Exodus

Home > Literature > Exodus > Page 12
Exodus Page 12

by Leon Uris


  Die HIPOS begannen, systematisch Orte und Dinge zu zerstören, die den Dänen lieb und teuer waren. Dänische Nazi-Terroristen sprengten Theater in die Luft, Brauereien und Vergnügungsstätten. Die dänische Widerstandsbewegung schlug zurück und führte Sprengungen in Betrieben aus, die für die deutsche Rüstung arbeiteten. Bald verging kein Tag und keine Nacht, in denen man nicht den Donner der Explosionen vernahm.

  Bei den Paraden der Deutschen waren die Straßen leer. Wenn die Deutschen sich in der Öffentlichkeit produzierten, blieben die Dänen in ihren Häusern. Doch an jedem dänischen Nationalfeiertag drängte sich die schweigende Menge der Leidtragenden auf den Straßen. Und der tägliche Ausritt des alten Königs rief eine vielhundertköpfige Menge auf den Plan, die den König mit lauten Zurufen begrüßte und neben ihm herlief.

  Die Spannung wuchs und wuchs, bis sie sich schließlich entlud. Am Morgen des 29. August 1943 erfolgte eine Detonation, die über ganz Seeland hin zu hören war: die dänische Flotte hatte sich selbst versenkt, um den Seeweg vollkommen zu blockieren! Die ergrimmten Deutschen marschierten zum Regierungsgebäude und zum königlichen Schloß Amalienborg. Die königliche Wache trat ihnen entgegen. Es entspann sich ein erbittertes Gefecht, doch nach kurzer Zeit war alles vorbei. Statt der königlichen Wache zogen deutsche Soldaten vor dem Schloß in Amalienborg auf. Eine ganze Anzahl deutscher Generäle und hoher SS-Funktionäre erschien in Dänemark, um die Dänen »auf Vordermann zu bringen«. Das dänische Parlament wurde aufgelöst, und es erging eine Reihe scharfer Erlasse. Das Musterprotektorat hatte aufgehört, ein »Muster« zu sein, sofern es das überhaupt jemals gewesen war.

  Die Dänen beantworteten die Maßnahmen der Deutschen mit gesteigerter Sabotage. Waffen- und Munitionslager, Fabriken und Brücken wurden in die Luft gejagt. Die Deutschen wurden allmählich nervös. Die Sabotage der Dänen begann sich empfindlich bemerkbar zu machen.

  Vom deutschen Hauptquartier im Hotel d'Angleterre erging die Verordnung: ALLE JUDEN HABEN EINE GELBE ARMBINDE MIT DEM JUDENSTERN ZU TRAGEN.

  In der Nacht darauf übertrug der illegale Sender eine Botschaft an das dänische Volk: »König Christian hat von Schloß Amalienborg aus auf die deutsche Anordnung, alle Juden hätten einen Judenstern zu tragen, die folgende Antwort erteilt. Der König hat erklärt, daß es zwischen einem Dänen und einem Dänen keinerlei Unterschied gäbe. Er selbst wird als erster den Davidstern tragen, und er erwartet, daß jeder loyale Däne das gleiche tut.«

  Am nächsten Tag trug fast die gesamte Bevölkerung von Kopenhagen Armbinden, auf denen der Davidstern zu sehen war.

  Am Tag darauf hoben die Deutschen ihre Anordnung wieder auf. Aage selbst war nicht aktiv in der Widerstandsbewegung tätig, doch seine Kollegen, mit denen er assoziiert war, standen an führender Stelle. Daher war er ziemlich genau darüber informiert, was vorging. Im Spätsommer 1943 wurde er sehr unruhig und fand, er müsse nun mit Meta zu einem Entschluß kommen, was mit Karen geschehen sollte.

  »Ich weiß es positiv«, sagte er zu seiner Frau. »Im Lauf der nächsten Monate werden die Deutschen alle Juden in Dänemark abholen. Wir kennen nur den genauen Zeitpunkt noch nicht, zu dem die Gestapo zuschlagen wird.«

  Meta Hansen ging ans Fenster und starrte hinaus, hinunter auf das Wasser und die Brücke zur Altstadt. Es war Abend, Karen würde bald aus der Ballettschule nach Hause kommen. Meta hatte den Kopf mit allen möglichen Plänen und Vorbereitungen für Karens dreizehnten Geburtstag vollgehabt. Es sollte alles ganz wunderbar werden — mit vierzig Kindern, im Tivoli.

  Aage steckte sich die Pfeife an und sah auf Karens Bild, das auf seinem Schreibtisch stand. Er seufzte.

  »Ich kann sie nicht weggeben«, sagte Meta.

  »Wir haben kein Recht —.«

  »Das ist doch etwas ganz anderes, sie ist keine dänische Jüdin. Wir haben Papiere, aus denen hervorgeht, daß sie unsere Tochter ist.« Aage legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. »Irgend jemand in Aalborg könnte die Deutschen informieren.«

  »Man wird sich doch nicht diese Mühe machen — um ein Kind.« »Kennst du diese Leute noch immer nicht?«

  Meta drehte sich herum und sagte: »Wir lassen sie taufen und adoptieren sie.«

  Aage schüttelte langsam den Kopf. Seine Frau sank in einen Sessel und biß sich auf die Lippe. Sie umklammerte die Armlehne so krampfhaft, daß ihre Hand weiß wurde. »Was wird werden, Aage?« »Sämtliche Juden sollen heimlich an die Seeländische Küste gebracht werden, in die Nähe des Öre-Sunds. Wir sind dabei, alle Fahrzeuge, die wir bekommen können, aufzukaufen für die Überfahrt nach Schweden. Die Schweden haben uns Nachricht zukommen lassen, daß sie bereit sind, alle aufzunehmen und für sie zu sorgen.«

  »Wie viele Nächte habe ich wachgelegen und an diese Möglichkeit gedacht. Ich habe mir einzureden versucht, daß sie in größerer Gefahr ist, wenn sie fliehen muß. Und ich sage mir immer wieder, daß sie sicherer ist, wenn sie hier bei uns bleibt.«

  »Überlege dir, was du sagst, Meta.«

  Sie sah ihn mit einem Ausdruck der Verzweiflung und der Entschlossenheit an, wie er ihn bei ihr noch nie gesehen hatte. »Nie und nimmer werde ich Karen weggeben, Aage. Ich kann ohne sie nicht leben.«

  Alle Dänen, die mitzumachen gebeten wurden, setzten ihre ganze Kraft ein. Die gesamte jüdische Bevölkerung Dänemarks wurde heimlich nach dem Norden von Seeland gebracht und hinübergeschmuggelt nach Schweden, wo sie in Sicherheit war. Kurze Zeit darauf machten die Deutschen in ganz Dänemark eine Razzia, um die Juden abzuholen. Sie fanden keine mehr vor.

  Karen blieb in Kopenhagen. Obwohl ihr auch in der Folge nichts geschah, trug Meta doch schwer an der Verantwortung, die sie auf sich genommen hatte. Die deutsche Besatzung wurde für sie ein einziger Angsttraum. Jedes neue Gerücht löste eine Panik bei ihr aus. Drei- oder viermal floh sie mit Karen aus Kopenhagen zu Verwandten in Jütland.

  Aage schloß sich der Widerstandsbewegung an und wurde immer aktiver. Jede Woche war er drei bis vier Nächte nicht zu Haus. Für Meta waren es lange und schreckliche Nächte.

  Der dänische Widerstand, dessen Kräfte inzwischen zusammengefaßt und auf bestimmte Ziele gerichtet waren, konzentrierte seine Energie auf die Zerstörung der deutschen Transportwege. Es verging kaum eine halbe Stunde, ohne daß irgendwo eine Eisenbahnstrecke unterbrochen wurde. Bald war das gesamte dänische Eisenbahnnetz von den Trümmern und Wracks der in die Luft gesprengten Züge gesäumt.

  Die HIPOS rächten sich, indem sie das Tivoli sprengten, den Lieblingsort aller Kopenhagener.

  Die Dänen riefen zum Generalstreik gegen die Deutschen auf. Sie gingen in Massen auf die Straßen und errichteten in ganz Kopenhagen Barrikaden, von denen dänische, amerikanische, englische und russische Fahnen wehten.

  Die Deutschen verhängten den Belagerungszustand über Kopenhagen.

  Reichskommissar Best brüllte wütend: »Der Mob von Kopenhagen soll die Knute zu spüren bekommen!«

  Der Generalstreik wurde niedergeknüppelt, doch die Widerstandsbewegung setzte ihre Zerstörungsarbeit fort.

  19. SEPTEMBER 1944

  Die Deutschen internierten die gesamte dänische Polizei, weil es ihr nicht gelungen war, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und weil sie Sympathie für die gegen die Besatzungsmacht gerichteten Aktionen der dänischen Bevölkerung bekundet hatte. Die Widerstandsbewegung unternahm einen tollkühnen Anschlag auf die amtlichen Archive der Nazis und vernichtete sämtliche Akten. Die Widerstandsbewegung stellte leichte Waffen her und schmuggelte Männer nach Schweden, wo sie dem Dänischen Freikorps beitraten. Die Wut der Widerstandskämpfer richtete sich gegen die HIPOS und andere Verräter, mit denen teilweise kurzer Prozeß gemacht wurde. HIPOS und Gestapo, rasend vor Wut, antworteten zur Vergeltung mit einer Welle wahlloser Erschießungen.

  Und dann begannen Flüchtlinge aus Deutschland nach Dänemark zu strömen. Sie überschwemmten das ganze Land und forderten Nahrung und Unterkunft, ohne dafür zu danken. Die Dänen drehten ihnen verächtlich den Rücken.

  Im April des Jahres 1945 schwirrten alle möglichen Gerüchte durch die Luft.

  4. MAI 1945

  »Mammi! Pappi! Der Krieg i
st aus! Der Krieg ist aus!«

  XIII.

  Der Krieg war aus, und in Dänemark rückten die Sieger ein, die Amerikaner, die Engländer und das Dänische Freikorps. Es waren bewegte Tage — eine Woche der Vergeltung, der Abrechnung mit den HIPOS und den dänischen Verrätern, mit Reichskommissar Best und der Gestapo. Eine Woche lärmender, überschwenglicher Freude, deren Höhepunkt die Wiedereröffnung des dänischen Parlaments durch den alten König Christian war. Er sprach mit stolzer, aber matter Stimme, die vor Bewegung unsicher war. Für Meta und Aage Hansen war die Woche der Befreiung eine Zeit der Sorge. Vor sieben Jahren hatten sie ein Kind aus schwerer Gefahr errettet und es herangezogen zu einem blühenden jungen Mädchen, einem Mädchen, von strahlender Anmut und Heiterkeit. Und jetzt: der Tag des Gerichts.

  In einem Anfall von Angst und Verzweiflung hatte Meta Hansen einst geschworen, sie würde Karen nie und nimmer hergeben. Nun aber wurde Meta Hansen das Opfer ihrer Rechtschaffenheit. Was ihr jetzt zu schaffen machte, waren nicht mehr äußere Feinde, sondern ihr christliches Gewissen. Und auch Aage würde tun, was ihm sein dänisches Ehrgefühl befahl. Mit der Befreiung kam für sie die Angst vor der Leere, die in ihrem Leben entstehen würde, wenn Karen eines Tages nicht mehr da war. Beide waren in den letzten sieben Jahren sehr gealtert. Das zeigte sich in dem Augenblick, als die Spannung des Krieges zu Ende war. So bedrohlich es in den vergangenen Jahren mitunter auch ausgesehen hatte, sie hatten doch nie das Lachen verlernt; jetzt aber, während ganz Dänemark lachte, war es bei ihnen still geworden. Die Hansens hatten kein anderes Verlangen, als Karen anzusehen, ihre Stimme zu hören, und stundenlang saßen sie in Karens Zimmer, verzweifelt bemüht, möglichst viele Erinnerungen für später zu sammeln.

  Karen war sich darüber klar, was kommen mußte. Sie liebte die Hansens. Aage hatte immer das Richtige getan. Sie mußte warten, bis er als erster sprach. Von Tag zu Tag wurde die Stimmung bedrückter und das Schweigen schwerer. Endlich, zwei Wochen nach der Befreiung, als sie wieder einmal schweigend zu Abend gegessen hatten, erhob sich Aage vom Tisch und legte seine Serviette hin. Sein freundliches Gesicht lag in bekümmerten Falten, und seine Stimme war matt und ausdruckslos. »Wir müssen versuchen, deine Eltern zu finden, Karen«, sagte er. »Das ist unsere Pflicht.« Damit ging er rasch hinaus. Karen sah zur Tür, hinter der er verschwunden war, und dann zu Meta, die ihr am Tisch gegenübersaß.

  »Ich liebe euch doch«, sagte Karen, lief in ihr Zimmer und warf sich schluchzend auf das Bett. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie den Hansens diese Sorge bereitete. Und auch noch aus einem anderen Grunde war sie mit sich unzufrieden. Sie wußte nichts über ihre Vergangenheit; jetzt aber verlangte es sie danach, darüber Klarheit zu erhalten. Einige Tage später begaben sie sich zu der internationalen Flüchtlingsorganisation.

  »Das ist meine Pflegetochter«, sagte Aage.

  Die Sachbearbeiterin, mit der sie sprachen, hatte in der kurzen Zeit seit der Befreiung schon viele Fälle wie den des Ehepaares Hansen und ihrer Pflegetochter Karen erlebt. Tag für Tag war sie gezwungen, Augenzeuge von Tragödien zu werden. Oberall, in Dänemark und Holland, in Schweden, Belgien und Frankreich erschienen Pflegeeltern wie die Hansens, die Kinder bei sich aufgenommen, sie verborgen, geschützt und aufgezogen hatten, um ihren bitteren Lohn zu empfangen.

  »Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Sache außerordentlich schwierig und nervenaufreibend ist, und daß es nicht so rasch gehen wird. Es gibt Millionen herumirrender Menschen in Europa. Wir haben keinerlei Ahnung, wie lange es dauern wird, die auseinandergerissenen Familien wieder zusammenzuführen.«

  Sie teilten der Sachbearbeiterin alle ihnen bekannten Tatsachen mit, übergaben ihr eine Liste sämtlicher Verwandter Karens und die Briefe ihrer Eltern. Da Karen eine sehr zahlreiche Verwandtschaft hatte und ihr Vater ein prominenter Mann gewesen war, machte die Dame ihnen ein klein wenig Hoffnung.

  Es verging eine Woche, dann eine zweite und schließlich eine dritte. Es wurde Juni und Juli. Für Aage und Meta waren es qualvolle Monate. Immer häufiger standen sie in der offenen Tür zu Karens Zimmer. Es war ein reizendes Jungmädchenzimmer. Ihre Schlittschuhe standen da, ihre Ballettschuhe, an der Wand hingen Bilder von Klassenkameradinnen und von Primaballerinen. Auch das Foto eines jungen Mannes, des Sohnes der Familie Petersen, für den sie schwärmte.

  Schließlich wurden Hansens aufgefordert, in das Büro der Flüchtlingsorganisation zu kommen.

  »Wir stehen vor der Tatsache«, sagte die Sachbearbeiterin, »daß alle von uns angestellten Nachforschungen bisher ergebnislos gewesen sind. Das bedeutet aber nichts Endgültiges. Die Sache ist eben schwierig und braucht Zeit. Wenn ich zu entscheiden hätte, so wurde ich Karen davon abraten, allein nach Deutschland zu reisen, ja, nicht einmal in Begleitung von Herrn Hansen. In Deutschland herrscht ein völliges Chaos, und Sie würden auch dort nichts ausfindig machen, was wir nicht ebensogut von hier aus ermitteln könnten.« Die Dame machte eine Pause, warf den Hansens und Karen einen scheuen Blick von der Seite zu und sagte dann zögernd: »Ich muß Sie vorsorglich auf etwas aufmerksam machen. Wir bekommen täglich mehr und mehr Meldungen, aus denen hervorgeht, daß etwas ganz Schreckliches geschehen ist. Eine große Anzahl von Juden ist umgebracht worden. Es hat allmählich den Anschein, daß es sich um Millionen handelt.«

  Das war für die Hansens ein nochmaliger Aufschub. Doch welch entsetzlicher Aufschub! Sollten sie Karen nur deshalb behalten dürfen, weil mehr als fünfzig ihrer nächsten Angehörigen umgebracht worden waren? Die Hansens wurden unschlüssig hin-und hergerissen. Die Entscheidung kam von Karen selbst.

  Bei aller Liebe und Zuneigung, die sie für Aage und Meta Hansen empfunden und von ihnen empfangen hatte, war zwischen ihnen immer eine seltsame, unsichtbare Barriere gewesen. Im Anfang der deutschen Besatzung, als Karen erst acht Jahre alt gewesen war, hatte Aage ihr gesagt, sie dürfe nie darüber sprechen, daß sie Jüdin sei, weil sie dadurch ihr Leben gefährden würde. Karen hatte sich daran gehalten, genau wie sie auch sonst Aage in allem gehorchte, da sie ihn liebte und ihm vertraute. Dennoch aber mußte sie immer wieder darüber nachdenken, wieso sie eigentlich anders war als andere Leute, und wieso sie durch diese ihr nicht verständliche Andersartigkeit ihr Leben gefährde. Da sie nie danach fragen konnte, hatte sie auch niemals Aufschluß darüber bekommen. Dazu kam, daß Karen keinen Kontakt mit anderen Juden gehabt hatte. Sie fühlte sich nicht anders als andere Dänen, und sie wußte, daß sie auch nicht anders aussah als sie. Dennoch gab es eine unsichtbare, trennende Schranke.

  Vielleicht hätte dieses Problem eines Tages von selbst aufgehört, sie zu beschäftigen, doch Aage und Meta erinnerten Karen, ohne es zu wissen und wollen, immer wieder daran. Sie waren gläubige und eifrige Lutheraner, gingen jeden Sonntag mit Karen zur Kirche, und jeden Abend vorm Zubettgehen las Aage aus dem Buch der Psalmen vor. Karen hütete die kleine, in Schweinsleder gebundene Bibel, die sie zu ihrem zehnten Geburtstag von den Hansens geschenkt bekommen hatte, wie einen Schatz, und sie las begeistert die wunderbaren und märchenhaften Geschichten, besonders die aus dem Buch der Richter, dem Buch Samuel und dem Buch der Könige. In der Bibel zu lesen, das war genauso aufregend und wunderbar, wie in Andersens Märchen.

  Doch in der Bibel war so vieles, was Karen nicht verstand, was sie beunruhigte. Oftmals wünschte sie sich, mit Aage über alles sprechen zu können. Jesus war ja auch Jude gewesen und seine Mutter und alle seine Jünger waren Juden. Das ganze Alte Testament, das Karen besonders faszinierend fand, handelte ausschließlich von den Juden. Und hieß es nicht immer wieder, daß die Juden das Volk waren, das Gott auserwählt hatte?

  Wenn das wahr war, wie konnte es dann so gefährlich sein, Jude zu sein, und woher kam es dann, daß die Juden so gehaßt wurden? Je älter Karen wurde, desto intensiver suchte sie nach einer Antwort auf diese Fragen. Als sie vierzehn war, konnte sie sich schon vieles von dem, was in der Bibel stand, zurechtlegen und ausdeuten. Fast alles, was Jesus gelehrt hatte, war schon im Alten Testament niedergelegt. Und das war das größte von allen Rätseln: sollte Jesus erneut auf die Erde kommen, so würde er, das stand für Karen fest, bestimmt lieber in e
ine Synagoge gehen als in eine Kirche. Wie konnten Menschen Jesus verehren und Gottes auserwähltes Volk hassen?

  An ihrem vierzehnten Geburtstag ereignete sich noch etwas anderes, was Karen aufmerksam und nachdenklich machte. In diesem Alter wurden die dänischen Mädchen konfirmiert, und die Konfirmation war eine feierliche und festliche Sache. Karen war als Dänin und als Christin herangewachsen, dennoch hatten die Hansens wegen der Konfirmation Bedenken. Sie sprachen darüber, und Aage und Meta waren sich einig, daß sie keine Entscheidung fällen könnten in einer Frage, die bereits durch Gott entschieden war. So sagten sie Karen eines Abends, daß sie die Konfirmation mit Rücksicht auf den Krieg und die Unsicherheit der Verhältnisse lieber verschieben wollten. Doch Karen ahnte den wahren Grund.

  Als sie damals zu den Hansens gekommen war, hatte sie nach Liebe und nach Schutz verlangt. Jetzt aber hatte sie ein größeres Verlangen: sie wollte wissen, woher sie kam und wer sie war. Und sie wollte wissen, was es eigentlich bedeutete, Jude zu sein. All diese brennenden Fragen hatte sie bisher verdrängt, um für immer als Dänin unter Dänen leben zu können. Jetzt war ihr das nicht mehr möglich.

  Als sich der Krieg seinem Ende näherte, begriff Karen, daß sie nicht bei den Hansens bleiben konnte, und sie bereitete sich innerlich auf den Schock der unvermeidlichen Trennung vor. Karen Hansen zu sein, das war nur eine Rolle, die sie gespielt hatte. Jetzt wurde es für sie eine Sache von höchster Wichtigkeit, Karen Clement zu werden. Sie versuchte, Einzelheiten ihrer Vergangenheit zu rekonstruieren, sich an ihren Vater zu erinnern, an ihre Mutter und an ihre Brüder. Erinnerungen tauchten wieder vor ihr auf, undeutlich und ohne Zusammenhang. Immer wieder stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn sie wieder mit ihren Eltern und Geschwistern vereint wäre.

  Als dann das Ende des Krieges kam, war Karen vorbereitet und gefaßt. Einige Monate nach Kriegsende eröffnete sie eines Abends den Hansens, daß sie sich aufmachen wolle, um ihre Eltern zu suchen. Sie sagte ihnen, daß sie mit der Dame im Büro der Flüchtlingsorganisation gesprochen habe, und daß die Aussichten, ihre Familie zu finden, größer seien, wenn sie sich in ein Lager für Zwangsverschleppte in Schweden begäbe. In Wirklichkeit waren die Aussichten nicht größer, als wenn sie in Kopenhagen geblieben wäre, doch sie ertrug es nicht, den Abschiedsschmerz der Hansens zu verlängern.

 

‹ Prev