Exodus

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Exodus Page 9

by Leon Uris


  »Und wenn du nun abgelehnt hättest?«

  »Oh, dann hätten sie irgendeinen anderen Korrespondenten aus Europa hergeholt. Diese Leute verfügen über allerhand Mittel und Wege. Ich war nur zufällig passend zur Stelle.«

  »Sag mal, Mark«, sagte Kitty zögernd, »habe ich mich sehr töricht benommen?«

  »Ich glaube, du hast dich nicht törichter benommen als hundert andere Frauen auch.«

  »Ein toller Mann ist das. Woher kennst du ihn?«

  »Das erstemal traf ich ihn in Berlin, Anfang 1939. Ich hatte dort gerade meinen Posten bei ANS angetreten. Er kam nach Berlin im Auftrag von Mossad Aliyah Bet, um möglichst viele Juden aus Deutschland herauszuschleusen, bevor der Krieg ausbrach. Er war damals Anfang Zwanzig. Später traf ich ihn dann wieder in Palästina. Das war im Krieg. Er war Angehöriger der britischen Armee und hatte irgendeinen Geheimauftrag. Was es genau war, weiß ich nicht. Nach Kriegsende tauchte er dann an den verschiedensten Stellen in Europa auf, um Waffen zu kaufen und illegale Einwanderer nach Palästina zu schmuggeln.«

  »Glaubst du im Ernst, dieser absolut phantastische Plan, den er da hat, könnte gelingen?«

  »Er ist ein schlauer Bursche.«

  »Ja, das muß ich allerdings sagen — dieser Ben Kanaan ist anders als alle Juden, die ich je kennengelernt habe. Du weißt schon, was ich meine. Man stellt sich ja, wenn man an Juden denkt, nicht gerade Leute mit Fähigkeiten vor, wie er sie hat — denkt nicht an Athleten, tollkühne Draufgänger — und dergleichen.«

  »So? Und wie sieht die Vorstellung denn aus, Kitty, die du von den Juden hast? Vielleicht hast du noch diese alten Vorstellungen wie sie bei uns zu Hause üblich waren: ... der kleine Judenjunge namens Maury heiratet ein kleines Judenmädchen namens Sadie ...«

  »Ach, hör doch auf, Mark! Ich habe schließlich lange genug mit jüdischen Ärzten gearbeitet, um zu wissen, daß die Juden arrogante und aggressive Leute sind. Sie fühlen sich erhaben und blicken auf uns herab.«

  »Herabsehen? — Wohl mit einem Minderwertigkeitskomplex?«

  »Das würde ich dir abnehmen, wenn hier die Rede von Deutschland wäre.«

  »Was willst du eigentlich sagen, Kitty — daß wir reinrassig sind?«

  »Ich will nur sagen, daß kein amerikanischer Jude mit einem Neger oder einem Mexikaner oder einem Indianer tauschen würde.«

  »Und ich sage dir, daß man einen Menschen nicht zu lynchen braucht, um ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen. Oh, ja, die amerikanischen Juden haben es gut, aber daß eine große Anzahl von Leuten so denkt wie du, und daß die Juden zweitausend Jahre lang der Sündenbock gewesen sind, das hat auf sie abgefärbt.

  Warum diskutierst du darüber nicht mit Ben Kanaan? Er scheint zu wissen, wie man mit dir umgehen muß.«

  Kitty richtete sich wütend vom Bett auf. Doch dann fingen beide zu lachen an. Sie konnten nicht ernstlich böse miteinander sein.

  »Sag mal, Mark, was bedeutet das eigentlich: Mossad Aliyah Bet?« »Das Wort ,Aliyah' bedeutet Aufstieg. Wenn ein Jude nach Palästina geht, so bezeichnet man das immer als eine ,Aliyah' — als Aufstieg. Aleph, das ist der Buchstabe A, bezeichnet die legale Einwanderung, und Bet, also der Buchstabe B, die illegale Einwanderung. Mossad Aliyah Bet heißt also alles in allem: Illegale Einwanderungs-Organisation.«

  »Du lieber Gott«, sagte Kitty lächelnd, »was für eine logische Sprache das Hebräische ist.«

  Die nächsten beiden Tage war Kitty verwirrt und unruhig. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß sie den Wunsch hatte, den Riesen aus Palästina wiederzusehen. Mark spürte genau, was mit ihr los war, doch er ließ sich nichts anmerken und tat, als hätte es einen Ben Kanaan überhaupt nicht gegeben.

  Sie wußte nicht genau, was sie beunruhigte; sie stellte nur fest, daß Ben Kanaans Besuch einen starken und nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hatte. Lag das an dem amerikanischen Gewissen, über das Ben Kanaan so genau Bescheid wußte, oder bereute sie ihre unkontrollierte, antisemitische Reaktion?

  Ganz beiläufig, oder vielmehr doch nicht so ganz beiläufig, fragte sie Mark, wann er Ari wiedersehen werde. Ein andermal winkte sie ziemlich deutlich mit dem Zaunpfahl, indem sie sagte, daß es ihr Spaß machen würde, mit Mark nach Famagusta zu fahren, um die Stadt zu besichtigen. Dann wieder wurde sie böse über sich selbst und beschloß, überhaupt nicht mehr an Ari zu denken.

  Am Abend des dritten Tages konnte Mark durch die Verbindungstür hören, wie Kitty unruhig in ihrem Zimmer auf und ab ging. Sie setzte sich in einen Sessel, rauchte im Dunkeln eine Zigarette und war entschlossen, sich über die ganze Sache vernünftig klar zu werden.

  Es behagte ihr nicht, daß sie gegen ihren Willen in die seltsam fremde Welt hineingezogen werden sollte, in der Ben Kanaan lebte. Ihr ganzes Leben lang war sie stets vernünftig, ja sogar berechnend vorgegangen. »Kitty ist ein so verständiges Mädchen«, hatte man immer von ihr gesagt.

  Als sie in Tom Fremont verliebt war und beschlossen hatte, ihn für sich zu gewinnen, hatte sie nach einem genau überlegten Plan gehandelt. Sie führte einen vernünftigen Haushalt und wirtschaftete vernünftig. Sie faßte den Plan, ihr Kind im Frühjahr zu bekommen, und das war auch vernünftig gewesen. Sie hütete sich, momentanen Eingebungen zu folgen, sondern handelte lieber nach einem vorgefaßten Plan.

  Sie konnte nicht verstehen, was in diesen letzten beiden Tagen mit ihr eigentlich geschehen war. Da tauchte plötzlich ein sonderbarer Mann auf und erzählte ihr eine Geschichte, die noch sonderbarer war; sie sah das harte, gutgeschnittene Gesicht Ari ben Kanaans vor sich, mit diesen durchdringenden Augen, die spöttisch lächelnd ihre Gedanken zu lesen schienen. Sie erinnerte sich daran, was sie gefühlt hatte, als sie mit ihm tanzte.

  Die ganze Sache war völlig unlogisch. Kitty fühlte sich nun einmal unbehaglich unter Juden; das hatte sie Mark gegenüber ja auch zugegeben. Und außerdem — wie ging das zu, daß dieses Gefühl jetzt in ihr immer stärker wurde?

  Schließlich sah sie ein, daß sie solange unruhig sein würde, bis sie Ari wiedergesehen und das Lager bei Caraolos besichtigt hatte. Sie beschloß also, ihn wiederzusehen, um sich die ganze Sache aus dem Kopf zu schlagen und um sich die Bestätigung zu verschaffen, daß es sich hier nicht etwa um eine mystische Verstrickung, sondern nur um eine plötzliche und rasch vorübergehende Faszination handelte. Sie wollte Ari ben Kanaan in seinem Lager stellen und ihn dort mit seinen eigenen Waffen schlagen.

  Mark war nicht überrascht, als Kitty ihn am nächsten Morgen beim Frühstück bat, mit Ben Kanaan einen Zeitpunkt für ihren Besuch in Caraolos zu vereinbaren.

  »Ich war sehr froh über deinen Entschluß von neulich abend«, sagte er. »Bitte bleib dabei.«

  »Ich verstehe es selber nicht so ganz«, sagte sie.

  »Dieser Ben Kanaan — er hat genau gewußt, daß er dich herumkriegen wird. Sei doch nicht so dumm. Wenn du nach Caraolos gehst, dann hängst du drin. Paß mal auf — ich steige auch aus. Wir reisen sofort ab.«

  Kitty schüttelte den Kopf.

  »Vor lauter Neugier wirst du unvorsichtig. Du warst doch sonst immer so ein kluges Mädchen. Was ist denn nur mit dir los?«

  »Das klingt komisch aus meinem Munde, nicht wahr, Mark — doch ich habe beinah das Gefühl, als werde ich von irgend etwas getrieben. Aber du kannst mir glauben, ich will nach Caraolos, um mit der ganzen Sache Schluß zu machen — und nicht, um irgend etwas anzufangen.«

  Mark sah, daß es Kitty erwischt hatte, wenn sie es auch zu leugnen versuchte. Was immer auch vor ihr lag, er hoffte, daß es nichts Böses sein werde.

  X.

  Kitty gab ihren Passierschein bei der englischen Wache am Tor ab und betrat das Lager bei der Sektion 57, die unmittelbar neben der Jugendsektion lag.

  »Sind Sie Mrs. Fremont?«

  Sie drehte sich um, nickte und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der ihr lächelnd die Hand hinhielt. Sie stellte fest, daß er einen sehr viel freundlicheren Eindruck machte als sein Landsmann. »Ich bin David ben Ami«, sagte er. »Ari bat mich. Sie in Empfang zu nehmen. Er kommt gleich.«

  »Und was bedeutet Ben Ami? Ich habe seit kurzer Zeit angefangen, mich für he
bräische Namen zu interessieren.«

  »Das heißt: Sohn meines Volkes«, antwortete David. »Wir hoffen, Mrs. Fremont, daß Sie uns bei unserem ,Unternehmen Gideon' helfen werden.«

  »Unternehmen Gideon?«

  »Ja, so habe ich Aris Plan genannt. Kennen Sie die Bibel, Buch der Richter? Gideon sollte aus dem Volk Männer auswählen, um mit ihnen gegen die Midianiter zu streiten. Er wählte dreihundert Mann aus. Auch wir haben dreihundert ausgewählt, die gegen die Engländer streiten sollen. Der Vergleich mag ein wenig weit hergeholt sein, und Ari wirft mir vor, ich sei romantisch.«

  Kitty hatte sich für einen Abend gewappnet, der schwierig zu werden versprach, doch jetzt fühlte sie sich entwaffnet durch diesen freundlichen jungen Mann. Der Tag ging zur Neige, ein kühler Wind wirbelte den trockenen Staub auf. Kitty zog sich ihre Jacke über. In der Ferne erkannte sie die unverkennbare Gestalt Ari ben Kanaans, der quer durch das Lager zu ihnen herankam. Sie holte tief Luft und versuchte der Erregung Herr zu werden, die sie auch jetzt wieder verspürte, genauso wie bei der ersten Begegnung.

  Er blieb vor ihr stehen, und sie nickten sich schweigend zu. Kitty sah ihn mit kalten Augen an und gab ihm wortlos zu verstehen, daß sie gekommen sei, um die Herausforderung anzunehmen, und daß sie nicht die Absicht habe, zu verlieren.

  Die Sektion 57 war größtenteils mit sehr alten, religiösen Menschen belegt. Sie gingen langsam durch die Reihen der Zelte, die überfüllt waren mit ungepflegten, verwahrlosten Männern. Die Wasserzuteilung sei so knapp, erklärte Ben Ami, daß jede Körperpflege praktisch unmöglich sei. Auch die Ernährung war ungenügend. Die Lagerinsassen machten einen geschwächten Eindruck. Ihre Gesichter zeigten teils den Ausdruck der Verbitterung und teils den dumpfer Betäubung, und alle waren vom Tode gezeichnet.

  Sie blieben einen Augenblick am geöffneten Eingang eines Zeltes stehen, in dem ein Greis mit zerfurchtem Gesicht an einer hölzernen Plastik arbeitete.

  Er hielt sie in die Höhe, damit Kitty sie sehen konnte. Es waren zwei zum Gebet gefaltete Hände, die mit Stacheldraht zusammengeschnürt waren. Ari beobachtete sie genau, um ihre Reaktion festzustellen.

  Der Ort mit all seinem Elend, seinem Schmutz und seiner Ärmlichkeit war ebenso abstoßend wie mitleiderregend, doch Kitty hatte sich auf noch Schlimmeres gefaßt gemacht. Sie gewann allmählich die Überzeugung, daß Ari ben Kanaan doch keine geheimnisvolle Macht über sie besaß.

  Sie machten erneut halt, um einen Blick in ein großes Zelt zu tun, das als Synagoge diente. Über dem Eingang war ein roh geschnitztes Symbol der Menora angebracht, des rituellen Leuchters. Im Innern des Zeltes bot sich Kitty ein seltsames, ungewohntes Bild: alte Männer, die mit dem Oberkörper hin und her schwangen, während sie sonderbare Gebete murmelten. Es war eine für Kitty völlig unbekannte Welt. Ihr Blick blieb auf einem besonders verwahrlosten alten Mann mit langem Bart hängen, der laut weinte und vor Qual aufschrie.

  David nahm sie bei der Hand und führte sie nach draußen. »Er ist ein alter Mann«, sagte David. »Er redet mit Gott und sagt ihm, daß er das Leben eines Gläubigen geführt habe — er habe Gottes Gebote gehalten, die Thora verehrt und dem Bund Abrahams, Isaaks und Jakobs auch im tiefsten, bittersten Leid die Treue gehalten. Er bittet Gott, ihn gnädig zu erlösen, weil er ein guter Mensch gewesen sei.« »Diese alten Männer da drinnen«, sagte Ari, »sind sich nicht so ganz klar darüber, daß der einzige Messias, der sie eines Tages vielleicht erlöst, ein aufgepflanztes Seitengewehr ist.«

  Kitty sah Ari an. Dieser Mann hatte etwas Unmenschliches an sich. Ari, der Kittys Ablehnung spürte, ergriff sie am Arm. »Wissen Sie, was ein ,Sonderkommando' ist?«

  »Ari, bitte —«, sagte David.

  »Das ist eine Gruppe, die von den Deutschen gezwungen wurde, bei den Verbrennungsöfen zu arbeiten. Ich würde Ihnen gern einen alten Mann hier zeigen. Er hat aus einem solchen Ofen in Buchenwald die Knochen seiner verbrannten Enkelkinder herausgeholt und sie in einem Schubkarren weggefahren. Sagen Sie mir, Mrs. Fremont — hat man Ihnen dort auf der Unfallstation, wo Sie gearbeitet haben, etwas Besseres zu bieten gehabt?«

  Kitty drehte sich der Magen um. Doch dann stieg die Empörung in ihr hoch und sie schlug zurück, während ihr vor Zorn die Tränen in die Augen schossen. »Ihnen ist wirklich jedes Mittel recht.«

  »Mir ist jedes Mittel recht, um Ihnen klarzumachen, wie verzweifelt unsere Lage ist.« Sie starrten sich feindselig und schweigend an. »Wollen Sie sich nun die Jugendsektion ansehen oder nicht?«

  »Gehen wir«, sagte Kitty, »damit wir es hinter uns haben.«

  Zu dritt betraten sie die Brücke, die oben über den Stacheldraht in die Abteilung des Lagers führte, in der die Kinder und Jugendlichen untergebracht waren, und sahen sich die Ernte an, die der erbarmungslose Schnitter Krieg gehalten hatte. Sie besichtigten das Lazarett, schritten die langen Reihen der Betten mit tuberkulösen Kindern ab, gingen durch die anderen Stationen, sahen die rachitisch verkrümmten Glieder, die von Gelbsucht verfärbten Gesichter, die schwärenden Wunden, die nicht heilen wollten. Und sie gingen durch die geschlossene Abteilung, deren jugendliche Insassen den leeren, starren Blick der Geisteskranken zeigten. Sie gingen an den Zelten entlang, in denen die Abiturienten der Jahrgänge 1940—45 lagen, die Matrikulanten des Ghettos, die Studenten der Konzentrationslager, die Doktoranden der Trümmerlandschaft. Junge Menschen ohne Eltern und ohne Heim. Mit den kahlgeschorenen Schädeln der Entlausten. In Lumpen. Bettnässer, in deren Gesicht das Grauen stand, Kinder, die nachts im Schlaf schrien. Brüllende Säuglinge und finster blickende Halbwüchsige, die nur durch ihre Schlauheit und Verschlagenheit am Leben geblieben waren.

  Als sie die Besichtigung beendet hatten, sagte Kitty: »Das ärztliche Personal, das Sie hier haben, ist hervorragend, und die Kinder werden mit allem versorgt, was sie brauchen.«

  »Nicht den Engländern zu verdanken«, gab Ari zurück »Alles Spenden unserer eigenen Leute.«

  »Bitte«, sagte Kitty, »von mir aus kann es auch als Manna vom Himmel gefallen sein. Ich bin hierhergekommen, weil mein amerikanisches Gewissen mich trieb. Ich habe alles gesehen, und mein Gewissen ist zufriedengestellt. Und jetzt möchte ich gehen.« »Mrs. Fremont —«, sagte David ben Ami.

  »Laß, David! Es hat keinen Zweck. Es gibt eben Leute, auf die allein schon unser Anblick abstoßend wirkt. Bring Mrs. Fremont zum Ausgang.«

  David und Kitty gingen eine Zeltstraße entlang. Als sie sich kurz umwandte, sah sie, daß Ari ihr nachstarrte. Sie wollte möglichst rasch aus dem Lager heraus. Sie wollte zurück zu Mark und an diese ganze scheußliche Geschichte nicht mehr denken.

  Sie kamen an einem großen Zelt vorbei, aus dem ausgelassenes Gelächter ertönte. Es war glückliches Kinderlachen, das in dieser Umgebung seltsam klang. Kitty blieb neugierig beim Zelteingang stehen und lauschte. Ein Mädchen las eine Geschichte vor. Sie hatte eine entzückende Stimme.

  »Das ist ein erstaunliches Mädchen«, sagte David. »Sie arbeitet hier als Kindergärtnerin und macht ihre Sache ganz großartig.«

  Aus dem Zelt klang erneut helles Gelächter. Kitty ging zum Eingang, zog die Leinwand beiseite und sah hinein. Das Mädchen saß mit dem Rücken zum Eingang auf einer Kiste, über das Buch gebeugt, das sie nahe an eine Kerosinlampe hielt. Im Kreis um sie herum saßen mit großen Augen zwanzig Kinder. Als Kitty und David hereinkamen, sahen sie zur Tür.

  Das Mädchen hörte auf zu lesen, drehte sich um und stand dann auf, um die Hereinkommenden zu begrüßen. Die Lampe flackerte in dem Luftzug, der von dem offenen Eingang kam, und ließ die Schatten der Kinder auf der Zeltwand tanzen.

  Kitty sah das Mädchen an, und ihre Augen weiteten sich schreckhaft.

  Sie verließ mit raschen Schritten das Zelt, dann blieb sie stehen, drehte sich um und starrte durch den Eingang zu dem erstaunten Mädchen hin. Sie setzte wiederholt zum Sprechen an, konnte aber vor Verwirrung kein Wort herausbringen.

  Schließlich sagte sie kaum hörbar: »Ich möchte mich gern mit diesem Mädchen unterhalten — allein.«

  Ari, der inzwischen herangekommen war, nickte David zu. »Bring die Kleine zum Schulgebäude. Wir warten dort.«
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br />   Ari brannte die Laterne im Schulzimmer an und machte die Tür zu. Kitty blieb stumm, und ihr Gesicht war blaß.

  »Dieses Mädchen erinnert Sie an irgend jemand«, sagte Ari abrupt.

  Kitty antwortete nicht. Durch das Fenster sah Ari, wie David mit dem Mädchen herankam. Er warf noch einmal einen Blick auf Kitty und ging dann, hinaus.

  Als Kitty allein war, schüttelte sie den Kopf. Es war verrückt. Warum war sie hierhergekommen? Warum war sie gekommen? Sie zwang sich zur Ruhe, rang um Fassung — um erneut dem Anblick dieses Mädchens standzuhalten.

  Die Tür ging auf, und das Mädchen kam langsam herein. Kitty hielt den Atem an. Dieses Gesicht! Nur mit Mühe hielt sie sich zurück, das Mädchen in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken.

  Das Mädchen sah sie verwundert an, doch es schien irgend etwas zu begreifen, und ihr Blick verriet Mitleid.

  »Ich heiße — Katherine Fremont«, sagte Kitty unsicher. »Sprichst du Englisch?«

  »Ja.«

  Wie reizend die Kleine war! Ihre Augen glänzten lebhaft, als sie lächelte und Kitty die Hand reichte.

  Kitty legte dem Mädchen die Hand auf die Wange — und ließ sie dann rasch herunterfallen.

  »Ich — ich bin Kinderpflegerin. Ich hätte gern mit dir gesprochen. Wie heißt du?«

  »Karen«, sagte das Mädchen, »Karen Hansen-Clement.«

  Kitty setzte sich auf das Feldbett und bat das Mädchen, sich zu ihr zu setzen.

  »Wie alt bist du?«

  »Ich bin grad sechzehn geworden, Mrs. Fremont.«

  »Ach bitte, sag doch Kitty zu mir.«

  »Gern, Kitty.«

  »Wie ich höre, arbeitest du hier bei den Kindern.«

  Das Mädchen nickte.

  »Das ist schön. Weißt du, ich — ich werde möglicherweise auch hier arbeiten, und — nun ja, ich wüßte gern genauer über dich Bescheid. Eigentlich möchte ich alles wissen. Hast du Lust, es mir zu erzählen?«

  Karen lächelte. Sie fühlte sich zu Kitty hingezogen, und sie spürte instinktiv, daß Kitty nach ihrer Zuneigung verlangte — sie brauchte. »Eigentlich bin ich aus Deutschland«, sagte Karen, »aus Köln. Aber das ist schon so lange her —.«

 

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