by Leon Uris
Er machte sich zunächst allein auf den Weg, und es gelang ihm wirklich in die Stadt zu kommen. Doch als er sich dem Haus Zabrowska 99 näherte, sagte ihm sein Instinkt, daß dort irgend etwas nicht stimmte. Ohne stehenzubleiben ging er an dem Haus vorbei. Seine scharfen Augen entdeckten ein Dutzend Leute, die von verschiedenen Beobachtungsposten aus das Haus Zabrowska 99 überwachten. Dov wußte nicht, ob Wanda von der Gestapo gefaßt worden war oder nicht, aber er wußte jedenfalls, daß das Haus nicht mehr sicher war.
Spät am Abend kam er ins Ghetto zurück. Es war selbst für ihn nicht leicht, den Bunker zu finden, denn es gab keine Straßen, keine Häuser mehr, nur noch Trümmer. Als er näher kam, roch er den vertrauten Geruch verbrannten Fleisches. Er stieg hinunter und zündete die Kerze einer kleinen Lampe an, die er immer bei seinen Gängen durch den Kanal benutzte. Bei ihrem flackernden Licht ging Dov von einem Ende des Bunkers zum anderen, kniete sich bei jedem, der am Boden lag, hin und leuchtete ihm mit seiner Kerze ins Gesicht. Die noch rauchenden Toten waren durch Flammenwerferstöße aus nächster Nähe bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt. Dov Landau wußte nicht, welche der verkohlten Leichen die seines geliebten Bruders Mundek war.
Am 15. Mai 1943 brachte der Sender des ZOB seinen letzten Aufruf: »Hier spricht das Warschauer Ghetto! Wir bitten euch, helft uns!«
Am nächsten Tag, nachdem bereits sechs volle Wochen seit dem ersten deutschen Angriff vergangen waren, ließ SS-General Stroop die große Synagoge in der Tlamatzka sprengen, die seit vielen Jahrzehnten ein Symbol des Judentums in Polen gewesen war. Am gleichen Tag verkündeten die Deutschen, das Problem des Warschauer Ghettos sei nunmehr endgültig gelöst. Stroop meldete seiner vorgesetzten Dienststelle die Eroberung von sechzehn Pistolen und vier Gewehren. Außerdem teilte er mit, daß die Trümmer der Gebäude brauchbares Baumaterial ergäben. Gefangene seien nicht gemacht worden.
Selbst nach dieser mit so außerordentlicher Gründlichkeit vollzogenen Vernichtung gab es noch einzelne Kämpfer des ZOB, die sich weigerten, zu sterben. Auch in den Trümmern ging der Kampf weiter. Die Juden, die auf irgendwelche Weise mit dem Leben davongekommen waren, fanden einander, bildeten zu zweien und dreien kleine »Rudel« und überfielen bei Nacht deutsche Patrouillen. Die SS-Leute und die polnischen Blauen glaubten steif und fest, im Ghetto gingen Gespenster um.
Dov fand sechs andere Juden. Sie gingen von Bunker zu Bunker, bis alle bewaffnet waren. Sie zogen hierhin und dorthin, doch der Anblick und der Gestank des Todes war überall. Bei Nacht führte Dov sie durch den Kanal in die Stadt, wo sie rasche Überfälle auf Lebensmittelgeschäfte unternahmen.
Den ganzen Tag über blieben Dov und die sechs anderen unter der Erde, in einem frisch ausgehobenen Bunker. Fünf schreckliche Monate lang erblickten weder Dov Landau noch einer seiner Kameraden jemals das Licht des Tages. Sie starben einer nach dem anderen — drei bei einem Überfall in Warschau, zwei begingen Selbstmord, und einer verhungerte.
Schließlich war nur noch Dov allein am Leben. Gegen Ende des fünften Monates wurde er von einer deutschen Patrouille gefunden. Er war dem Tode nahe und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Man schleppte ihn zur Gestapo, um ihn zu vernehmen.
Jede Vernehmung endete damit, daß Dov Landau geschlagen wurde. Man glaubte ihm einfach nicht, daß er ohne jede Hilfe von außen so lange in den Trümmern des Warschauer Ghettos am Leben geblieben sei.
XXIV.
Dov Landau, dreizehn Jahre alt, Ghettoratte, Kanalratte, Trümmerratte und Spezialist für Fälschungen, wurde einem Aussiedlungstransport zugeteilt. Zusammen mit sechzig anderen Juden wurde er in einen offenen Güterwagen verfrachtet. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte durch die einsame Landschaft und die eisige Kälte nach Süden — Richtung Auschwitz!
BERLIN 1940
SS-Brigadeführer Höß erschien im Dienstzimmer des SS-Obersturmbannführers Eichmann, dem man die Aufgabe übertragen hatte, die »Endlösung« des jüdischen Problems zu vollziehen. Eichmann zeigte Höß den Plan, die Gemeinschaftsarbeit aller NaziGrößen. Höß war von dem ausgeklügelten Plan des Massenmordes sehr beeindruckt.
Der ganze europäische Kontinent war mit Konzentrationslagern und Gefängnissen für politische Häftlinge wie mit einem feinmaschigen Geflecht überzogen. In jedem besetzten Land befanden sich Gestapo-Dienststellen. Ein weiteres Netz von dreihundert Nebenlagern umspannte Europa. Die Hälfte davon war für Juden reserviert.
Trotz aller Konzentrationslager und ihrer sorgfältig ausgewählten Lage wußten die Nazis, daß außerordentliche Schwierigkeiten entstehen würden, falls sie versuchten, in Westeuropa Vernichtungslager einzurichten. Man hatte Höß nach Berlin gerufen, weil Polen sowohl in bezug auf die Balkanländer als auch in bezug auf Westeuropa verkehrstechnisch am günstigsten gelegen war. Ein solches Lager, das als Modell dienen konnte, brauchte ein ausgedehntes Gelände. Schließlich gab es außer den Juden, deren man sich entledigen wollte, auch noch Russen, Franzosen, verschiedene Kategorien von Kriegsgefangenen, Partisanen, politische Gegner in den besetzten Ländern, strenggläubige Katholiken, Zigeuner, Freimaurer, Marxisten, Bolschewiken, gemeine Verbrecher, und nicht zuletzt Deutsche, die sich für den Frieden einsetzten, für Liberalismus, Gewerkschaften, oder solche, die ganz schlicht Defätisten waren. Es gab Personen, die verdächtig waren, feindliche Agenten zu sein, Prostituierte, Homosexuelle und manche anderen »unerwünschten Elemente«. Sie alle sollten ausgerottet werden, um Europa für die »arische Rasse« zu säubern. Ein solches Lager, wie es Eichmann vor Augen hatte, würde alle diese Leute aufnehmen können. Eichmann teilte Höß mit, daß man ihm in Anerkennung seiner langjährigen treuen Dienste die Leitung dieses neu zu errichtenden Lagers übergeben wolle. Er ging an die Karte und zeigte mit dem Finger auf eine kleine polnische Stadt in der Nähe der tschechischen Grenze. Eine Stadt namens Auschwitz. Der Zug, der mit Dov Landau nach Auschwitz unterwegs war, hielt bei dem Eisenbahnknotenpunkt Krakau auf einem Rangiergleis. Eine ganze Reihe weiterer Wagen wurde angehängt. Viehwagen mit Juden aus Frankreich und Griechenland, Kohlenwagen mit Juden aus Jugoslawien und Holland, geschlossene Güterwagen mit Juden aus der Tschechoslowakei, und offene Güterwagen mit Juden aus Italien, alle zur Aussiedlung bestimmt. Es war bitter kalt. Dov, der auf einem offenen Güterwagen stand, besaß keinerlei Schutz gegen den eisigen Wind und den treibenden Schnee als sein zerfetztes Hemd und das bißchen Körperwärme der eng zusammengepferchten Menschen.
Als die Nazis Höß dazu auswählten, Kommandant des Lagers Auschwitz zu werden, der größten Todesfabrik und Vernichtungszentrale, schätzten sie den Mann, dem sie diese Aufgabe übertrugen, richtig ein. Höß konnte auf eine lange Erfahrung im System der Konzentrationslager zurückblicken, bis zum Jahre 1934, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Zuletzt war er stellvertretender Kommandant des Lagers Sachsenhausen gewesen. Höß war ein Pedant, systematisch; Befehle führte er aus, ohne sie jemals als bedenklich zu empfinden, und auch die härteste Arbeit hatte ihn nie gestört.
Im Gebiet von Auschwitz wurden auf einem Gelände von zwanzigtausend Morgen alle Gehöfte abgerissen und das Ganze mit einem hohen Stacheldrahtzaun abgegrenzt. Ein Stab ausgesuchter Konstrukteure, Techniker, Transportfachleute und Elitetruppen der SS machten sich ans Werk, um das riesige Projekt zu verwirklichen. Drei Kilometer vom Hauptlager Auschwitz entfernt, wurde ein gesondertes Lager errichtet, Birkenau, das zur Aufnahme der Gaskammern bestimmt war. Birkenau war ein abgelegener Ort mit eigenem Gleisanschluß. Man hatte diese Stelle gewählt, weil sie vom westlichen, östlichen und südlichen Europa aus mit der Eisenbahn gut zu erreichen war. Auschwitz war eine kleine Stadt ohne jede Bedeutung. Bei der Errichtung dieser Konzentrationslager hatten die Nazis allerdings wesentliche Einwände ihrer eigenen Wehrmacht zu überwinden.
Die deutsche Wehrmacht brauchte alle Eisenbahnen und alles rollende Material für den Krieg an der Ostfront. Das Oberkommando sah es als Unsinn an, wertvollen Frachtraum dafür zu mißbrauchen, um Juden durch ganz Europa zu transportieren. Doch die Nazis blieben hartnäckig bei ihrer Meinung, daß die Endlösung der Judenfrage ebenso wichtig war wie die Kriegführung.
Die Gegensätze prallten so hart aufeinander, daß Hitler persönlich entscheiden mußte. Und Hitler entschied zugunsten von SS, SD, Gestapo und der übrigen Nazi-Größen gegen seine Generalität.
Höß übernahm die Leitung des neuen Lagers bei Auschwitz und fuhr nach Treblinka, um die dortigen Ausrottungsmethoden zu studieren. Er stellte fest, daß der Leiter des Lagers Treblinka, SS Brigadeführer Wirth, ein dilettantischer Anfänger war. Die Vergasungen in Treblinka wurden mit Kohlenmonoxyd durchgeführt, dessen Wirkungsgrad unzureichend war; die technische Anlage versagte häufig und verbrauchte außerdem wertvolles Benzin. Wirth arbeitete außerdem nicht systematisch und ohne die geringste Tarnung, so daß es immer wieder zu Meutereien der Juden kam. Und schließlich fand Höß es kümmerlich, daß in Treblinka nur dreihundert Leute auf einmal vergast werden konnten. Als die Gaskammern von Birkenau bei Auschwitz in Betrieb genommen wurden, führte Höß mit den ersten Ankömmlingen umfangreiche Versuchsreihen durch. Er und sein technischwissenschaftlicher Stab kamen zu dem Schluß, daß Zyklon B, ein Blausäuregas, das brauchbarste Material für ihre Zwecke war.
Die Gaskammern von Birkenau waren so konstruiert, daß jeweils dreitausend Leute hineingingen, und bei voller Ausnützung der Kapazität konnten hier, je nach den Wetterverhältnissen, bis zu zehntausend Menschen pro Tag vergast werden.
Der Zug, in dem sich Dov Landau befand, bestand inzwischen aus fast fünfzig Wagen. Er hielt bei Chrzanow, der letzten Station vor Auschwitz. Von den Insassen war bereits jeder fünfte tot. Hunderte waren an den Seiten der Güterwagen festgefroren und konnten sich nicht bewegen, ohne sich die Haut von den Armen oder Beinen herunterzureißen. Viele Frauen warfen ihre Kinder aus den Wagen heraus und flehten die neugierig zusehenden Bauern an, sie möchten sie zu sich nehmen und verbergen. Die Toten wurden aus den Wagen geholt und in sechs neuen Wagen gestapelt, die am Ende des Zuges angehängt wurden. Dov befand sich in sehr schlechter körperlicher Verfassung, doch er war wach und auf der Hut. Er wußte genau, was ihm bevorstand, und er war sich klar darüber, daß es jetzt mehr als je zuvor darauf ankam, schlau zu sein und richtig zu reagieren. Der Zug rollte weiter. Es war noch eine Stunde bis Auschwitz.
Höß war eifrig bemüht, die Arbeit in Birkenau zu perfektionieren. Zunächst entwickelte er ein System der Tarnung und Täuschung, damit die Opfer bis zum letzten Augenblick nichts ahnten und ruhig blieben. Die Gebäude, die die Gaskammern enthielten, wurden mit schönen Anlagen umgeben, mit Blumenbeeten, Ziersträuchern und Rasenflächen. Überall standen Tafeln, auf denen in vielen Sprachen geschrieben stand: SANITÄTSBLOCK. Die Täuschung bestand im wesentlichen darin, daß man den Opfern sagte, sie kämen zu einer ärztlichen Untersuchung und sollten entlaust und geduscht werden, bevor man sie neu einkleiden und in eins der Arbeitslager in oder bei Auschwitz bringen würde.
Rings um die Gaskammern waren saubere Umkleideräume mit numerierten Haken zum Aufhängen der Kleidung. Allen wurde eingeschärft, sich seine Nummer zu merken. Die Haare wurden für die »Entlausung« geschnitten, und die Opfer wurden aufgefordert, vor Betreten des »Duschraums« die Brillen abzulegen. Dann bekam jeder ein Stück Seife mit einer Nummer. Jeweils dreitausend Menschen wurden nackt durch lange Korridore geführt. Rechts und links waren große Türen. Die Türen öffneten sich, und dahinter wurden riesige »Duschräume« sichtbar.
Von den Opfern waren die meisten viel zu betäubt, um wirklich zu begreifen, was mit ihnen geschah. Sie begaben sich widerstandslos in die Duschräume. Manche aber untersuchten die Seife, die man ihnen gegeben hatte, und stellten fest, daß es ein Stück Stein war. Anderen fiel auf, daß die Brausen an der Decke Attrappen waren und die Duschräume keinen Wasserabfluß hatten.
Oft entstand im letzten Augenblick eine Panik, doch an Stelle der Sanitäter erschienen jetzt SS-Leute, die jeden, der zögerte, mit Knüppeln und Knuten in die »Duschräume« hineintrieben.
Die eisernen Türen wurden hermetisch geschlossen, aus einer Öffnung an der Decke strömte Blausäuregas, und in zehn oder fünfzehn Minuten, je nach der Menge des Gases, war alles vorbei.
Dann kamen die Sonderkommandos. Sie bestanden aus Insassen des Lagers Auschwitz und hatten die Aufgabe, die Leichen aus den Gaskammern herauszuholen und zu den Verbrennungsöfen zu bringen. Vor der Verbrennung wurden Ringe und Goldzähne entfernt. Sie wurden eingeschmolzen. Das Gold wurde nach Berlin geschickt.
Um Familienbilder oder Liebesbriefe, die man in den abgelegten Kleidern fand, kümmerte sich keiner. Die SS-Leute durchsuchten lieber das Futter, in dem häufig Schmuck versteckt war. Oft fand man auch einen Säugling, den die Mutter in den Kleidern versteckt hatte; er wanderte dann mit zur nächsten »Dusche«.
Zu seinen SS-Männern war Höß wie ein Vater. Bei jedem Transport, der nach Birkenau kam, hatten sie zwar hart zu schuften. Dafür aber gab es dann Sonderrationen, und vor allem Schnaps. Sein System funktionierte reibungslos; nichts vermochte ihn zu irritieren. Er war nicht einmal aus der Fassung gebracht, als Eichmann eine Viertelmillion Juden aus Ungarn praktisch ohne jede Vorbereitung bei ihm ablud.
Das größte Problem in Birkenau war die Beseitigung der Leichen. Anfangs wurden sie direkt von den Gaskammern in offene Massengräber gebracht und mit Kalk überschüttet. Doch der Gestank wurde bald unerträglich. Die SS-Leute zwangen die jüdischen Sonderkommandos, alle Leichen wieder herauszuholen. Sie wurden verbrannt und die Knochen anschließend zerkleinert. Doch auch das Verbrennen im Freien ergab einen zu üblen Gestank. Daher ging man zum Bau geschlossener Verbrennungsöfen über.
Höß forderte von seinen Wissenschaftlern und Technikern eine noch größere Vergasungskapazität und weitere Senkung der Kosten. Seine Ingenieure entwarfen daraufhin ausgedehnte Erweiterungspläne, die sorgfältig kalkuliert waren. Einer dieser Pläne sah die Konstruktion einer hydraulisch nach oben und unten bewegbaren Gaskammer vor, ähnlich einem Fahrstuhl, die ihren Inhalt im nächsten Stockwerk abladen sollte, das als Krematorium gedacht war. Weitere Entwürfe befaßten sich damit, die Kapazität von Birkenau auf vierzigtausend Vergasungen pro Tag zu steigern. Der Zug, in dem sich Dov Landau befand, fuhr durch Auschwitz hindurch und hielt auf dem Abstellgleis von Birkenau.
XXV.
Dov war halb verhungert und blau vor Kälte. Doch die Jahre des beständigen Umgangs mit der Gefahr und dem Tod hatten seinen Instinkt so geschärft, daß er selbst in diesem Zustand hellwach und auf der Hut war. Er wußte, die nächste Stunde würde über Leben und Tod entscheiden.
Die Türen der Viehwagen wurden aufgerissen, und alle, die wie er auf offenem Güterwagen standen, wurden mit rauhen Kommandos angewiesen, herunterzuspringen. Mühsam kletterten die armen Opfer aus dem Wagen heraus. Auf einem langen Bahnsteig sahen sie sich einer Kette von SS-Leuten gegenüber, die mit Knüppeln, Peitschen und Pistolen und mit Hunden, die bösartig knurrend an ihren Leinen zerrten, bereitstanden. Die Peitschen pfiffen durch die kalte Luft, und wo sie trafen, schrien Menschen vor Schmerz auf. Gummiknüppel schlugen mit dumpfem Knall auf Köpfe, und Pistolenschüsse streckten diejenigen nieder, die zu schwach zum Gehen waren.
Die Opfer mußten in Viererreihen antreten, und die endlose Menschenschlange bewegte sich langsam und gleichmäßig auf ein großes Gebäude am Ende des Bahnsteiges zu.
Dov sah sich um. Links standen die Züge. Hinter den Zügen sah er auf der Straße vor dem Bahnhof eine Reihe wartender Lastwagen stehen. Es waren keine geschlossenen Wagen, konnten daher, so folgerte Dov, keine Gaswagen sein. Rechts, hinter der Sperrkette der Wachmannschaften sah Dov die gepflegten Grünanlagen und die Bäume, die die Ziegelbauten von Birkenau umgaben. Er musterte die Form der Gebäude mit ihren hohen Schornsteinen und ihm war klar, daß sich dort rechts Gaskammern und Verbrennungsöfen befinden mußten.
Dov wurde übel vor Angst. Er glaubte, sich erbrechen zu müssen. Doch er unterdrückte es und bemühte sich krampfhaft, Haltung zu bewahren.
Die Viererreihe, in der sich Dov befand, war am Ende des Bahnsteigs angelangt und betrat den Raum. Sie teilte sich in vier Einzelreihen, und jede Reihe bewegte sich auf einen Tisch zu, der am Ende des Raumes stand. An jedem dieser Tische saß ein SS-Arzt, und hinter jedem dieser �
�rzte stand ein Dutzend SS-Leute. Dov konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Tisch vor sich und versuchte, dahinterzukommen, was hier vorging. Der Arzt musterte jeden, der bei seinem Tisch ankam, mit einem flüchtigen Blick und schickte ihn dann in eine von drei Richtungen.
Der erste dieser drei Wege führte durch eine Tür rechts. Dov begann zu zählen: auf je zehn Menschen kamen sieben, die durch diese Tür rechts geschickt wurden. Das waren alte Leute, Kinder oder Kranke. Da Dov vermutete, daß die Gebäude auf der rechten Seite die Gaskammern enthielten, folgerte er, daß diejenigen, die durch die rechte Tür geschickt wurden, sofort vergast werden sollten.
Der zweite Weg führte durch eine Tür links. Durch diese Tür ging es nach draußen auf die Straße, wo die Wagenkolonnen warteten. Auf jeweils zehn kamen etwa zwei, die dort hinausgeschickt wurden, und das waren alles Leute, die noch einigermaßen bei Kräften zu sein schienen. Dov schloß daraus, daß diese Leute in ein Arbeitslager kamen.
Die Tür rechts bedeutete also Tod, die Tür links das Leben! Es gab auch noch eine dritte Gruppe. Diese Leute, auf jeweils zehn oder auch zwanzig kam höchstens einer, waren meistens schöne junge Frauen und Mädchen. Auch einige hübsche Jungens, so um die fünfzehn, wurden dieser Gruppe zugeteilt.
Dov holte ein paarmal tief Luft, während die Reihe, in der er stand, sich langsam vorwärtsbewegte. Er war nur noch Haut und Knochen, und es war ihm klar, daß er kaum Aussicht hatte, durch den Ausgang links in ein Arbeitslager geschickt zu werden.
Der Arzt besah sich ein Opfer nach dem anderen und wiederholte monoton: »Rechts — rechts — rechts — rechts.«