Exodus
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Im Frühjahr 1941 beschloß Adolf Hitler, das jüdische Problem endgültig zu lösen. In einer Geheimsitzung am Großen Wannsee verkündete Heydrich den führenden Männern des SD, der SS und anderen Nazi-Größen den Geheimbefehl des Führers. Die Endlösung hieß: Ausrottung! Mit dieser Aufgabe wurde der Siedlungsexperte SS-Obersturmbannführer Eichmann betraut.
Innerhalb weniger Monate wurden aus den »Einsatzkommandos« — den Liquidationskommandos des SD — »Sondereinsatzgruppen« formiert und nach Polen, in das Baltikum und das besetzte russische Gebiet in Marsch gesetzt, um dort den Führerbefehl zu vollziehen und die Massenliquidierung zu organisieren. Zunächst gingen die Einsatzgruppen nach einem feststehenden Schema vor. Sie trieben die Juden zusammen und brachten sie in irgendein abgelegenes, unbeobachtetes Gebiet. Dort wurden die Juden gezwungen, ihr eigenes Grab zu graben, sich auszuziehen und nackt an ihrem Grab hinzuknien. Sie bekamen den Genickschuß.
Einen besonderen Höhepunkt erreichte die Aktivität der Einsatzgruppen in Kiew, vor allem in einem Vorort namens Babi Yar, wo innerhalb von zwei Tagen am Rande riesiger Massengräber dreiunddreißigtausend Juden erschossen wurden.
Daß die Einsatzgruppen so »erfolgreich« arbeiten konnten, lag zum Teil auch daran, daß sie auf keinerlei Widerstand seitens der Bevölkerung stießen, die annähernd ebenso judenfeindlich war wie die Deutschen. Das Massaker von Babi Yar fand vor den Augen zahlreicher Ukrainer statt, die laut ihre Zustimmung bekundeten. Doch es zeigte sich bald, daß die Methoden der Einsatzgruppen für den großen Plan der Ausrottung sämtlicher Juden unzureichend waren. Das Erschießen war umständlich und ging zu langsam. Außerdem taten die Juden den Nazis nicht den Gefallen, in ausreichenden Mengen zu verhungern.
Daher arbeiteten die Nazis einen grandiosen Plan aus. Er erforderte die sorgfältigste Auswahl unauffälliger, abgelegener Plätze mit Eisenbahnanschluß und in der Nähe größerer Orte. Hochqualifizierte Fachleute wurden beauftragt, Vernichtungslager zu entwerfen, die an geeigneten Punkten errichtet werden sollten, um die Massenliquidierungen mit möglichst geringen Unkosten durchzuführen. Aus dem Personal der schon seit langem bestehenden Konzentrationslager innerhalb von Deutschland wählte man die besten Leute aus, die die neu zu errichtenden Lager übernehmen sollten.
Es wurde Winter. Im Warschauer Ghetto hielt der Tod eine Ernte, die sogar die Zahl der Toten überstieg, die in den Gruben von Babi Yar lagen. Hunderte und Tausende von Menschen verhungerten oder erfroren. Es starben Kinder, die zu schwach waren, um zu weinen, und alte Menschen, die keine Kraft mehr hatten, um zu beten. Jede Nacht starben Hunderte; die Straßen waren morgens mit Toten besät. Sanitätskommandos zogen durch die Straßen und schaufelten die Leichen auf Karren. Säuglinge, Kinder, Frauen, Männer wurden aufgeladen und zu den Krematorien gefahren, wo man die Leichen verbrannte.
Dov war inzwischen elf Jahre alt. Als Mundeks Bäckerei geschlossen wurde, ging Dov nicht mehr in die Schule, sondern lungerte auf der Suche nach Nahrung herum. Selbst Gruppen wie die Bauleute, die fest zusammenhielten, waren in schwerer Bedrängnis. Dov lernte es, sich mit List und Schläue im Ghetto am Leben zu erhalten. Er hielt Augen und Ohren offen und entwickelte die scharfe Witterung und den Instinkt, mit der sich ein Tier im Kampf ums Dasein behauptet. Es gab viele Tage, an denen der Kochtopf der Familie Landau leer war. Wenn es keinem der Familie oder der Bauleute gelungen war, eine Mahlzeit zusammenzubekommen, trennte sich Lea von einem ihrer letzten Schmuckstücke, um es gegen Nahrung einzutauschen.
Es war ein langer, harter Winter. Einmal, als sie fünf Tage lang nichts zu essen gehabt hatten, gab es bei den Landaus endlich wieder eine Mahlzeit; doch Leas Hand war ohne Ehering. Dann ging es ihnen wieder besser, denn die Bauleute hatten ein Pferd organisiert. Es war ein alter, magerer Klepper, und der Genuß von Pferdefleisch war den Juden verboten; doch es schmeckte wunderbar.
Ruth war jetzt neunzehn. Als sie in diesem Winter Jan heiratete, war sie so mager, daß man sie eigentlich nicht hübsch nennen konnte. Sie verlebten ihre Flitterwochen in dem einen Zimmer, das sie mit den vier anderen Landaus und den drei Mitgliedern von Jans Familie teilten. Offenbar aber hatte das junge Paar es doch fertiggebracht, irgendwann und irgendwo allein zu sein, denn im Frühling erwartete Ruth ein Kind.
Als Führer der Bauleute war es eine der wichtigsten Aufgaben Mundeks, den Kontakt mit der Welt außerhalb des Ghettos aufrechtzuerhalten. Das konnte man machen, indem man die polnischen und die litauischen Posten an den Toren bestach. Mundek war jedoch der Ansicht, das Geld müsse für wichtigere Dinge gespart werden. Daher erkundete man die Möglichkeiten, »unter der Mauer hindurch« aus dem Ghetto hinaus und ins Ghetto hereinzukommen: durch die Abwasserkanäle.
Es war höchst gefährlich, die Stadt zu betreten. Es gab ganze Banden polnischer Strolche, die beständig nach Juden Ausschau hielten, die sich aus dem Ghetto herausgeschlichen hatten, um sie zu erpressen oder der Polizei zu übergeben und die dafür ausgesetzte Belohnung einzustreichen. Die Bauleute hatten auf diese Weise schon fünf ihrer Mitglieder verloren. Der letzte, der von polnischen Gangstern dem SD ausgeliefert und gehängt worden war, war Jan gewesen, Ruths Mann.
Der kleine Dov war schlau und kannte die Schliche, die man kennen mußte, um sich am Leben zu erhalten. Er ging zu seinem Bruder Mundek und bat ihn, man möge doch ihn mit der Aufgabe betreuen, als Kurier durch den Kanal zu gehen. Mundek wollte zunächst nichts davon hören, doch Dov ließ nicht locker. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen sah er von ihnen allen am wenigsten wie ein Jude aus. Er war noch so jung, daß man bei ihm kaum Verdacht schöpfen würde. Mundek wußte, daß Dov das Zeug dazu hatte, doch er brachte es nicht übers Herz, seinen kleinen Bruder einer solchen Gefahr auszusetzen. Als Mundek dann aber innerhalb weniger Tage auch noch den sechsten und siebenten Kurier einbüßte, beschloß er, es mit Dov zu versuchen. Mundek sagte sich außerdem, daß sie alle miteinander ohnehin Tag für Tag in Lebensgefahr waren. Lea verstand ihn. Dov erwies sich als der beste Kurier des ganzen Ghettos. Er erkundete ein Dutzend verschiedener Wege, um »unter der Mauer« in die Stadt und von der Stadt ins Ghetto zu gelangen. Er wurde heimisch in den unterirdischen Gängen und in dem schlammigen, stinkenden, fauligen Wasser, das unterhalb von Warschau floß. Jede Woche machte Dov den Weg durch die schwarze Nacht des Kanals und den schlammigen Dreck, der ihm bis an die Schultern ging. War er erst einmal »unter der Mauer« aus dem Ghetto heraus, so begab er sich auf die Zabrowska 99, wo eine Frau wohnte, von der er nur wußte, daß sie Wanda hieß. Nachdem er sich bei ihr sattgegessen hatte, machte er sich auf den Rückweg und stieg wieder hinunter in den Kanal, beladen mit Pistolen, Munition, Geld, Radioteilen, mit Nachrichten aus anderen Ghettos und von den Partisanen.
In der Zwischenzeit hielt sich Dov am liebsten im Hauptquartier der Bauleute auf, wo Mundek und Rebekka den größten Teil ihrer Zeit verbrachten. Rebekka war damit beschäftigt, Ausweise und Pässe zu fälschen. Dov sah ihr dabei zu und fing bald an, ihr bei der Arbeit zu helfen. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, daß Dov eine außerordentliche Begabung für Nachahmungen besaß. Er hatte scharfe Augen und eine sichere Hand, und im Alter von zwölf Jahren entwickelte er sich rasch zu dem besten Fälscher, den die Bauleute hatten.
Im Juni 1942 unternahmen die Deutschen einen entscheidenden Schritt zur »Endlösung« des jüdischen Problems. Sie errichteten mehrere Lager zur Liquidierung der jüdischen Bevölkerung. Um mit den Juden im Gebiet von Warschau fertigzuwerden, errichtete man an einer abgelegenen Stelle, einem Ort namens Treblinka, auf einem abgegrenzten Gelände von dreiunddreißig Morgen ein Lager, dessen zwei Hauptgebäude dreizehn Gaskammern enthielten. Außerdem gab es dort Unterkünfte für Arbeiter und das deutsche Lagerpersonal, und riesige Flächen, die für das Verbrennen der Leichen vorgesehen waren. Treblinka, eines der ersten dieser Lager, war nur ein Vorläufer späterer Lager größeren Umfangs.
Der Juli bringt einen Tag der Trauer für alle Juden. Vielleicht war an diesem Tag des Jahres 1942 die Trauer der Juden, die im Warschauer Ghetto oder einem anderen Ghetto in Polen lebten, noch tiefer als die Trauer der Juden in anderen Ländern. Es war Tischa Be'Aw, der
Tag, an dem die Juden der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier und die Römer gedenken. Es war ein Tag der Trauer, denn die Eroberung Jerusalems durch die Römer vor fast zweitausend Jahren hatte das Ende der jüdischen Nation bedeutet. Seitdem waren die Juden in alle vier Winde zerstreut. Seit jenem Tage lebten sie in der Diaspora.
1942 fiel Tischa Be'Aw zeitlich mit beschleunigten Maßnahmen zur »Endlösung« des jüdischen Problems zusammen.
Während die Warschauer Juden sowohl ihres damaligen als auch ihres gegenwärtigen Unglücks in Trauer gedachten, kamen deutsche Dienstwagen ins Ghetto gefahren und hielten vor dem Haus, in dem der »Judenrat« seinen Sitz hatte. Allem Anschein nach handelte es sich um eine weitere Razzia. Man wollte neue Leute in die Zwangsarbeitsbataillone stecken. Doch diesmal lag irgendein Unheil in der Luft. Die Deutschen wollten nur sehr alte und sehr junge Leute haben. Panik verbreitete sich im Ghetto, als die alten Leute zusammengetrieben wurden und die Deutschen sich Kinder herausgriffen, sie den ängstlichen Müttern entrissen.
Die Alten und die Kinder mußten sich auf dem »Umschlagplatz« in Reih und Glied aufstellen und wurden dann durch die Stawki-Straße zu dem Rangiergleis geführt, wo ein langer Güterwagenzug bereitstand. Eine erschrockene und bestürzte Menschenmenge drängte hinzu, verzweifelte Eltern wurden mit vorgehaltener Pistole von ihren Kindern ferngehalten, und mehrere wurden auch erschossen.
Die Kinder lachten und sangen. Die deutschen Wachtposten hatten ihnen einen Ausflug aufs Land versprochen. Das war eine herrliche Sache! Viele von den Kindern konnten sich kaum noch erinnern, jemals außerhalb des Ghettos gewesen zu sein.
Der Zug setzte sich in Richtung auf Treblinka in Bewegung. Das Ziel der Reise war die »Endlösung«. Tischa Be'Aw — 23. Juli 1942. Zwei Wochen später kam Dov Landau von Wandas Wohnung auf der Zabrowska 99 mit einem grauenhaften Bericht zurück. Er besagte, daß alle, die man am Tischa Be'Aw und bei fünf darauffolgenden Razzien zusammengetrieben hatte, nach Treblinka gebracht und dort in Gaskammern getötet worden waren. Nach Mitteilungen aus anderen Ghettos gab es in Polen mehrere derartige Lager: Belzec, im Gebiet von Krakau, Chelmno bei Lodz, und Majdanek, in der Nähe von Lublin, waren bereits in Betrieb oder kurz vor der Fertigstellung. Allem Anschein nach, so hieß es in dem Bericht, seien ein Dutzend weiterer Lager dieser Art im Bau.
Massenmord in Gaskammern? Es schien unfaßbar! Mundek, als Oberhaupt der Bauleute, traf sich mit den Führern eines halben Dutzend anderer zionistischer Gruppen innerhalb des Ghettos, und sie erließen gemeinsam einen Aufruf an alle, sich zu erheben und aus dem Ghetto auszubrechen.
Dieser Appell hatte mehr moralische als praktische Bedeutung. Die Juden hatten keine Waffen. Hinzu kam, daß jeder, der einen Ausweis als Zwangsarbeiter hatte, fest davon überzeugt war, dieser Ausweis stelle für ihn eine Lebensversicherung dar.
Doch der entscheidende Grund dafür, daß die Juden keinen Aufstand machen konnten, war die Tatsache, daß in Polen für einen solchen Aufstand keine Unterstützung von außerhalb des Ghettos zu erwarten war. In Frankreich hatte die Vichy-Regierung das Ansinnen der Deutschen auf Auslieferung der französischen Juden glatt abgelehnt. In Holland war die Bevölkerung einmütig entschlossen, die dort lebenden Juden versteckt zu halten. In Dänemark setzte sich nicht nur der König über die Anordnungen der Deutschen hinweg, sondern die Dänen brachten ihre gesamte jüdische Bevölkerung nach Schweden in Sicherheit.
Wenn die Polen vielleicht auch nicht unbedingt für die Ausrottung ihrer Juden waren, so waren sie jedenfalls nicht dagegen. Und soweit manche vielleicht dagegen waren, unternahmen sie nichts, um dieser Ablehnung Ausdruck zu verleihen. Nur eine sehr kleine Minorität des polnischen Volkes war bereit, einen Juden, der unterzutauchen versuchte, aufzunehmen und zu verbergen.
Im Innern des Ghettos verfolgte jede der verschiedenen Gruppen und Organisationen völlig verschiedene Ziele. Die strenggläubigen Juden waren mit den sozialistischen Juden nicht einig, und die konservativen stritten mit den linksradikalen.
Die Juden lieben das Debattieren; in der Eintönigkeit des Ghettos war Argumentieren und Debattieren ein wunderbarer Zeitvertreib geworden. Doch jetzt war höchste Gefahr entstanden. Die von Mundek geführten Bauleute vereinigten die unterschiedlichen Gruppen unter einem gemeinsamen Kommando, das sich abgekürzt als ZOB bezeichnete und die Aufgabe hatte, das Leben derjenigen Juden zu retten, die im Ghetto noch am Leben waren.
Immer wieder machte Dov den Weg durch die Kanäle zu Wandas Wohnung auf der Zabrowska 99. Dabei nahm er jedesmal ein Schreiben des ZOB an die polnische Widerstandsbewegung mit, worin diese um Unterstützung und um Waffen gebeten wurde. Die meisten dieser Appelle blieben unbeantwortet. In den wenigen Fällen, in denen eine Antwort kam, war sie ausweichend. Diesen ganzen schrecklichen Sommer hindurch, während die Deutschen immer wieder Juden zusammentrieben und nach Treblinka abtransportierten, machte der ZOB verzweifelte Anstrengungen, die völlige Vernichtung zu verhindern.
Als Dov Anfang September wieder einmal den Weg nach Warschau machte, wurde es für ihn außerordentlich gefährlich. Als er aus dem Haus, in dem Wanda wohnte, wieder herauskam, verfolgten ihn vier finstere Burschen, die ihn in einer Sackgasse stellten und von ihm verlangten, er solle seinen Ausweis zeigen, um zu beweisen, daß er kein Jude sei. Der Junge stand mit dem Rücken gegen die Wand. Seine Peiniger drangen auf ihn ein, um ihm die Hosen herunterzuziehen und nachzusehen, ob er beschnitten sei. Da zog Dov eine Pistole heraus, die man ihm für das Ghetto mitgegeben hatte, erschoß damit den einen der Angreifer und trieb die andern drei in die Flucht. Dann rannte er los, so rasch er konnte, bis er wieder unter der Erde und in der Sicherheit des Kanals war.
Als er schließlich im Hauptquartier der Bauleute angelangt war, brach er zusammen. Mundek versuchte, ihn zu beruhigen. Dov fühlte sich immer in Sicherheit, wenn sein großer Bruder bei ihm war. Mundek war inzwischen schon fast einundzwanzig, doch er war hager und sah immer müde aus. Er hatte seine Aufgabe als Führer ernst genommen und seine Kräfte rücksichtslos eingesetzt. Es war ihm gelungen, fast die ganze Bauleute-Gruppe beisammenzuhalten; er hatte dafür gesorgt, daß ihr Mut nie erlahmte.
Die beiden Brüder redeten leise miteinander. Dov wurde allmählich wieder ruhig. Mundek legte ihm den Arm um die Schulter, und gemeinsam gingen sie vom Hauptquartier zu dem Zimmer, in dem die Familie wohnte. Unterwegs sprach Mundek von dem Baby, das Ruth in wenigen Wochen erwartete, und wie wunderbar es für Dov sein würde, Onkel zu werden. Natürlich wären alle Mitglieder der Bauleute Tanten und Onkel von dem Baby, aber Dov werde ein richtiger Onkel sein. Innerhalb der Gruppe hatte es mehrere Eheschließungen gegeben, und es gab bereits drei Babys — drei neue Bauleute. Aber Ruths Baby werde das prächtigste von allen sein. Außerdem berichtete Mundek als große Neuigkeit, daß es den Bauleuten wieder gelungen war, ein Pferd zu organisieren, und es bald ein richtiges Festmahl geben werde. Allmählich hörte Dov zu zittern auf. Als sie sich dem Ende der Treppe näherten, sah Dov seinen Bruder Mundek lächelnd an und sagte ihm, er habe ihn sehr lieb.
Als sie aber die Tür zu ihrem Zimmer öffneten und das Gesicht von Rebekka sahen, begriffen sie augenblicklich, daß Schreckliches geschehen sein mußte. Mundek gelang es schließlich, seine Schwester dazu zu bringen, einigermaßen zusammenhängend zu berichten.
»Mutter und Ruth«, rief sie weinend. »Man hat sie aus der Fabrik herausgeholt. Ihre Arbeitskarten wurden ungültig gemacht, und man hat sie zum Umschlagplatz geschafft.«
Dov fuhr herum und wollte zur Tür. Mundek hielt ihn fest. Dov schrie und stieß mit den Füßen um sich.
»Dov — Dov! Wir können doch nichts dagegen tun!«
»Mama! Ich will zu Mama!«
»Dov! Dov! Wir können doch nicht zusehen, wie man sie wegbringt!«
Ruth, die im achten Monat war, machte den Gaskammern von Treblinka einen Strich durch die Rechnung. Sie starb bei der Geburt, und ihr Baby starb mit ihr, in einem Viehwagen, in den so viele Menschen gepreßt waren, daß es der Gebärenden nicht möglich war, sich hinzulegen.
Der Kommandant von Treblinka tobte vor Wut. Wieder einmal hatte es bei den Gaskammern ei
ne technische Störung gegeben, und dabei war bereits ein neuer Güterzug mit Juden aus dem Warschauer Ghetto im Anrollen. Der Kommandierende SS-Brigadeführer war stolz darauf gewesen, daß Treblinka bisher gegenüber allen anderen Vernichtungslagern in Polen den Rekord gehalten hatte. Und jetzt meldeten ihm seine Techniker, daß es unmöglich war, die Anlage bis zur Ankunft des Zuges aus Warschau wieder betriebsfähig zu machen. Und was die Sache noch schlimmer machte: Himmler persönlich hatte sich zu einer Besichtigung angesagt.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als sämtliche altmodischen, ausrangierten Gaswagen, die er in der Gegend auftreiben konnte, zu dem Nebengleis zu schicken, wo der Zug ankommen sollte. Normalerweise gingen in diese Gaswagen jeweils nur zwanzig Leute, doch das würde diesmal nicht reichen. Schließlich herrschte ja Notstand. Wenn man die Opfer aber zwang, die Hände über den Köpfen zu halten, gingen in jeden Wagen sechs bis acht Juden mehr hinein. Außerdem blieb dann zwischen den Köpfen und der Decke noch ein schmaler Zwischenraum, in dem man zusätzlich acht bis zehn Kinder unterbringen konnte.
Lea Landau war betäubt vom Schmerz um Ruths Tod, als der Zug in der Nähe von Treblinka hielt. Sie und dreißig andere wurden aus dem Viehwagen herausgeholt und von Wachmannschaften, die mit Peitschen und Knüppeln ausgerüstet waren und Hunde bei sich hatten, gezwungen, in einen der wartenden Gaswagen zu steigen und die Hände über die Köpfe zu halten. Als der Wagen so vollgestopft war, daß nichts mehr hineinging, wurden die eisernen Türen geschlossen. Der Wagen fuhr los, und innerhalb von Sekunden füllte sich der eiserne Käfig mit Kohlenstoffmonoxyd. Von den Insassen war keiner mehr am Leben, als die Wagen das Lager Treblinka erreichten und vor den Massengräbern hielten, wo die Leichen ausgeladen und den Toten die Goldzähne gezogen wurden. Um diesen Gewinn jedoch hatte Lea Landau die Deutschen betrogen; denn sie hatte sich ihre Goldzähne schon längst ziehen lassen, um Nahrungsmittel dafür einzutauschen.