Exodus

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Exodus Page 18

by Leon Uris


  »Das kann ich nicht«, sagte Kitty mit leiser Stimme. »Ich kann nicht.« Sie hob den Blick und sah Ben Kanaan verzweifelt und hilflos an.

  »Mit so was hatte ich wirklich nicht gerechnet«, sagte er. »Tut mir leid, Kitty.« Es war das erstemal, daß er sie Kitty nannte.

  »Bringen Sie mich zu Mark zurück«, sagte sie.

  Sie gingen hinaus. Draußen stand David. »Geh zu Dov«, sagte Ari, »und sag ihm, daß wir mit seinen Bedingungen einverstanden sind.« Dov rannte los, als er es erfahren hatte. Atemlos und aufgeregt kam er in Karens Zelt gestürzt. »Wir fahren nach Palästina!« rief er.

  »O Gott«, sagte Karen. »O Gott!«

  »Wir dürfen nicht darüber reden. Die anderen wissen nichts davon, nur du und ich.«

  »Und wann?«

  »In den allernächsten Tagen. Ben Kanaan und seine Leute werden mit Lastwagen und in englischen Uniformen kommen. Angeblich, um uns in das neue Lager bei Larnaca zu bringen.«

  »O mein Gott.«

  Hand in Hand verließen sie das Zelt. Langsam gingen sie durch die langen Reihen der Zelte unter den Akazien zu dem Spielplatz, wo Seew mit einer Schulklasse Messerfechten übte.

  Dov Landau ging weiter, allein, an der Wand aus Stacheldraht entlang. Er sah draußen die englischen Wachtposten auf und ab gehen. Am Ende der langen Wand aus Stacheldraht stand ein Wachtturm, ausgerüstet mit Maschinengewehr und Scheinwerfer. Stacheldraht — Maschinengewehre — Wachtposten —.

  Wann in seinem Leben war er einmal nicht hinter Stacheldraht gewesen? Gab es das wirklich, ein Leben ohne Stacheldraht, Maschinengewehre und Wachtposten? Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Es lag so weit zurück, zu weit. ..

  XXII.

  WARSCHAU, SOMMER 1939

  Mendel Landau war ein kleiner Warschauer Bäcker. Verglichen mit Professor Johann Clement lebte er am anderen Ende der Welt. Mendel Landau und Johann Clement hatten in der Tat absolut nichts gemeinsam. Aber beide waren Juden.

  Deswegen mußte jeder von ihnen auf die Frage nach der Einstellung zu seiner Umwelt seine eigene Antwort finden. Professor Clement hatte sich bis zuletzt an die Idee der Assimilation geklammert. Mendel Landau war zwar ein schlichter, einfacher Mann, hatte aber gleichfalls über dieses Problem nachgedacht. Er war allerdings zu einem völlig anderen Ergebnis gelangt.

  Im Gegensatz zu Clement hatte Mendel Landau in einer Umgebung gelebt, die ihm das Bewußtsein eingeprägt hatte, ein Fremder zu sein, ein Eindringling. Siebenhundert Jahre lang waren die Juden in Polen allen möglichen Formen der Verfolgung ausgesetzt gewesen, angefangen von Mißhandlungen bis zum Massenmord. Sie hatten im Ghetto gelebt, hinter hohen Mauern, die sie von der Umwelt trennten.

  In diesem Ghetto aber war etwas Sonderbares geschehen. Dort hatte sich das religiöse und kulturelle Eigenleben der Juden vertieft, statt zu erlöschen, und ihre Zahl war ständig größer geworden. Da sie gewaltsam von der Außenwelt isoliert waren, hielten sich die Juden immer strenger an die mosaischen Gesetze, und diese Gesetze waren zu einem mächtigen Band geworden, das sie untereinander fest zusammenhielt. In den jüdischen Gemeinden, die im Ghetto ganz auf sich selbst gestellt waren, entwickelte sich ein besonders fester familiärer und kommunaler Zusammenhalt, der auch nach der Abschaffung des Ghettos bestehenblieb.

  Die jahrhundertelangen Verfolgungen hatten ihren grausigen Höhepunkt im Jahre 1648 erreicht, als bei einem Kosakenaufstand eine halbe Million Juden umgebracht wurde. Das finstere Mittelalter, das im westlichen Europa sein Ende gefunden hatte, schien im polnischen Ghetto weiterzuleben.

  Zu allen Zeiten der jüdischen Geschichte hatte es immer dann, wenn es besonders bedrohlich und hoffnungslos aussah, Männer unter den Juden gegeben, die mit dem Anspruch auftraten, der neue »Messias« zu sein. Gleichzeitig entwickelte sich die jüdische Mystik, die sich bemühte, biblische Erklärungen für die jahrhundertelangen Leidenszeiten zu finden. Mit ihrer verwickelten Geheimlehre, der Kabbala, versuchten die jüdischen Mystiker, den heiligen Schriften einen verborgenen Sinn entreißen und einen Weg zu finden, auf dem Gott sie aus der Wüstenei des Todes erretten könne.

  Während die »Erlöser« ihre messianische Botschaft verkündeten und die Mystiker die Schriften erforschten, erwuchs im Ghetto noch eine weitere Glaubensbewegung: Die Chassidim, die die unerträgliche Wirklichkeit durch religiöse Inbrunst zu überwinden suchten.

  Die Kabbala, der Chassidismus — Mendel Landau waren sie bekannt, diese Ausgeburten der Verzweiflung. Er wußte auch, daß es aufgeklärtere Zeiten gegeben hatte, in denen das Los der Juden leichter gewesen war. Und er wußte von den vielen Freiheitskriegen der Polen, bei denen die Juden zu den Waffen gegriffen und an der Seite der Polen gekämpft hatten.

  Vieles von dem, was Mendel Landau wußte, war alte Geschichte, längst versunkene Vergangenheit. Jetzt aber schrieb man das Jahr 1939, und Polen war eine Republik. Er und seine Familie lebten nicht mehr in einem Ghetto. Es gab in Polen über drei Millionen Juden, und die Juden spielten eine wichtige Rolle im Leben der Nation. Freilich war ihre Unterdrückung mit dem Entstehen der Republik nicht beendet, nur der Grad war ein anderer geworden. Noch immer gab es für die Juden Sondersteuern und wirtschaftliche Beschränkungen. Und noch immer gaben die meisten Polen für eine Überschwemmung oder eine Dürre den Juden die Schuld.

  Gewiß, das Ghetto war verschwunden, doch für Mendel Landau war ganz Polen ein Ghetto, ganz gleich, wo er wohnte. Gewiß, Polen war eine Republik, doch Mendel Landau hatte auch in den Jahren nach 1936 Pogrome erlebt. Es hatte antisemitische Ausschreitungen gegeben, in Brzesc, Czenstochau, Brzytyk, Minsk Mazowiecki; und er hatte die höhnischen Stimmen des Gesindels im Ohr, das sich einen Spaß daraus gemacht hatte, jüdische Läden zu demolieren und den Juden die Bärte abzuschneiden.

  Deshalb war Mendel Landau zu einer anderen Schlußfolgerung gekommen als Johann Clement. Nach siebenhundert Jahren jüdischer Ansässigkeit war Mendel Landau in Polen noch immer ein Fremder, ein Eindringling, und er war sich darüber klar.

  Er war ein einfacher und sehr bescheidener Mann. Seine Frau Lea war ein treues, biederes Weib, eine gute Mutter und eine schwer arbeitende Hausfrau.

  Mendel Landau hatte den Wunsch, seinen Kindern irgend etwas mitzugeben. Doch die gläubige Inbrunst der Chassidim und ihr Gebetseifer sagten ihm nicht zu, und er hielt auch nichts von irgendeinem neuen Messias oder der Geheimwissenschaft der Kabbala. Er war nur noch bedingt ein Anhänger der jüdischen Religion. Er hielt die jüdischen Feste ein, ungefähr so, wie die meisten Christen Ostern und Weihnachten feiern. Er schätzte die Bibel, in der die Geschichte seines Volkes berichtet wurde, doch sie war für ihn mehr eine historische Quelle als ein Gegenstand der Verehrung. Er konnte also seinen Kindern keinen tief verwurzelten Glauben überliefern. Was Mendel Landau seinen Kindern mitgab, war eine Idee. Diese Idee lag in weiter Ferne, sie war ein Traum, und sie war unrealistisch. Sein Vermächtnis an seine Kinder war die Idee, daß die Juden eines Tages nach Palästina zurückkehren und den alten jüdischen Staat wieder errichten sollten. Nur als Nation würden die Juden jemals ihre Gleichberechtigung erreichen können. Mendel Landau, der Bäcker, mußte schwer arbeiten. Er hatte vollauf genug zu tun und zu denken, um seine Familie durchzubringen und seinen Kindern ein Heim zu geben, eine Erziehung und seine Liebe. In seinen kühnsten Träumen dachte er nicht daran, daß er selbst jemals Palästina sehen würde, und er glaubte auch nicht wirklich, daß seine Kinder jemals dorthin kommen würden. Doch er glaubte an die Idee.

  Mendel war mit diesem Glauben unter den polnischen Juden nicht allein. Unter den dreieinhalb Millionen Juden, die in Polen lebten, gab es Hunderttausende, die dem gleichen Stern folgten, und diese Hunderttausende bildeten die Keimzelle der zionistischen Bewegung. Es gab orthodoxe Zionisten, sozialistische Zionisten, bürgerliche Zionisten, und es gab sogar auch kleine militante zionistische Gruppen.

  Da Mendel Gewerkschaftsmitglied war, gehörten er und seine Familie einer Gruppe sozialistischer Zionisten an, die sich Habonim, die »Bauleute«, nannten. Diese »Bauleute« bildeten den Mittelpunkt, um den sich das ganze Leben der Landaus bewegte. Von Zeit zu Zeit kamen Männer aus Paläst
ina, die Reden hielten und Anhänger warben; es gab Bücher und Schriften und Diskussionen, und es gab Abende, an denen man zusammenkam und Lieder sang und tanzte, um die Idee wachzuhalten.

  Die Landaus waren eine sechsköpfige Familie. Der älteste Sohn, Mundek, war ein stämmiger Bursche von achtzehn Jahren und gleichfalls Bäcker. Mundek war der geborene Führer und Gruppenleiter bei den »Bauleuten«. Ruth, die ältere Tochter, war siebzehn und genauso schüchtern, wie es ihre Mutter als junges Mädchen gewesen war. Sie liebte Jan, der gleichfalls einen führenden Posten bei den Bauleuten bekleidete, und Jan liebte sie. Dann kam Rebekka, vierzehnjährig, und schließlich der jüngste, der kleine Dov. Er war zehn Jahre alt, hatte blonde Haare und große blaue Augen, und er war noch zu jung, um Mitglied der Bauleute zu sein. Er liebte und bewunderte seinen großen Bruder Murvdek, der ihm wohlwollend gestattete, zu den Versammlungen der Bauleute mitzukommen.

  Am 1. September 1939 marschierten die Deutschen, nachdem sie eine Reihe von Grenzzwischenfällen inszeniert hatten, in Polen ein. Mendel Landau und sein ältester Sohn Mundek gingen zum Heer.

  Die deutsche Wehrmacht zerschlug Polen in einem Blitzkrieg, der nur sechsundzwanzig Tage dauerte. Mendel Landau blieb auf dem Schlachtfeld, und mit ihm mehr als dreißigtausend Juden, die wie er auf polnischer Seite gekämpft hatten.

  Die Landaus konnten sich nicht den Luxus leisten, den Gefallenen lange zu betrauern, denn für sie bestand drohende Gefahr. Mundek, der an der todesmutigen, aber vergeblichen Verteidigung von Warschau teilgenommen hatte, kehrte als Oberhaupt der Familie heim.

  In dem Augenblick, da die Deutschen in Warschau einrückten, versammelten sich die Bauleute, um zu überlegen, was nun zu tun sei. Die meisten polnischen Juden meinten, es würde ihnen nichts geschehen und nahmen eine abwartende Haltung ein. Die Bauleute und andere zionistische Gruppen in allen Teilen des Landes waren nicht so naiv. Sie waren sich dessen bewußt, daß die deutsche Besatzung eine schwere Gefahr bedeutete.

  Die Bauleute beschlossen, in Warschau zu bleiben, den Widerstand innerhalb der Stadt zu organisieren und mit den anderen BauleuteGruppen im übrigen Polen Verbindung zu halten. Mundek wurde, obwohl er noch nicht neunzehn war, zum militärischen Führer der Warschauer Gruppe gewählt. Jan, Ruths heimliche Liebe, wurde Mundeks Stellvertreter.

  Sofort nach der Machtübernahme durch die Deutschen erließ der neuernannte Generalgouverneur Hans Frank eine ganze Reihe von Verordnungen, die sich gegen die Juden richteten. Das Abhalten von Gottesdiensten wurde ihnen verboten, ihre Bewegungsfreiheit wurde beschränkt und ihre Besteuerung enorm erhöht. Die Juden wurden aus allen öffentlichen Ämtern entfernt; das Betreten öffentlicher Gebäude oder Anlagen war ihnen untersagt, jüdische Kinder durften die öffentlichen Schulen nicht mehr besuchen. Es gab sogar Gerüchte, wonach das Ghetto wieder eingerichtet werden sollte. Gleichzeitig mit diesen einschränkenden Maßnahmen eröffneten die Deutschen eine »Aufklärungskampagne« für die polnische Bevölkerung. Dieser propagandistische Feldzug unterstützte die bereits weitverbreitete Meinung, daß die Juden den Krieg verschuldet hätten. Die Deutschen erklärten, daß die Juden verantwortlich seien für die deutsche Invasion, deren Ziel es gewesen sei, Polen vor der »jüdisch-bolschewistischen« Gefahr zu schützen.

  In Berlin suchten inzwischen die Nazi-Größen krampfhaft nach einer »Lösung des jüdischen Problems«. Die verschiedensten Vorschlage wurden ventiliert. Die alte Idee, sämtliche Juden nach Madagaskar zu bringen, kam erneut zur Sprache.

  Zwar hätte man es vorgezogen, die Juden nach Palästina zu schicken, doch das war durch die britische Blockade unmöglich. SS-Obersturmbannführer Eichmann hatte schon lange »Umsiedlungsarbeit« unter den Juden geleistet. Er schien den NaziGrößen also der geeignete Mann zu sein, um die »Endlösung« der Judenfrage in die Hand zu nehmen.

  Soviel war jedenfalls klar: solange man noch keine endgültige Lösung gefunden hatte, mußte man ein Programm der Massenaussiedlung der Juden in Angriff nehmen. Die meisten Nazis waren sich darin einig, daß Polen hierfür am besten geeignet sei. Denn erstens einmal gab es dort bereits dreieinhalb Millionen Juden, und zweitens würde man dort, im Gegensatz zu Westeuropa, auf nur geringen oder gar keinen öffentlichen Widerstand stoßen. Generalgouverneur Frank war dagegen, daß noch mehr Juden in Polen abgeladen werden sollten. Er hatte versucht, die polnischen Juden verhungern zu lassen, und er hatte so viele von ihnen erschossen oder erhängt, wie er nur konnte. Doch Frank wurde von den Planungschefs in Berlin überstimmt.

  Die Deutschen überzogen Polen mit einem engmaschigen Netz, aus dem kein Jude entschlüpfen sollte. Einsatzgruppen drangen in Dörfer und kleinere Städte ein und trieben die jüdischen Bewohner zusammen. Sie wurden in Viehwaggons verladen und in die größeren Städte umgesiedelt, ohne daß sie von ihrer Habe etwas mitnehmen durften.

  Einige Juden, die rechtzeitig von den Razzien erfahren hatten, flüchteten oder versuchten, mit Hilfe von Geld und Wertgegenständen bei christlichen Familien unterzutauchen. Doch nur wenige Polen riskierten es, Juden bei sich zu verstecken. Andere preßten aus den Juden den letzten Pfennig heraus, um sie dann gegen die von den Deutschen ausgesetzte Belohnung auszuliefern.

  Sofort nach der Umsiedlung der Juden in die größeren Städte wurde eine Regierungsverordnung erlassen, die den Juden auferlegte, ein weißes Armband zu tragen, auf dem sich in genau vorgeschriebener Größe ein gelber Davidstern befinden mußte.

  Der Winter in Warschau war nicht leicht für die Landaus. Der Tod von Mendel Landau, die zunehmenden Gerüchte vom Wiederaufleben des Ghettos, das Aussiedlungsprogramm der Deutschen und die Verknappung der Lebensmittel, das alles machte das Leben sehr schwierig.

  Mitte Oktober 1940 klopfte es eines Morgens an der Wohnungstür. Draußen standen ein paar »Blaue« — polnische Polizisten, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten. Sie eröffneten Lea Landau, daß sie zwei Stunden Zeit habe, um ihre Sachen zu packen und umzuziehen. Die Landaus und alle Warschauer Juden wurden in ein Viertel im Zentrum der Stadt, in der Nähe der Eisenbahnstation, umgesiedelt.

  Es gelang Mundek und Jan, ein ganzes dreistöckiges Haus als Wohnung und Hauptquartier für mehr als hundert Mitglieder der Bauleute zu bekommen. Die fünf Mitglieder der Familie Landau hatten einen einzigen Raum zur Verfügung, der mit Matratzen und ein paar Stühlen möbliert war. Das Bad und die Küche teilten sie mit zehn anderen Familien.

  Die Juden wurden auf einem engen Raum zusammengedrängt, der sich, nur sechs Querstraßen breit und zwölf Querstraßen lang, von der Jerozolimska zum Friedhof erstreckte. Das Haus der Bauleute lag im Besenbinderviertel, auf der Leszno-Straße. Lea hatte etwas Schmuck und einige Wertgegenstände gerettet, die später vielleicht einmal nützlich werden konnten, wenn sie auch im Augenblick noch keine finanziellen Sorgen hatten, da Mundek weiterhin als Bäcker arbeitete. Außerdem brachten die Bauleute alles, was sie an Nahrungsmitteln auftreiben konnten, in die gemeinsame Küche, in der für alle gekocht wurde.

  Aus allen Provinzen strömten die Juden nach Warschau. Sie kamen in endlosen Reihen, mit Säcken, Karren oder Kinderwagen, die alles enthielten, was sie hatten mitnehmen dürfen. Sie entstiegen einem vollbeladenen Zug nach dem anderen, der auf einem Rangiergleis in der Nähe des Judenviertels hielt. Immer mehr Menschen drängten sich auf dem engen Raum. Jan und seine Familie zogen um in das Zimmer, in dem die Landaus wohnten. Es waren jetzt neun Menschen in einem Raum. Die heimliche Liebe zwischen Ruth und Jan wurde zum offenen Geheimnis.

  Die Deutschen veranlaßten die Juden, zur Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten eine Gemeindeverwaltung einzurichten. Dieser »Judenrat« war ein Werkzeug für den Vollzug deutscher Anordnungen. Es gab auch eine ganze Reihe von Juden, die meinten, es sei besser, gemeinsame Sache mit den Deutschen zu machen, und die daher einer von den Deutschen aufgestellten jüdischen Polizei beitraten. Die Zahl der Menschen, die zusammengedrängt auf dem engen Raum des jüdischen Viertels lebte, stieg auf mehr als eine halbe Million an.

  Gegen Ende des Jahres 1940, ein Jahr nach der Eroberung Polens, steckten die Deutschen viele Tausende von Juden in Arbeitsbataillone. Rund um das jüdische Viertel von Warsc
hau mußten sie eine drei Meter hohe Mauer bauen. Auf der Mauer wurde Stacheldraht gespannt. Die Mauer hatte fünfzehn Tore, die von polnischen »Blauen« und litauischen Posten bewacht wurden. Das Ghetto in Polen war wieder erstanden! Der Verkehr mit der Welt außerhalb des Ghettos hörte fast vollständig auf. Mundek, der bisher außerhalb des Ghettos gearbeitet hatte, wurde arbeitslos. Die Lebensmittelrationen innerhalb des Ghettos wurden sosehr gesenkt, daß kaum die Hälfte der Insassen davon leben konnte. Die einzigen Familien, bei denen eine gewisse Chance bestand, daß sie sich einigermaßen ernähren konnten, waren die, deren Mitglieder im Besitz von »Arbeitskarten« waren. Sie arbeiteten in irgendeinem der Zwangsarbeitsbataillone oder in Fabriken.

  Unter den Bewohnern des Ghettos brach eine Panik aus. Einzelne Juden gaben ihr ganzes Vermögen, um Nahrungsmittel dafür einzutauschen. Andere versuchten zu fliehen und sich in den Häusern von Christen zu verbergen; doch die meisten dieser Versuche endeten entweder mit dem Tod oder damit, daß die Juden von den Menschen außerhalb des Ghettos betrogen und verraten wurden. Innerhalb des Ghettos entwickelte sich das Leben mit jedem Tag mehr und mehr zu einem Kampf um die nackte Existenz.

  Die Zwangslage wies Mundek Landau eine Führerrolle zu. Durch seinen Einfluß bei den Bauleuten erhielt er vom »Judenrat« die Konzession zum Betrieb einer der wenigen Bäckereien des Ghettos. So konnte seine Gruppe einigermaßen verpflegt werden und am Leben bleiben.

  Doch auch im Ghetto gab es vereinzelte Lichtblicke. Ein sehr gutes Sinfonieorchester veranstaltete wöchentlich Konzerte, es gab Schulen mit regelmäßigem Stundenplan, kleine Theatergruppen bildeten sich. Es gab Vorträge und Diskussionen über alle möglichen Themen, eine Ghetto-Zeitung wurde gedruckt, und das Ghetto-Geld wurde legales Zahlungsmittel. Heimlich wurden Gottesdienste abgehalten. Es waren vorwiegend die Bauleute, die diese vielseitige Aktivität in Gang setzten. Der kleine Dov hätte am liebsten von früh bis spät bei den Bauleuten gesessen, doch die Familie drang darauf, daß er zur Schule ging und möglichst viel lernte.

 

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