen guten Tag, Captain«, sagte sie. Er drehte sich zu ihr um und verbeugte sich leicht. »Madam.«

  »Captain, Ihr seid ja kreidebleich. Fehlt Euch etwas?«

  Ohne eine Antwort zu geben, eilte Hunter auf die andere Seite des Achterdecks und spähte erneut über die Reling nach unten.

  Enders am Ruder sagte: »Seht Ihr es?«

  »Was denn?«, fragte Lady Sarah.

  »Nein«, sagte Hunter. »Es ist abgetaucht.«

  »Wir müssten dreißig Faden unter uns haben«, sagte Enders. »Das ist flach für das Ding.«

  »Was für ein Ding?«, fragte Lady Sarah und schmollte kokett.

  Hunter kam zu ihr zurück.

  Enders sagte: »Es kommt vielleicht wieder.«

  »Aye«, sagte Hunter.

  Lady Sarah blickte von Hunter zu Enders. Beiden Männern stand kalter Schweiß auf der Stirn. Beide waren totenblass.

  »Captain, ich bin kein Seemann. Was hat das zu bedeuten?«

  Enders’ Anspannung löste sich explosionsartig. »Gott im Himmel, Frau, wir haben da eben –«

  »– ein Omen gesehen«, führte Hunter den Satz nahtlos weiter und warf Enders einen eindringlichen Blick zu. »Ein Omen, Mylady.«

  »Ein Omen? Seid Ihr abergläubisch, Captain?«

  »Aye, er ist sehr abergläubisch, wahrhaftig«, sagte Enders und blickte zum Horizont.

  »Offensichtlich«, sagte Lady Sarah und stampfte mit einem Fuß auf, »wollt Ihr mir nicht verraten, was hier im Argen liegt?«

  »Sehr richtig«, sagte Hunter lächelnd. Er hatte ein bezauberndes Lächeln, trotz seiner Blässe. Er konnte einen zur Verzweiflung bringen, dachte sie.

  »Ich weiß, ich bin eine Frau«, setzte sie an, »aber ich muss wirklich darauf bestehen –«

  Doch genau in diesem Moment rief Lazue: »Segel in Sicht.«

  Hunter hob sofort das Fernrohr ans Auge und sah genau achtern quadratische Segel über der Horizontlinie auftauchen. Er drehte sich wieder zu Enders um, doch der Meereskünstler brüllte bereits die Anweisung, sämtliche Segel zu setzen, die die El Trinidad besaß. Die Bramsegel wurden entrollt und die Fock gehisst, und die Galeone nahm Fahrt auf.

  Ein Warnschuss alarmierte die Cassandra, die eine Viertelmeile voraus war. Gleich darauf hatte auch die kleine Schaluppe alle Segel gesetzt.

  Hunter blickte wieder durchs Fernrohr. Die Segel am Horizont waren nicht größer geworden – aber auch nicht kleiner.

  »Allmächtiger, von einem Ungeheuer zum nächsten«, sagte Enders. »Wie halten wir uns?«

  »Ganz gut«, sagte Hunter.

  »Wir müssen bald von diesem Kurs runter«, sagte Enders.

  Hunter nickte. Die El Trinidad seg
elte vor einem östlichen Wind, doch ihr Kurs brachte sie zu weit nach Westen, auf die rechter Hand liegende Inselkette zu. Schon bald würde das Wasser zu flach sein, und sie würden den Kurs ändern müssen. Für jedes Schiff bedeutete eine Kursänderung wenigstens eine vorübergehende Geschwindigkeitseinbuße. So unterbesetzt wie die Galeone war, würde sie besonders langsam werden.

  Hunter sagte: »Könnt Ihr sie vor dem Wind wenden?«

  Enders schüttelte den Kopf. »Zu riskant, Captain. Wir haben zu wenig Mann.«

  Lady Sarah sagte: »Was habt Ihr denn?«

  »Still«, sagte Hunter. »Geht nach unten.«

  »Ich werde nicht –«

  »Geht nach unten!«, brüllte er.

  Sie wich zurück, aber sie ging nicht unter Deck. Aus einiger Entfernung schaute sie sich das, wie sie fand, seltsame Spektakel an, das sich ihr darbot. Dieser Lazue kam mit katzenhafter Geschmeidigkeit und fast weiblichen Bewegungen die Takelage herabgeklettert. Dann bemerkte Lady Sarah schockiert, dass der Wind gegen Lazues Hemd drückte und unzweifelhaft die Umrisse von Brüsten erkennen ließ. Der Gentleman war also eine Frau! Ihr blieb jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn Hunter stand jetzt mit Lazue und Enders zusammen und alle redeten aufgeregt miteinander. Hunter deutete auf das Verfolgerschiff und dann auf die Inselkette rechter Hand. Er wies zum wolkenlosen Himmel und zur Sonne, die inzwischen bereits auf dem Weg nach unten war. Lazue hatte die Stirn in Falten gelegt.

  »Zu welcher Insel wollt Ihr?«, fragte sie.

  »Cat Island«, sagte Enders und deutete auf eine große Insel in der Kette.

  »Monkey Bay?«, fragte sie.

  »Aye«, sagte Enders. »Monkey Bay.«

  »Kennst du sie?«, wollte Hunter von Lazue wissen.

  »Ja, aber das ist zehn Jahre her, und es ist eine Luvbucht. Was für einen Mond haben wir?«

  »Dreiviertel«, sagte Hunter.

  »Und der Himmel ist klar«, sagte Lazue. »Ein Jammer.«

  Woraufhin alle nickten und sehr bedrückt den Kopf schüttelten. Dann fragte Lazue: »Bist du ein Spieler?«

  »Das weißt du doch«, sagte Hunter.

  »Dann lass uns jetzt den Kurs ändern und sehen, ob wir dem Schiff davonfahren können. Falls ja, schön und gut. Falls nicht, sehen wir weiter.«

  »Ich verlass mich auf deine Augen«, sagte Hunter.

  »Kannst du«, sagte Lazue und kletterte wieder die Takelage hoch zu ihrem Ausguck.

  Lady Sarah konnte sich keinen Reim auf das Gespräch machen, doch die Anspannung und die Besorgnis entgingen ihr nicht. Sie blieb an der Reling stehen und blickte zum Horizont, wo sie die Segel des Verfolgerschiffs jetzt mit bloßem Auge deutlich erkennen konnte. Schließlich trat Hunter neben sie. Jetzt, wo die Entscheidung gefällt war, wirkte er entspannter.

  »Ich habe kein Wort von der Unterhaltung vorhin verstanden«, sagte sie.

  »Das ist ganz einfach«, sagte Hunter. »Seht Ihr das Schiff, das uns folgt?«

  »Ja.«

  »Und seht Ihr die Insel in Windrichtung, Cat Island?«

  »Ja.«

  »Dort ist eine Ankerstelle namens Monkey Bay. Sie ist unsere erste Zuflucht, falls wir es schaffen.«

  Sie blickte von dem Verfolgerschiff zu der Insel. »Aber Ihr seid doch ganz nah an der Insel, also dürfte das wohl kaum eine Schwierigkeit sein.«

  »Seht Ihr die Sonne?«

  »Ja …«

  »Die Sonne geht im Westen unter. In einer Stunde wird sie sich mit einer Helligkeit im Wasser spiegeln, dass es in den Augen wehtut. Und dann können wir auf dem Weg in die Bucht die Hindernisse unter Wasser nicht mehr erkennen. In diesen Gewässern kann ein Schiff, das gegen die Sonne fährt, sich leicht den Rumpf an Korallen aufreißen.«

  »Aber Lazue ist doch schon einmal in diese Bucht gefahren.«

  »Aye, aber es ist eine Luvbucht. Luvbuchten sind Stürmen und starken Strömungen vom offenen Ozean ausgesetzt, und sie verändern sich. Eine Sandbank kann sich binnen Tagen oder Wochen verschieben. Monkey Bay ist vielleicht nicht mehr so, wie Lazue sie in Erinnerung hat.«

  »Oh.« Sie schwieg einen Augenblick. »Warum wollt Ihr dann dorthin? Ihr habt die letzten drei Tage keinmal haltgemacht. Segelt doch in die Nacht hinein und hängt das Schiff in der Dunkelheit ab.« Sie wirkte überaus zufrieden mit dieser Lösung.

  »Das geht nicht wegen des Mondes«, sagte Hunter düster. »Es ist ein Dreiviertelmond, der erst gegen Mitternacht aufgehen wird. Aber das genügt, um uns zu verfolgen – wir haben also nur vier Stunden völlige Dunkelheit. In einer so kurzen Zeit können wir das Schiff nicht abschütteln.«

  »Was habt Ihr dann vor?«

  Hunter nahm das Fernrohr und suchte den Horizont ab. Das Verfolgerschiff holte langsam auf.

  »Wir fahren nach Monkey Bay. Gegen die Sonne.«

  »Klar zum Wenden!«, rief Enders, und das Schiff drehte sich in den Wind, änderte langsam und schwerfällig den Kurs. Es dauerte eine volle Viertelstunde, ehe sie wieder das Wasser durchpflügten, und in der Zwischenzeit waren die Segel des Verfolgerschiffs deutlich größer geworden.

  Während Hunter durchs Fernrohr spähte, kamen ihm die Segel in der Ferne plötzlich bedrückend bekannt vor. »Das wird doch wohl nicht …«

  »Was, Sir?«

  »Lazue!«, rief Hunter und zeigte zum Horizont.

  Auf ihrem Ausguck hob Lazue das Fernrohr ans Auge.

  »Erkennst du das Schiff?«

  Sie rief nach unten: »Es ist unser alter Freund.«

  Enders stöhnte auf. »Cazallas Kriegsschiff? Das schwarze Schiff?«

  »Genau das.«

  »Wer befehligt es jetzt?«, fragte Enders.

  »Bosquet, der Franzmann«, sagte Hunter. Er erinnerte sich an den schlanken, beherrschten Mann, den er in Matanceros gesehen hatte, wie er an Bord des Schiffes ging.

  »Von dem hab ich gehört«, sagte Enders. »Solider und tüchtiger Seemann, der versteht sein Metier.« Er seufzte. »Jammerschade, dass kein Spanier das Kommando hat, dann hätten wir vielleicht mehr Glück.« Die Spanier waren als schlechte Seefahrer verschrien.

  »Wie lange noch bis zur Bucht?«

  »Eine volle Stunde«, sagte Enders, »vielleicht mehr. Wenn die Einfahrt eng ist, müssen wir die Segelfläche verkleinern.«

  Das würde sie noch mehr verlangsamen, aber es war nicht zu ändern. Wenn sie das Schiff sicher durch eine Engstelle steuern wollten, würden sie die Segel reffen müssen.

  Hunter blickte zurück auf das Verfolgerschiff. Es änderte jetzt den Kurs, und seine Segel neigten sich, als es sich leewärts drehte. Es fiel leicht zurück, hatte aber schon bald wieder volle Fahrt aufgenommen.

  »Das wird verdammt knapp«, sagte er.

  »Aye«, sagte Enders.

  Oben in der Takelage hob Lazue den linken Arm. Enders behielt sie im Auge, während er den Kurs änderte, bis sie den Arm senkte. Dann steuerte er wieder geradeaus. Kurze Zeit später hielt sie den rechten Arm halb gebeugt hoch.

  Und Enders korrigierte den Kurs, indem er leicht nach steuerbord drehte.

  TEIL IV

  MONKEY BAY

  KAPITEL 27

  Die El Trinidad steuerte auf Monkey Bay zu.

  An Bord der Cassandra sah Sanson das größere Schiff manövrieren. »Heiliger Strohsack, die nehmen Kurs auf Land«, sagte er. »Gegen die Sonne!«

  »Das ist Wahnsinn«, stöhnte der Mann am Ruder.

  »Jetzt hör gut zu«, sagte Sanson und wirbelte zu ihm herum. »Dreh bei und häng dich ins Kielwasser von diesem spanischen Ungetüm und dann folge ihm haargenau. Und ich meine wirklich haargenau. Sonst schneid ich dir die Kehle durch.«

  »Wie können die das machen, gegen die Sonne?«, stöhnte der Steuermann.

  »Sie haben Lazues Augen«, sagte Sanson. »Das könnte genügen.«

  Lazue hielt vorsichtig Ausschau. Ebenso vorsichtig war sie mit ihren Armbewegungen, denn selbst die nachlässigste Geste würde eine Kursänderung bewirken. In diesem Augenblick schaute sie westwärts, hielt die linke Hand flach unter die Nase, um den Widerschein der Sonne vom Wasser unmittelbar vor dem Bug abzuschirmen. Sie richtete den Blick ausschließli
ch auf das Land – auf die grünen Hügel von Cat Island, die sie jetzt nur als flache Silhouette sah, ohne Tiefe.

  Sie wusste, irgendwo weiter vorn, wenn sie näher dran waren, würden die Umrisse der Insel sich genauer abzeichnen, deutlicher werden, und sie würde die Einfahrt zur Monkey Bay sehen. Bis dahin war es ihre Aufgabe, das Schiff auf dem schnellsten Kurs zu dem Punkt zu dirigieren, wo sie die Einfahrt vermutete.

  Die Höhe ihres Ausgucks war eine Hilfe; von dort oben aus konnte sie die Farbe des Wassers viele Meilen entfernt sehen, das verschlungene Muster aus unterschiedlich kräftigen Blau-und Grüntönen. Im Kopf nahm sie sie als Wassertiefen wahr, und sie konnte sie lesen wie eine Seekarte mit Tiefenangaben.

  Das war eine beachtliche Fähigkeit. Der gewöhnliche Seemann, der wusste, wie klar das karibische Wasser war, ging gemeinhin davon aus, tiefblau als tiefes Wasser zu deuten, und grün als noch tieferes. Lazue wusste es besser: Wenn der Meeresgrund sandig war, sah das Wasser womöglich hellblau aus, obwohl es fünfzig Fuß tief war. Oder eine tiefgrüne Farbe konnte einen mit Seegras bewachsenen Grund in nur zehn Fuß Tiefe bedeuten. Und der veränderte Sonnenstand im Laufe des Tages spielte einem auch seltsame Streiche. Am frühen Morgen oder am späten Nachmittag waren alle Farben satter und dunkler, und auch das galt es zu berücksichtigen.

  Doch im Augenblick kümmerte sie die Wassertiefe noch nicht. Sie suchte die Farben an der Küstenlinie nach irgendeinem Hinweis auf die Einfahrt zur Monkey Bay ab. Ihrer Erinnerung nach mündete ein kleiner Süßwasserfluss in die Monkey Bay, wie das bei den meisten Buchten der Fall war. Viele andere karibische Buchten waren nicht sicher für große Schiffe, weil es in den Korallenriffen vor der Küste keine Lücke gab. Eine Lücke gab es nur in Buchten mit Süßwasserzufluss, denn wo Süßwasser war, konnten keine Korallen gedeihen.

  Lazue ließ den Blick über das Wasser nahe der Küste schweifen. Sie wusste, dass die Lücke sich nicht unbedingt in der Nähe der Flussmündung selbst befinden musste. Je nach Strömung, die das Süßwasser hinaus ins Meer trug, konnte sich die eigentliche Öffnung im Riff eine Viertelmeile nördlich oder südlich befinden. Zu erkennen war sie oftmals an einer durch die Strömungen verursachten bräunlichen Trübung im Wasser und der Veränderung an der Wasseroberfläche.

 

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