Exodus
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Ari sah Hank Schlosberg an, den amerikanischen Käpt'n. Hank zog die Schultern hoch. »Du bist der Boß, Ari, aber die Crew wird langsam nervös. Davon stand nichts in ihrem Heuervertrag.«
»Mit anderen Worten«, sagte Ari, »ihr wollt klein beigeben?«
Ihr Schweigen bestätigte seine Vermutung.
»Und was ist mit dir, David? Du hast dich noch nicht geäußert.« »Sechs Millionen Juden sind in Gaskammern gestorben, ohne zu wissen, warum oder wofür sie starben«, sagte David. »Wenn jetzt dreihundert von uns auf der Exodus sterben, dann wissen wir sehr genau, warum und wofür. Und die Welt wird es auch wissen. Als wir vor zweitausend Jahren eine Nation waren und uns gegen die Herrschaft der Römer und der Griechen empörten, da begründeten wir Juden die Tradition, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Wir taten es bei Arbela und in Jerusalem. Wir kämpften nach dieser Devise bei Bejtar, bei Herodium und Nachaeros. In Massada haben wir vier Jahre lang der Belagerung durch die Römer standgehalten, und als die Römer in die Festung eindrangen, war keiner von uns mehr am Leben. Nirgends und niemals hat irgendein Volk für seine Freiheit so gekämpft, wie unser Volk es getan hat. Wir haben die Römer und die Griechen aus unserem Lande vertrieben, bis wir schließlich in alle vier Winde zerstreut wurden. Wir haben seit zweitausend Jahren nicht viel Gelegenheit gehabt, als Nation zu kämpfen. Und als wir eine solche Möglichkeit im Ghetto von Warschau hatten, da haben wir getreu unserer Tradition bis zum letzten Mann gekämpft. Wenn wir jetzt von Bord gehen und freiwillig hinter den Stacheldraht zurückkehren, dann haben wir Gott die Treue gebrochen.«
»Noch irgendwelche Fragen?« sagte Ari.
HUNGERSTREIK: 42 STUNDEN
In den Vereinigten Staaten, in Südafrika und in England vereinigten sich die Juden in den Synagogen in Massen zum Gebet, und auch in vielen christlichen Kirchen betete man für die Kinder an Bord der Exodus.
HUNGERSTREIK: 45 STUNDEN
In Argentinien begannen die Juden zu fasten, um ihre Sympathie für die Kinder an Bord der Exodus zu bekunden.
HUNGERSTREIK: 47 STUNDEN
Es wurde bereits dunkel, als Kitty an Bord kam. Der Gestank war atemberaubend. Überall an Deck lagen die Kinder in drangvoller Enge, und alle lagen lang ausgestreckt und völlig bewegungslos, um Kräfte zu sparen.
»Ich möchte mir die Kinder ansehen, die bewußtlos geworden sind«, sagte sie.
David führte sie zum Vorderdeck, wo sechzig bewußtlose Kinder in drei Reihen nebeneinander lagen. David leuchtete mit seiner Laterne, während Kitty von einem Kind zum nächsten ging, den Puls fühlte und die Pupillen prüfte. Ein halbdutzendmal meinte sie, ohnmächtig zu werden, wenn sie den Körper eines Kindes herumdrehte, das Ähnlichkeit mit Karen hatte.
David führte sie auf dem Deck herum, wo die Kinder eng nebeneinander lagen. Sie starrten Kitty aus glanzlosen Augen an. Ihre Haare waren verfilzt und ihre Gesichter von einer Dreckkruste überzogen.
Dann führte David sie hinunter in den Raum. Kitty wurde fast übel von dem Gestank, der ihr entgegenschlug. Sie sah in dem dämmrigen Licht die Kinder, die auf schmalen Brettern übereinanderlagen.
In einer Ecke fand sie Karen, in einem Gewirr von Armen und Beinen. Neben ihr eingeschlafen lag Dov. Sie lagen auf Lumpen, und der Boden unter ihnen war feucht.
»Karen«, flüsterte sie. »Karen, ich bin's Kitty.«
Karen öffnete mühsam die Augen. Sie hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Lippen waren vor Trockenheit aufgesprungen. Sie war zu schwach, um sich aufzusetzen.
»Kitty?«
»Ja, ich bin's.«
Karen streckte ihr die Arme entgegen, und Kitty hielt sie lange fest. »Geh nicht fort, Kitty. Ich habe solche Angst.«
»Ich bleibe in deiner Nähe«, sagte Kitty leise und ließ Karen los. Sie ging in den Lazarettraum, nahm den geringen Bestand an Medikamenten in Augenschein und seufzte. »Damit ist nicht viel zu machen«, sagte sie zu David. »Aber ich werde versuchen, den Kindern jede mögliche Erleichterung zu verschaffen. Können Sie und Joab mir dabei helfen?«
»Selbstverständlich.«
»Von den Bewußtlosen sind einige in einem sehr bedenklichen Zustand. Wir müssen versuchen, ihnen kalte Umschläge zu machen, damit das Fieber sinkt. Aber da oben an Deck ist es kühl. Wir müssen sie zudecken. Und dann möchte ich, daß jeder, der dazu imstande ist, sich an die Arbeit macht, das Schiff zu säubern.«
Kitty war stundenlang fieberhaft tätig, um den Tod abzuwehren. Doch es war, als wollte man den Ozean mit einem Löffel ausschöpfen. Kaum hatte sie das eine Kind notdürftig versorgt, da verschlimmerte sich der Zustand bei drei anderen Kindern bedrohlich. Es fehlte an Medikamenten, an Wasser. Und Nahrung, das einzige, was den Kindern wirklich geholfen hätte, durfte sie ihnen nicht geben.
HUNGERSTREIK: 81 STUNDEN
Siebzig Kinder lagen bewußtlos auf dem Vorderdeck der Exodus. Die englischen Soldaten auf dem Kai begannen zu murren. Viele von ihnen konnten es nicht mehr mitansehen und baten darum, abgelöst zu werden, selbst auf die Gefahr hin, vor ein Kriegsgericht zu kommen.
HUNGERSTREIK: 82 STUNDEN
Karen Hansen-Clement wurde bewußtlos auf das Vorderdeck gebracht.
HUNGERSTREIK: 83 STUNDEN
Kitty kam in das Ruderhaus und sank erschöpft auf einen Stuhl. Sie hatte fünfunddreißig Stunden lang pausenlos gearbeitet; sie war erschöpft und halb betäubt. Ari goß ihr einen kräftigen Schluck Brandy ein.
»Da«, sagte er, »trinken Sie das mal. Sie befinden sich ja nicht im Hungerstreik.«
Sie schluckte den Brandy hinunter, und ein zweites Glas ließ sie wieder zu sich kommen. Sie sah Ari ben Kanaan lange und eindringlich an. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Kraft. Die Belagerung schien ihm so gut wie gar nicht zugesetzt zu haben. Sie sah in seine kalten Augen und fragte sich, was für Gedanken, was für Pläne, was für Anschläge ihm wohl durch den Kopf gehen mochten. Sie fragte sich, ob er Angst hätte, ob er überhaupt wußte, was Angst war. Sie fragte sich, ob er bekümmert oder erschüttert sei.
»Ich hatte erwartet, daß Sie viel eher hierherkommen würden«, sagte er.
»Ich komme nicht, um etwas von Ihnen zu erbitten, Ari ben Kanaan. Ich will nur Meldung erstatten, wie ein Soldat, der seine Pflicht tut. Ben Kanaan und Gott — ist das so richtig, in dieser Reihenfolge? Wenigstens zehn der Kinder schweben in Lebensgefahr. Wenn der Hungerstreik weitergeht, werden sie sterben. Wie entscheiden Sie als oberster Richter über Leben und Tod?«
»Es ist nicht das erstemal, daß man mich beschimpft, Kitty. Das läßt mich kalt. Wie aber steht es bei Ihnen: ist Ihr menschliches Mitgefühl so groß, daß Ihnen beim Anblick all dieser Kinder das Herz bricht, oder gilt Ihr Appell nur dem Leben eines dieser Kinder?« »Sie haben kein Recht, mich das zu fragen.«
»Ihnen geht es um das Leben eines Mädchens. Mir geht es um das Leben einer Viertelmillion Menschen.«
Kitty stand auf. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe wieder an meine Arbeit. Hören Sie, Ari — Sie haben gewußt, aus welchem Grund ich an Bord kommen wollte. Warum haben Sie es mir erlaubt?«
Er wandte ihr den Rücken zu und sah durch das Fenster hinaus auf das Meer, wo die Kreuzer und Zerstörer Wache hielten. »Vielleicht, weil ich Sie gern sehen wollte.«
HUNGERSTREIK: 85 STUNDEN
General Sir Clarence Tevor-Browne ging unruhig in Sutherlands Büro auf und ab. Die Luft im Raum war blau vom Rauch seiner Zigarre. Von Zeit zu Zeit blieb er am Fenster stehen und sah gespannt durch die schmutzigen Scheiben nach draußen in die Richtung von Kyrenia.
Sutherland klopfte seine Pfeife aus und musterte die reichhaltige Auswahl von belegten Broten auf dem Teetisch. »Möchten Sie nicht Platz nehmen, Sir Clarence, einen Schluck Tee trinken und etwas essen?«
Tevor-Browne sah auf seine Armbanduhr und seufzte. Er setzte sich, nahm ein Stück Brot, starrte es an, biß hinein und legte es hastig wieder aus der Hand. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich esse«, sagte er.
»Ja, das ist kein gutes Geschäft für einen Mann, der ein Gewissen hat«, sagte Sutherland. »Zwei Kriege, elf Posten in den Kolonien, sechs Auszeichnungen und drei Or
den — und jetzt scheitere ich an einem Häufchen unbewaffneter Kinder. Prächtiger Abschluß einer dreißigjährigen Dienstzeit, finden Sie nicht auch, Sir Clarence?« Tevor-Browne sah zu Boden.
»Oh, ich wußte, daß Sie mit mir darüber reden wollten«, sagte Sutherland.
Tevor-Browne schenkte sich Tee ein und seufzte halb verlegen. »Ja, sehen Sie, Bruce — wenn die Entscheidung bei mir läge —.« »Unsinn, Sir Clarence. Sie brauchen sich doch keine Vorwürfe zu machen. Ich mache mir Vorwürfe. Denn ich war es, der versagt und Ihr Vertrauen enttäuscht hat.« Sutherland stand auf. Seine Augen brannten. »Ich bin müde«, sagte er, »sehr müde.«
»Wir werden Ihre Pensionierung so unauffällig wie möglich in die Wege leiten, mit vollem Ruhestandsgehalt«, sagte Tevor-Browne.
»Sie können sich da ganz auf mich verlassen. Und hören Sie mal, Bruce — ich habe auf dem Wege hierher in Paris Station gemacht und ein langes Gespräch mit Neddie gehabt. Ich habe ihr von Ihren Schwierigkeiten erzählt. Wenn Sie ihr ein gutes Wort geben, dann könnten Sie beide wieder zusammenkommen. Neddie möchte gern zu Ihnen zurück, und Sie werden sie nötig haben.«
Sutherland schüttelte den Kopf. »Zwischen Neddie und mir ist es seit Jahren aus. Das einzig sinnvolle Bindeglied, das es jemals zwischen uns gab, war die Armee.«
»Haben Sie schon irgendwelche Pläne?«
»Diese Monate hier auf Zypern haben in mir etwas bewirkt, Sir Clarence, besonders die letzten Wochen. Sie mögen da vielleicht anderer Ansicht sein, aber ich habe nicht das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Ich habe ganz im Gegenteil das Gefühl, vielleicht etwas sehr Wertvolles gewonnen zu haben. Etwas, das ich vor langer Zeit verloren hatte.«
»Und was ist das?«
»Das Recht. Erinnern Sie sich? Als ich diesen Posten übernahm, da sagten Sie mir, das einzige Reich, das auf Gerechtigkeit beruhe, sei das Reich Gottes, während die Reiche dieser Welt auf dem Öl beruhen.«
»Ich erinnere mich noch sehr genau«, sagte Tevor-Browne.
»Ich habe sehr oft daran denken müssen«, sagte Sutherland, »seit dieser Sache mit der Exodus. Mein ganzes Leben lang habe ich den Unterschied zwischen Recht und Unrecht gekannt. Die meisten von uns kennen ihn. Ihn zu kennen, ist noch nicht dasselbe, wie danach zu leben. Wie oft im Leben tut jemand Dinge, die sein Gewissen belasten, um seine Existenz nicht zu gefährden. Wie habe ich die seltenen Ausnahmemenschen bewundert, die die Kraft hatten, für ihre Überzeugung einzutreten, selbst wenn dies Schande, Folter oder sogar ihren Tod bedeutete. Was für ein wunderbares Gefühl inneren Friedens müssen diese Menschen haben, so ein Mann wie Gandhi. Sie fragten mich nach meinen Plänen. Ich habe die Absicht, mich in diesen armseligen Landstrich zu begeben, den die Juden ihr Himmelreich auf Erden nennen. Ich möchte das alles kennenlernen — Galiläa — Jerusalem — alles.«
»Ich beneide Sie, Bruce.«
»Vielleicht werde ich mich in der Nähe von Safed zur Ruhe setzen — auf dem Berge Kanaan.«
Major Alistair kam herein. Er war bleich, und seine Hand zitterte, als er Tevor-Browne eine Meldung überreichte. Tevor-Browne las sie. »Gott sei uns allen gnädig«, sagte er leise und gab die Meldung an Bruce Sutherland weiter.
DRINGEND
Ari ben Kanaan, der Sprecher der Exodus, hat bekanntgegeben, daß ab morgen mittag 12 Uhr täglich zehn Freiwillige auf der Brücke des Schiffes in aller Öffentlichkeit und vor den Augen der Engländer Selbstmord begehen werden. Diese Protestaktion wird solange fortgesetzt, bis man der Exodus erlaubt, nach Palästina auszulaufen, oder bis an Bord niemand mehr am Leben ist.
Bradshaw, begleitet von Humphrey Crawford und einem halben Dutzend Adjutanten, verließ London und begab sich eilig in die Stille eines abgelegenen kleines Hauses auf dem Lande. Es blieben ihm noch vierzehn Stunden.
Bei der ganzen Sache hatte er sich schwer verrechnet. Erstens hatte er nicht mit einer solchen Zähigkeit und Entschlossenheit der Kinder an Bord des Schiffes gerechnet. Zweitens hatte er nicht gedacht, daß die Geschichte in der Öffentlichkeit soviel Staub aufwirbeln würde, und schließlich hatte er es nicht für möglich gehalten, daß Ben Kanaan zum Angriff übergehen und ihn derartig unter Druck setzen würde. Bradshaw war ein sturer Bursche, doch er wußte, wann er verloren hatte. Jetzt suchte er krampfhaft nach einem Kompromiß, der es den Engländern ermöglichen sollte, ihr Gesicht zu wahren.
Er gab Crawford und seinen Adjutanten den Auftrag, sich telegrafisch oder telefonisch mit einem Dutzend der einflußreichsten jüdischen Bürger Englands, Palästinas und der Vereinigten Staaten in Verbindung zu setzen und sie um ihre Intervention zu bitten. Besonders die führenden Köpfe in Palästina konnten Ben Kanaan raten, von seinem Vorhaben abzusehen oder ihn zumindest veranlassen, den Beginn der Aktion so lange zu verzögern, bis Bradshaw Kompromißvorschläge machen konnte. Wenn es ihm gelang, Ben Kanaan an den Verhandlungstisch zu bringen, dann konnte er die Exodus zu Tode reden. Innerhalb von sechs Stunden antworteten alle führenden Juden übereinstimmend: WERDEN NICHT INTERVENIEREN.
Als nächsten Schritt setzte sich Bradshaw mit Tevor-Browne auf Zypern in Verbindung. Er bat den General, der Exodus mitzuteilen, daß die Engländer damit beschäftigt seien, einen Kompromißvorschlag auszuarbeiten, und daß man den Beginn der Aktion um vierundzwanzig Stunden verschieben möge. Tevor-Browne führte den Auftrag aus und übermittelte Bradshaw Ben Kanaans Antwort.
DRINGEND
Ben Kanaan hat uns wissen lassen, daß es für ihn nichts zu diskutieren gibt. Die einzige Frage für ihn ist, ob die Exodus ausläuft oder nicht. Er stellt außerdem fest, daß zu seinen Bedingungen eine völlige Amnestie für alle an Bord befindlichen Männer aus Palästina gehört. Zusammenfassend erklärte Ben Kanaan: Laßt mein Volk in Frieden ziehen. Tevor-Browne.
Cecil Bradshaw fand keinen Schlaf. Er ging auf und ab, auf und ab. Nur noch sechs Stunden, dann wollten die Kinder auf der Exodus anfangen.
Drei Stunden blieben ihm noch, sich zu entscheiden und dem Kabinett seinen Entschluß vorzulegen. Ein Kompromiß schien nicht möglich.
Kämpfte er gegen einen Wahnsinnigen? Oder war dieser Ari ben Kanaan ein gerissener Bursche, der nach einem kaltblütigen Plan handelte und ihn listig tiefer und tiefer in eine Falle gelockt hatte? LASST MEIN VOLK IN FRIEDEN ZIEHEN!
Cecil Bradshaw setzte sich an seinen Schreibtisch und knipste die Lampe an.
DRINGEND
Ari ben Kanaan, der Sprecher der Exodus, hat bekanntgegeben, daß ab morgen mittag 12 Uhr täglich zehn Freiwillige auf der Brücke des Schiffes Selbstmord begehen werden — Selbstmord — Selbstmord — Selbstmord!
Bradshaws Hand zitterte so heftig, daß er das Blatt fallen ließ. Auf seinem Schreibtisch lag ein Dutzend offizieller Stellungnahmen verschiedener europäischer und amerikanischer Regierungen. Sie alle gaben, in der höflichen Sprache der Diplomatie, ihrer ernsten Sorge über den Stillstand in der Frage der Exodus Ausdruck. Desgleichen lagen auf seinem Schreibtisch Noten sämtlicher arabischer Regierungen, in denen mitgeteilt wurde, daß man es als Affront empfände, wenn die Exodus die Erlaubnis erhalten sollte, nach Palästina auszulaufen.
Cecil Bradshaw wußte weder ein noch aus. Die letzten Tage waren für ihn eine Hölle gewesen. Wie war es eigentlich dazu gekommen? Dreißig Jahre lang war er federführend und maßgeblich in allen Fragen der Nahost-Politik tätig gewesen, und jetzt saß er wegen eines unbewaffneten Bergungsschiffes in einer so üblen Klemme. Was für einen sonderbaren Streich hatte ihm das Schicksal doch gespielt, daß es ihn jetzt als Unterdrücker erscheinen ließ. Ihn konnte gewiß niemand beschuldigen, Antisemit zu sein. Im geheimen bewunderte Bradshaw die Juden in Palästina sogar und verstand durchaus die historische Bedeutung ihrer Rückkehr dorthin. Er hatte die Stunden, die er damit verbracht hatte, mit den zionistischen Unterhändlern zu debattieren, in bester Erinnerung und schätzte sie wegen ihrer hervorragenden Fähigkeiten in der Diskussion. Freilich war Cecil Bradshaw davon überzeugt, daß Englands Interesse bei den Arabern lag. Schon war die Zahl der Juden im Mandatsgebiet auf über eine halbe Million angewachsen. Und die Araber waren ungehalten darüber, daß die Engländer eine jüdische Nation
in ihrer Mitte förderten.
Während all der Jahre seiner Tätigkeit war er Realist geblieben. Was war jetzt eigentlich los mit ihm, daß er plötzlich seine eigenen Enkelkinder bewußtlos auf dem Oberdeck der Exodus liegen wähnte?
Bradshaw kannte die Bibel so gut wie jeder andere anständige Engländer und hatte auch das ausgeprägte Ehrgefühl, das den meisten Briten eigen ist. War es denkbar, daß diese Leute auf der Exodus von mystischen Kräften getrieben waren? Nein, er war Diplomat und Realist, und er glaubte nicht an irgend etwas Übernatürliches.
Und doch — ein Heer und eine Flotte standen ihm zur Verfügung; er konnte, wenn er wollte, die Exodus und alle anderen Blockadebrecher in die Luft sprengen — aber er konnte sich einfach nicht dazu entschließen.
Auch der Pharao von Ägypten hatte die Macht auf seiner Seite gehabt! Bradshaw brach der Schweiß aus. Das waren doch alles Hirngespinste! Er war übermüdet, seine Nerven waren überansprucht. Was für ein Unfug!
LASST MEIN VOLK IN FRIEDEN ZIEHEN!
»Crawford!« rief Bradshaw laut. »Crawford!«
Crawford kam eilig hereingestürzt. »Hatten Sie nach mir gerufen?« »Crawford — setzen Sie sich mit Tevor-Browne auf Zypern in Verbindung — sofort. Sagen Sie ihm — sagen Sie ihm, er soll die Exodus nach Palästina auslaufen lassen.«
ZWEITES BUCH
DAS LAND IST MEIN
Denn Mein ist das Land, und ihr seid Fremdlinge und Gäste vor Mir. Und alle in eurem Lande sollt das Land auslösen.
MOSES, 3. BUCH, 25, I.
I.
Der Kampf um die Exodus war beendet!
Innerhalb von Sekunden gingen die Worte »Exodus darf auslaufen« durch den Äther, und bald erschienen sie überall auf der Welt als Schlagzeile.
Auf Zypern war die Freude der Bevölkerung grenzenlos, und um die ganze Welt ging ein tiefes Aufatmen. Die Kinder an Bord der Exodus waren zu erschöpft, um den Sieg zu feiern.