Exodus
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Das Taxi verließ jetzt die Ebene und begann eine schmale Straße hinaufzufahren, die in Windungen zu dem Paß anstieg, der über das Pentadaktylos-Gebirge hinüberführte. Die Dämmerung setzte ein. Als sie die Höhe erreicht hatten, bat Mark den Fahrer, am Straßenrand zu halten.
Er stieg aus und sah hinunter auf Kyrenia, die kleine Stadt, die, an den Fuß des Berges geschmiegt, schön wie ein Schmuckstück am Rand des Meeres lag. Links über ihm ragten die Ruinen von St. Hilarion, dem alten Schloß, in dem die Erinnerung an Richard Löwenherz und die schöne Berengaria geisterte. Er nahm sich vor, eines Tages mit Kitty hierherzufahren.
Es war schon fast dunkel, als sie Kyrenia erreichten. Die kleine Stadt bestand aus lauter weiß gekalkten Häusern mit roten Ziegeldächern, darüber lag das Schloß, und davor erstreckte sich das Meer. Kyrenia war so malerisch, so altmodisch und romantisch, wie es ein Ort nur sein konnte. Sie kamen an dem Miniaturhafen vorbei, wo im Schutz einer breiten Mole, die rechts und links ins Meer hinauslief, Fischerboote und kleine Jachten lagen. Auf dem einen Arm der Mole befand sich der Kai, auf dem anderen stand eine alte Befestigungsanlage, das Castellum Virginae.
Kyrenia war seit langem ein Zufluchtsort für Maler und pensionierte englische Offiziere. Es war einer der friedlichsten Orte, die es auf der Welt gab.
Nicht weit vom Hafen erhob sich der Riesenbau des Dom-Hotels, der unverhältnismäßig groß und in dieser verschlafenen kleinen Stadt fehl am Platze schien; doch das Dom-Hotel hatte sich zu einem Zentrum des Britischen Empire entwickelt. Überall in der Welt, wo der Union-Jack wehte, war es als Treffpunkt für Engländer bekannt. Es bestand aus einem Gewirr von Gesellschaftsräumen, Terrassen und Veranden, die auf das Meer hinausgebaut waren. Ein langer Pier von ungefähr hundert Meter Länge verband das Hotel mit einer kleinen Insel, auf die sich die Gäste begaben, um zu schwimmen oder in der Sonne zu liegen.
Das Taxi hielt. Ein Hotelboy kam und nahm das Gepäck. Mark bezahlte und sah sich um. Es war November, doch die Luft war noch warm, und das Wetter war klar. Welch wunderbarer Ort für das Wiedersehen mit Kitty!
Der Portier überreichte Mark einen Brief.
Lieber Mark!
Ich bin in Famagusta aufgehalten und kann erst gegen neun zurück sein. Wirst du mir das jemals verzeihen können? Ich kann es kaum noch erwarten. Alles Liebe Kitty.
»Ich hätte gern ein paar Blumen, eine Flasche Whisky, und einen Kübel Eis«, sagte Mark.
»Mrs. Fremont hat für alles gesorgt«, sagte der Portier, während er dem Boy die Schlüssel gab. »Sie haben zwei ineinandergehende Zimmer mit Blick auf das Meer.«
Mark entdeckte auf dem Gesicht des Portiers ein Grinsen. Es war das gleiche dreckige Grinsen, das er in hundert Hotels gesehen hatte, in denen er mit hundert verschiedenen Frauen gewesen war. Er hatte zuerst die Absicht, dem Portier klarzumachen, daß er sich irre, entschloß sich aber dann, den Mann denken zu lassen, was immer er wollte.
Er nahm das Bild des dunkelnden Meeres in sich auf, dann packte er die Koffer aus, mixte sich einen Whisky mit Soda und trank ihn, während er in der Badewanne lag.
Sieben Uhr — noch zwei Stunden.
Er öffnete die Tür zu Kittys Zimmer. Es roch gut. Ihr Badeanzug und ein paar frisch gewaschene Strümpfe hingen über dem Rand der Badewanne. Ihre Schuhe standen aufgereiht neben dem Bett, er sah auf dem Frisiertisch ihre Toilettesachen. Mark mußte lächeln. Selbst in Kittys Abwesenheit war das Zimmer erfüllt von der Atmosphäre eines Menschen, der anders war als alle übrigen, die er kannte.
Er ging zurück in sein Zimmer und streckte sich auf dem Bett aus. Was mochten die Jahre aus ihr gemacht haben? Wie war sie mit dem tragischen Unglück fertig geworden? Kitty, dachte er, liebe, wunderschöne Kitty, bitte sei, wie du warst. Es war jetzt November 1946; wann hatte er sie das letztemal gesehen? 1938, kurz bevor er im Auftrag von ANS nach Berlin ging. Also vor acht Jahren. Dann war Kitty jetzt achtundzwanzig.
Erregung und Spannung wurden zuviel für Mark. Er war müde und nickte ein.
Das Klirren von Eiswürfeln im Glas — ein liebliches Geräusch für Mark Parker — weckte ihn aus tiefem Schlaf. Er rieb sich die Augen und suchte nach einer Zigarette.
»Sie haben geschlafen wie ein Toter«, hörte er eine Stimme mit sehr englischem Akzent sagen. »Ich habe fünf Minuten lang geklopft. Schließlich hat mich der Hotelboy hereingelassen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, daß ich mich mit einem Whisky versorgt habe.«
Die Stimme gehörte Major Fred Caldwell von der britischen Armee. Mark gähnte, reckte sich, um wach zu werden, und sah auf seine Uhr. Es war acht Uhr fünfzehn. »Was zum Teufel machen Sie denn hier in Zypern?« fragte er.
»Dasselbe wollte ich gerade Sie fragen.«
Mark steckte sich eine Zigarette an und richtete den Blick auf Caldwell. Er mochte ihn nicht sonderlich, haßte ihn aber auch nicht. Er war ihm zuwider, das war wohl das richtige Wort. Sie waren einander bisher zweimal begegnet. Caldwell war Adjutant von Colonel Bruce Sutherland gewesen, dem späteren Brigadier, einem durchaus befähigten Frontoffizier der britischen Armee. Das erstemal waren sie sich während des Krieges in Holland begegnet. In einem seiner Berichte hatte Mark auf einen taktischen Fehler der Engländer hingewiesen, der zur Folge gehabt hatte, daß ein ganzes Regiment aufgerieben worden war. Das zweitemal waren sie sich in Nürnberg bei dem Prozeß gegen die Kriegsverbrecher begegnet, über den Mark für ANS berichtete.
Gegen Ende des Krieges hatten Bruce Sutherlands Truppen als erste den Fuß in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gesetzt. Sutherland und Caldwell waren beide nach Nürnberg gekommen, um hier als Zeugen auszusagen.
Mark ging ins Bad, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und suchte nach einem Handtuch. »Was kann ich für Sie tun, Freddy?«
»Wir wurden heute nachmittag von der CID telefonisch davon unterrichtet, daß Sie mit dem Flugzeug hier angekommen seien. Es liegt keine offizielle Bestätigung Ihres Auftrages vor.«
»Mein Gott, was seid ihr für eine mißtrauische Bande! Tut mir leid, Freddy, aber ich muß Sie enttäuschen. Ich bin auf dem Weg nach Palästina, und hier verbringe ich nur meinen Urlaub.«
»Mein Besuch bei Ihnen hat keinen dienstlichen Charakter, Parker«, sagte Caldwell. »Nur, sehen Sie, wir sind so ein bißchen empfindlich bei dem Gedanken an unsere Beziehungen in der Vergangenheit.« »Ihr habt ein gutes Gedächtnis«, sagte Mark und fing an, sich umzuziehen. Caldwell machte für Mark einen Whisky zurecht. Mark betrachtete den englischen Offizier nachdenklich und fragte sich verwundert, warum dieser Mann ihm eigentlich so sehr gegen den Strich ging. Vielleicht lag es an der Arroganz, die ihn als typisches Exemplar dieser ewigen Kolonisten abstempelte. Caldwell war ein schrecklich langweiliger Bursche, stur und engstirnig. Was Mark beunruhigte, war Freddy Caldwells Gewissen, oder vielmehr das völlige Fehlen eines Gewissens. Was recht oder unrecht war, das ergab sich für Caldwell aus einer Heeresdienstvorschrift oder aus einem Befehl.
»Habt ihr vielleicht irgendwelche schmutzigen Dinge hier auf Zypern zu verbergen?«
»Werden Sie bitte nicht komisch, Parker. Diese Insel gehört uns, und wir möchten gern wissen, was Sie hier wollen.«
»Wissen Sie, das gefällt mir an euch Engländern. Ein Holländer würde sagen: Scheren Sie sich zum Teufel. Ihr Burschen aber sagt immer: Würden Sie bitte so freundlich sein, sich zum Teufel zu scheren. — Ich sagte bereits, daß ich hier im Urlaub bin. Feiere hier Wiedersehen mit einer alten Bekannten.«
»Und wer ist das?«
»Ein Mädchen namens Kitty Fremont.«
»Ah, die Kinderpflegerin. Eine tolle Frau, wirklich hinreißend. Lernte sie vor einigen Tagen beim Gouverneur kennen.« Freddy Caldwell sah auf die Verbindungstür zu Kittys Zimmer, die nur angelehnt war, und hob fragend die Augenbrauen.
»Geben Sie Ihre dreckige Phantasie in die Reinigung«, sagte Mark. »Ich kenne sie seit fünfundzwanzig Jahren.«
»Aha, die Liebe wird also immer größer.«
»Stimmt. Und daher bekommt Ihr Besuch jetzt gesellschaftlichen Charakter — also verschwinden Sie gefälligst.«
Caldwell lächelte, setzte sein
Glas ab und klemmte sich sein Stöckchen unter den Arm.
»Freddy Caldwell«, sagte Mark, »ich möchte Sie gern einmal sehen, wenn dieses Lächeln aus Ihrem Gesicht weggewischt ist.«
»Wovon in drei Teufels Namen reden Sie eigentlich?«
»Wir befinden uns im Jahre 1946, Major. Ein Haufen Leute haben im letzten Krieg die Schlagworte gelesen, um die es in diesem Kampf gehe, und haben daran geglaubt. Eure Uhr geht nach. Ihr werdet den kürzeren ziehen, überall — zuerst in Indien, dann in Afrika, und dann im Nahen Osten. Ich werde zur Stelle sein, um zuzusehen, wie ihr das Mandat in Palästina verliert. Und man wird euch sogar auch aus Suez und Jordanien hinauswerfen. Die Sonne sinkt über dem Empire, Freddy, was wird Ihre Frau bloß anfangen, wenn sie keine vierzig schwarzen Boys mehr hat, denen sie mit der Peitsche befehlen kann?«
»Ich habe Ihre Berichte über den Nürnberger Prozeß gelesen, Parker. Sie haben diese schreckliche amerikanische Tendenz, die Dinge zu dramatisieren. Außerdem, alter Knabe, habe ich gar keine Frau.«
»Ihr seid höfliche Burschen.«
»Sie sind also hier im Urlaub, Parker, vergessen Sie das nicht. Ich werde Brigadier Sutherland Ihre Grüße übermitteln. Cheerio.«
Mark lächelte und zog die Schultern hoch. Und dann fiel es ihm wieder ein — Welcome to Cyprus. Das Shakespeare-Zitat hieß vollständig: »Willkommen hier in Zypern — Ziegen und Affen!«
II.
Während Mark Parker darauf wartete, Kitty Fremont nach langer Zeit endlich wiederzusehen, warteten in einem anderen Teil von Zypern zwei Männer auf ein sehr andersgeartetes Wiedersehen. Sie warteten in einem Wald, vierzig Meilen von Kyrenia entfernt, nördlich von Famagusta.
Der Himmel war wolkig verhangen, und es leuchtete kein Stern. Die beiden Männer standen schweigend und starrten durch die Dunkelheit hinunter zum Strand der Bucht.
Sie standen in einem unbewohnten, verfallenen weißen Haus, oben auf dem Hügel, inmitten eines Waldes von Pinien, Eukalyptusbäumen und Akazien. Nichts war zu sehen oder zu hören, es war dunkel und still, bis auf einen gelegentlichen Windhauch und den leisen, unregelmäßigen Atem der beiden Männer.
Der eine war ein griechischer Zyprer, ein Waldaufseher; er war nervös.
Der andere schien so unbewegt wie eine Statue, und sein Blick war beständig auf das Wasser gerichtet. Er hieß David ben Ami, und dieser Name bedeutete: David, Sohn Meines Volkes.
Die Wolken begannen aufzureißen. Ein schwaches Licht fiel auf das stille Wasser der Bucht und den Wald, auf das weiße Haus und das Gesicht von David ben Ami, der am Fenster stand. Er war klein, von schlanker und zarter Figur, ein Mann Anfang der Zwanziger. Selbst in diesem schwachen Licht ließ das schmale, sensible Gesicht mit den tiefliegenden Augen den Geistesarbeiter erkennen, den Intellektuellen.
Das Gewölk verzog sich und der Lichtschein lief über die Trümmer marmorner Säulen und Statuen hin, die rings um das weiße Haus in weitem Umkreis den Boden bedeckten.
Trümmer. Die vergänglichen Überreste von Salamis, der einstmals berühmten Stadt, die um die Zeitenwende in hoher Blüte gestanden hatte. Salamis, in grauer Vorzeit von Teuker, dem Kriegshelden, gegründet, als er aus dem Trojanischen Krieg heimkehrte. Salamis, das durch ein Erdbeben zerstört wurde und sich von neuem erhob, um ein zweites Mal dem Ansturm der Araber unter dem Banner des Islams zu erliegen und sich danach nie wieder zu erheben. Das Licht schimmerte auf den Trümmern Tausender von Säulen, die das weite Gebiet bedeckten, auf dem sich einstmals ein griechisches Forum erhoben hatte.
Die Wolken ballten sich zusammen, und es war wieder dunkel.
»Er müßte längst da sein«, flüsterte der Grieche nervös.
»Da«, sagte David ben Ami, »ich höre etwas.«
Von weit draußen auf dem Wasser war das schwache Geräusch eines Motors zu hören. David ben Ami hob das Glas an die Augen. Das Geräusch des Motors wurde lauter.
Draußen blitzte ein Scheinwerfer auf, der einen Lichtstrahl über das Wasser zu dem weißen Haus auf dem Hügel sandte. Ein kurzes Blinkzeichen — einmal, zweimal, dreimal.
David ben Ami und der Waldaufseher rannten den Hügel hinunter, über das Geröll und durch das Gestrüpp, bis sie den Strand erreichten. Ben Ami erwiderte mit der Taschenlampe das Signal. Das Geräusch des Motors verstummte.
Ein Mann, nur als undeutlicher Schatten zu erkennen, glitt über die Bordwand und begann auf den Strand zuzuschwimmen. David ben Ami entsicherte seine Maschinenpistole und spähte den Strand hinauf und hinunter, um festzustellen, ob sich etwa eine englische Patrouille näherte. Der Schwimmer tauchte jetzt aus dem Wasser auf und watete an Land. »David!« rief eine Stimme.
»Ari!« rief Ben Ami zurück. »Hierher, rasch!«
Zu dritt rannten sie den Strand hinauf, an dem weißen Haus vorbei und zu einem Landweg. Dort wartete ein Taxi, verborgen im Gebüsch. Ben Ami dankte dem Griechen für seine Hilfe, und das Taxi fuhr los, nach Famagusta.
»Meine Zigaretten sind naß geworden«, sagte Ari.
David gab ihm ein Päckchen. Die Flamme des Feuerzeuges beleuchtete für einen Augenblick das Gesicht des Mannes, der Ari hieß. Er war groß und kräftig, in auffälligem Gegensatz zu dem kleinen, feingliedrigen Ben Ami. Er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht, doch der Ausdruck seiner Augen war kalt und hart.
Sein voller Name war Ari ben Kanaan, und er war der fähigste Mann der illegalen Organisation Mossad Aliyah Bet.
III.
Es klopfte bei Mark Parker. Er öffnete. Vor ihm stand Katherine Fremont. Sie war fast noch schöner, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Lange standen sie schweigend und sahen sich an. Er betrachtete ihr Gesicht, ihre Augen. Sie war weiblicher geworden, eine Frau, sanft und mit dem Gefühl für andere, wie es nur durch eigenes schweres Leid entsteht.
»Ich sollte dir den Hals umdrehen, daß du nie auf einen meiner Briefe geantwortet hast«, sagte Mark.
»Mark«, flüsterte sie.
Sie fielen sich in die Arme und hielten sich umschlungen. In der nächsten Stunde sprachen beide wenig, sahen sich nur an, lächelten einander flüchtig zu und hielten sich von Zeit zu Zeit an den Händen. Beim Essen kam die Unterhaltung ein wenig in Gang. Meist war die Rede von Marks Abenteuern als Auslandskorrespondent. Es fiel Mark auf, daß Kitty im Gespräch sorgfältig alles vermied, was sie selbst betraf.
Dann kam der Käse, Mark schenkte sich den Rest von seinem Bier ein, und danach entstand wieder ein unbehagliches Schweigen, Es war deutlich zu sehen, wie Kitty unter den fragenden Blicken von Mark nervös wurde.
»Komm«, sagte er, »gehen wir ein bißchen an den Hafen.«
»Ich will mir nur schnell meine Stola holen«, sagte sie.
Schweigend gingen sie nebeneinander den Kai entlang und auf der Mole hinaus zu dem Leuchtturm, der bei der schmalen Hafeneinfahrt stand. Der Himmel war bedeckt, und die kleinen Boote, die im Hafen vor Anker lagen, waren nur als schwache Umrisse zu sehen. Sie sahen zu, wie der Leuchtturm sein Licht hinaus auf das Meer warf und einem Schleppfischer den Weg zum Schutz des Hafens zeigte. Ein leichter Wind strich durch Kittys blondes Haar. Sie zog ihre Stola enger um die Schultern zusammen. Mark setzte sich auf die Mauer und rauchte. Es war totenstill.
»Ich habe dich sehr unglücklich gemacht, daß ich gekommen bin«, sagte er. »Ich werde morgen wieder abreisen.«
»Nein«, sagte sie, »ich möchte nicht, daß du wegfährst.« Sie richtete den Blick hinaus auf das Meer. »Ich kann dir nicht sagen, wie mir zumute war, als ich dein Telegramm bekam. So vieles wurde in mir wieder wach, das ich mit aller Macht zu vergessen versucht hatte. Dabei wußte ich, daß dieser Augenblick eines Tages kommen würde — irgendwie fürchtete ich mich davor — und gleichzeitig bin ich froh, daß er jetzt da ist.«
»Es ist vier Jahre her, daß Tom gefallen ist. Wirst du denn niemals darüber hinwegkommen?«
»Ich weiß«, sagte sie leise, »Frauen verlieren im Krieg ihre Männer, das ist nun einmal so. Ich habe um Tom geweint. Wir liebten uns sehr, doch ich wußte, daß ich weiterleben würde. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.«
»Darüber ist nicht viel zu sagen«, sagte Mark. »Tom war
beim Marinekorps, und er ging mit zehntausend anderen irgendwo an Land, um einen Küstenstreifen zu besetzen. Er wurde getroffen und war tot. Kein Heldentum, keine Orden — nicht einmal so viel Zeit, um zu sagen: ,Grüße Kitty und sage ihr, daß ich sie liebe.' Es erwischte ihn halt, und es war aus. Das ist alles.«
Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Mark zündete eine Zigarette an und gab sie ihr.
»Aber warum mußte Sandra sterben?« sagte sie. »Warum mußte auch mein Kind sterben?«
»Ich bin nicht Gott. Darauf kann ich keine Antwort geben.«
Sie setzte sich neben Mark auf die Mauer und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Atem ging unruhig. »Ich glaube, weiter kann ich nicht mehr davonlaufen«, sagte sie.
»Warum willst du es mir nicht erzählen?«
»Ich kann nicht —.«
»Mir scheint, es wäre allmählich an der Zeit.«
Mehrmals setzte Kitty zum Sprechen an, doch es kam nur ein leises Gestammel heraus. Zu tief waren die Jahre des Schreckens in ihrem Inneren verschlossen. Sie warf die Zigarette ins Wasser und sah Mark an. Er hatte recht; er war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich anvertrauen konnte.
»Es war sehr schlimm«, sagte sie, »als ich das Telegramm mit der Nachricht wegen Tom bekam. Ich liebte ihn so sehr. Doch dann — kaum zwei Monate später — starb Sandra an Kinderlähmung. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an alles. Meine Eltern brachten mich nach Vermont in ein Heim.«
»In eine Anstalt?«
»Nein — so nennt man das bei armen Leuten —, bei mir hieß es Erholungsheim für Nervenleidende. Ich weiß nicht, wie viele Monate ich dort blieb. Ich konnte mich hinterher nicht mehr an alles erinnern. Ich war Tag und Nacht in einem dichten Nebel. Melancholie nennt man das.«
Kittys Stimme wurde plötzlich ruhig und fest. Die Tür war aufgesprungen, und die stumme Qual fand den Weg ins Freie. »Eines Tages hob sich der Schleier, der über meinem Geist gelegen hatte, und ich war mir wieder bewußt, daß Tom und Sandra tot waren. Es tat weh, und der Schmerz blieb. In jeder Minute des Tages erinnerte mich alles an sie. Jedesmal, wenn ich jemanden singen, jemanden lachen hörte — jedesmal sah ich ein Kind vor mir. Jeder Atemzug, den ich tat, war Schmerz. Ich betete — betete darum, Mark, daß mich der Nebel wieder einhüllen möge. Ja, ich betete darum, den Verstand zu verlieren, um mich nicht mehr erinnern zu müssen.«