Exodus

Home > Literature > Exodus > Page 82
Exodus Page 82

by Leon Uris


  Das israelische Volk erkämpfte sich seinen Weg mit einer Entschlossenheit, die die Hochachtung der gesamten zivilisierten Welt errang. Und niemand in Israel arbeitete, um es zu seinen eigenen Lebzeiten besser zu haben: Alles geschah im Gedanken an die Zukunft, für die heranwachsende Generation, für die neuen Einwanderer, die ins Land kamen.

  Die Negev-Wüste nahm die Hälfte des Gebiets von Israel ein. Sie war größtenteils unbelebte Wildnis und erinnerte teilweise an die Oberfläche des Mondes. Hier war Moses auf der Suche nach dem Gelobten Land gewandert. Sengende Hitze von mehr als fünfzig Grad stand über den endlosen Schieferfeldern, den tiefen Schluchten und Canons. Auf den steinigen Plateaus wuchs kein Halm. Keine Lebewesen, nicht einmal ein Aasgeier, wagten sich in diese Einsamkeit.

  Die Negev-Wüste war eine Herausforderung, und Israel nahm diese Herausforderung an. Die Israelis machten sich auf in die Wüste. Sie lebten in der erbarmungslosen Hitze und errichteten Siedlungen auf dem felsigen Boden. Sie machten es wie Moses: sie schlugen Wasser aus den Felsen und ließen Leben in der unbelebten Einöde entstehen. Sie suchten nach Mineralien. Aus dem Toten Meer holten sie Pottasche. In den Kupfergruben König Salomons, die seit Ewigkeiten stillgelegen hatten, wurde wieder das grüne Erz gewonnen. Spuren von Erdöl wurden gefunden und riesige Mengen von Eisenerz entdeckt. Ber Scheba, am nördlichen Eingang der Negev-Wüste gelegen, erlebte einen plötzlichen Aufschwung, und fast über Nacht wuchs aus der Wüste eine Industriestadt.

  Die größte Hoffnung der Juden richtete sich auf Elath am südlichen Ende der Negev-Wüste und am Rande des Golfs von Akaba. Als israelische Truppen am Ende des Freiheitskrieges hierhergekommen waren, hatte Elath aus zwei Lehmhütten bestanden. Man träumte in Israel davon, aus Elath eines Tages, wenn die Ägypter die Blockade des Golfs von Akaba aufhoben, einen Hafen mit direkter Schiffahrtsverbindung zum Fernen Osten zu machen. Man begann bereits jetzt mit dem Bau.

  Hier in der Negev-Wüste tat Colonel Ari ben Kanaan nach der Beendigung des Freiheitskrieges freiwillig Dienst. Sein Auftrag war, jeden Fußbreit dieses Gebietes kennenzulernen, das für Israel von vitaler Bedeutung und rings von drei erbitterten Feinden — Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien — umgeben war.

  Ari marschierte mit seinen Soldaten über die mörderischen Schieferfelder und durch die Wadis und führte sie in Gegenden, die noch nie ein menschlicher Fuß betreten hatte. Er unterzog seine Truppe einer Ausbildung von so grausamer Härte, wie sie ihresgleichen nur in wenigen Armeen der Welt hatte. Alle Offiziersanwärter wurden zu Ari geschickt, der sie den schwersten körperlichen Erprobungen unterzog, die ein Mensch aushalten konnte. Aris stehende Truppe wurde unter dem Namen »Wüstenwölfe« bekannt. Es waren harte Burschen, die die Negev-Wüste haßten, solange sie sich dort befanden und sich nach ihr sehnten, wenn sie fort waren. Zu der Ausbildung der Wüstenwölfe gehörten Fallschirmabsprünge, Eilmärsche, Nahkampf und Pionierdienst. Nur die Zähesten waren den Ansprüchen gewachsen.

  In der israelischen Armee gab es keine Tapferkeitsauszeichnungen — man setzte voraus, daß ein Soldat so tapfer war wie der andere —, doch wer das Abzeichen der Wüstenwölfe trug, der stand in besonderem Ansehen.

  Aris Stützpunkt war Elath. Er erlebte, wie es sich zu einer Stadt von kühnen Pionieren entwickelte. Eine Wasserleitung wurde angelegt, in den Kupfergruben lief die Förderung auf vollen Touren und aus Fußpfaden wurden Straßen. Die Juden waren dabei, ihren südlichsten Stützpunkt auszubauen.

  Die Leute wunderten sich über das seltsame Wesen von Colonel Ben Kanaan. Er schien nie zu lachen und selten zu lächeln. Es war, als ob irgend etwas an ihm nage, ein Kummer oder eine Sehnsucht, und als ob dies der Grund war, daß er sich und seinen Leuten diese fast unmenschlichen Strapazen abverlangte. Zwei volle Jahre lang vergrub er sich in der Wüste.

  Im Januar 1949, zu Beginn des Unternehmens »Fliegender Teppich«, hatte man Kitty Fremont gebeten, nach Aden zu gehen, um dort das Gesundheitswesen für die Kinder im Lager Hashed zu organisieren. Kitty machte ihre Sache großartig. Sie brachte Ordnung in das Chaos. Sie war fest und energisch in ihren Anordnungen, aber sanft und freundlich im Umgang mit den Jugendlichen, die zu Fuß den weiten Weg vom Jemen zurückgelegt hatten. Innerhalb weniger Monate wurde sie einer der wichtigsten Mitarbeiter der Zionistischen Siedlungsgesellschaft. Von Aden aus begab sie sich direkt nach Bagdad, zu dem Unternehmen »Ali Baba«, das den doppelten Umfang des Unternehmens »Fliegender Teppich« hatte. Nachdem sie im Auffanglager in Bagdad die Kinder-Fürsorge organisiert hatte, fuhr sie eiligst nach Marokko, wo die Juden zu Zehntausenden aus den Mellahs von Casablanca aufbrachen, um nach Israel zu gehen. Sie unternahm eilige Flüge zu DP-Lagern in Europa, um in schwierigen Situationen Abhilfe zu schaffen, und sie fuhr kreuz und quer durch Europa auf der Suche nach Pflegepersonal und allem, was für das Kinder-Gesundheitswesen sonst noch benötigt wurde. Als der Strom der Einwanderer nachzulassen begann, wurde Kitty nach Jerusalem zurückberufen, wo man ihr einen leitenden Posten in der Jugend-Aliyah übertrug.

  Sie hatte geholfen, die Kinder und die Jugendlichen nach Israel hereinzubringen. Jetzt machte sie sich an die Aufgabe, diesen jungen Menschen zu helfen, sich als Mitglieder in die israelische Gemeinschaft einzuordnen. Die Lösung des Problems waren Jugenddörfer wie Gan Dafna, doch für all die vielen, die jetzt kamen, gab es zu wenige dieser Dörfer. Bei den Erwachsenen übernahm die israelische Armee, die unter anderem jedem neuen Soldaten Hebräisch beibrachte, diese Aufgabe.

  Kitty Fremont sprach inzwischen fließend Hebräisch. Es war für sie nichts Neues mehr, mit Fester J. MacWilliams und einem Transport tuberkulöser Kinder nach Israel zu fliegen oder eine Siedlung an der Grenze zu besuchen, um den Gesundheitszustand der Kinder zu inspizieren.

  Und dann mußte Kitty etwas erleben, das sie zugleich froh und traurig machte. Sie traf einige der älteren Mädchen, mit denen sie in Gan Dafna zusammengewesen war, Mädchen, die inzwischen geheiratet hatten und in den verschiedenen Siedlungen lebten. Kitty hatte diese Mädchen im Lager auf Zypern und auf der Exodus bemuttert; sie waren sozusagen ihre Babys gewesen, und jetzt hatten sie selbst Babys. Kitty hatte beim Ausbau der Jugend-Aliyah und der Ausbildung des Pflegepersonals mitgearbeitet, von den ersten unsicheren Versuchen bis zu dem Punkt, wo alles vorbildlich und reibungslos funktionierte. Und jetzt erkannte Kitty Fremont plötzlich mit schwerem Herzen, daß sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Sowohl Karen als auch Israel würden von nun an ohne ihre Hilfe auskommen. Kitty fand, es sei Zeit, ihre Zelte hier abzubrechen.

  III.

  Barak ben Kanaan wurde fünfundachtzig Jahre alt. Er zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück und war zufrieden, sich mit der Leitung seiner Farm in Yad El beschäftigen zu können. Das hatte er sich ein halbes Jahrhundert lang gewünscht. Ungeachtet seines hohen Alters war Barak noch immer ein Mann voller Kraft, geistig rege und körperlich durchaus in der Lage, den ganzen Tag über auf den Feldern seiner Farm zu arbeiten. Sein riesiger Bart war inzwischen fast ganz weiß geworden, zeigte aber immer noch Spuren des früheren flammenden Rots, und seine Hand hatte noch immer einen stahlharten Griff. Die Jahre nach der Beendigung des Freiheitskrieges gewährten ihm große Befriedigung. Er hatte endlich Zeit für sich und Sara.

  Sein Glück war allerdings durch den Gedanken an Jordana und Ari getrübt, die nicht glücklich waren. Jordana konnte über den Tod von David ben Ami nicht hinwegkommen. Sie war eine Zeitlang in Frankreich herumgereist, und sie war mehrere unüberlegte Verbindungen mit Männern eingegangen, die sich sehr bald als unhaltbar erwiesen hatten. Schließlich war sie nach Jerusalem, der Stadt Davids, zurückgekehrt, und hatte wieder an der Universität zu arbeiten angefangen; doch war in ihr eine innere Leere geblieben. Ari hatte sich selbst in die Verbannung der Negev-Wüste geschickt. Barak wußte, warum; doch an seinen Sohn konnte er nicht heran. Kurze Zeit nach seinem fünfundachtzigsten Geburtstag machten sich bei Barak Magenschmerzen bemerkbar. Viele Wochen lang sagte er nichts davon. Er fand es ganz in Ordnung, daß sich in seinem Alter einige Beschwerden einstellten. Den Schmerzen folgte ein quälender Husten, den er trotz aller Anstrengungen vor Sara nicht verheimlichen konnte.
Sie bestand darauf, daß er zum Arzt ging, und Barak versprach es ihr schließlich, fand aber immer wieder einen Grund, den Besuch beim Arzt zu verschieben. Eines Tages rief Ben Gurion bei Barak an und fragte ihn, ob er Lust hätte, mit Sara nach Haifa zu kommen, um an der Feier des dritten Jahrestages der Unabhängigkeitserklärung teilzunehmen und bei der Parade auf der Ehrentribüne zu sitzen. Das war eine außerordentliche Ehrung und Barak sagte zu. Sara benutzte die Gelegenheit der Reise nach Haifa, um Barak das Versprechen abzuverlangen, zum Arzt zu gehen. Fünf Tage vor dem Fest fuhren sie nach Haifa. Barak begab sich in ein Krankenhaus, um sich gründlich untersuchen zu lassen, und er blieb dort bis zum Vorabend des Jahrestages der Unabhängigkeit.

  »Nun«, fragte Sara, »was haben die Ärzte gesagt?«

  »Schlechte Verdauung und Altersbeschwerden«, sagte Barak lachend. »Sie haben mir irgendwelche Pillen verordnet.«

  Sara wollte es genau wissen.

  »Nun laß schon, altes Mädchen. Wir sind hier, um den Tag der Unabhängigkeit zu feiern.«

  Den ganzen Tag über waren Massen von Menschen nach Haifa geströmt: per Anhalter, im Auto, mit dem Zug und mit dem Flugzeug. Die Stadt wimmelte von Menschen. Den ganzen Tag über erschienen Besucher in Baraks Hotelzimmer, die ihn begrüßten und ihm ihre Hochachtung bezeugen wollten.

  Am Abend wurden die Feierlichkeiten durch einen Fackelzug der Jugendgruppen eröffnet. Sie marschierten am Rathaus auf dem Karmelberg vorbei, und nach den üblichen Ansprachen wurde auf dem Gipfel des Karmel ein Feuerwerk abgebrannt.

  Die ganze Herzlstraße entlang drängten sich Zehntausende von Menschen. Aus Lautsprechern ertönte Musik, und überall tanzten fröhliche Menschen Horra. Auch Barak und Sara reihten sich in den Kreis der Horratänzer ein, und die umstehende Menge spendete begeistert Beifall.

  Spät in der Nacht begaben sich Sara und Barak in ihr Hotel, um sich noch ein wenig auszuruhen. Am nächsten Vormittag fuhren die beiden, im offenen Wagen jubelnd von der Menge begrüßt, die Paradestrecke entlang und begaben sich zur Ehrentribüne, wo sie ihre Plätze neben dem Präsidenten einnahmen.

  Und dann marschierte das neue Israel vorbei, mit Bannern wie die Stämme aus biblischer Zeit: die Jemeniten, inzwischen stolze Soldaten, und die großgewachsenen kräftigen Männer und Frauen der Sabre-Generation, die Flieger aus Südafrika und Amerika, und die jüdischen Kämpfer, die aus allen Teilen der Welt in die neue Heimat gekommen waren. Die Fallschirmjäger mit ihren roten Baskenmützen kamen vorbei, und die Männer des Grenzschutzes in ihren grünen Uniformen. Tanks rasselten und Flugzeuge dröhnten. Und dann schlug Baraks Herz heftiger, und die jubelnden Zurufe der Menge wurden lauter: die bärtigen, braungebrannten Wüstenwölfe marschierten vorbei und grüßten den Vater ihres Kommandeurs.

  Nach der Parade gab es weitere Ansprachen und festliche Veranstaltungen. Als Barak und Sara zwei Tage später Haifa verließen, um nach Yad El zurückzufahren, tanzten die Menschen noch immer auf den Straßen.

  Kaum waren sie zu Hause angelangt, als Barak einen langen krampfhaften Hustenanfall bekam, so heftig, als hätte er ihn während der Feierlichkeiten mit aller Macht zurückgehalten. Erschöpft sank er in seinen Lehnstuhl, während Sara ihm eine Medizin brachte. »Ich hatte dir doch gleich gesagt, die Aufregung würde zuviel für dich werden«, sagte sie. »Du solltest endlich anfangen, dich deinem Alter entsprechend zu benehmen.«

  Barak war mit seinen Gedanken bei den braungebrannten, drahtigen jungen Männern, die an der Tribüne vorbeimarschiert waren.

  »Das Heer Israels«, murmelte er.

  »Ich werde uns einen Tee machen«, sagte Sara und fuhr ihm zärtlich durchs Haar.

  Barak ergriff ihr Handgelenk und zog sie auf seinen Schoß. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah dann fragend zu ihm auf. Barak wandte den Blick beiseite.

  »Die Feier ist vorbei«, sagte Sara. »Und jetzt erzähle mir bitte, was dir die Ärzte wirklich gesagt haben.«

  »Es ist mir nie sonderlich gut gelungen, dich anzuschwindeln«, sagte er.

  »Ich werde auch ganz vernünftig sein, das verspreche ich dir.«

  »Dann darf ich dir sagen, daß ich bereit bin«, sagte Barak. »Ich glaube, ich habe es schon die ganze Zeit gewußt.«

  Sara stieß einen kleinen Schrei aus und biß sich auf die Lippen.

  »Es ist wohl besser, wenn du Ari und Jordana Bescheid gibst, daß sie herkommen«, sagte Barak.

  »Krebs?«

  »Ja.«

  »Und — wie lange?«

  »Ein paar Monate noch, ein paar wunderbare Monate.«

  Es war schwer, sich Barak anders als stark und riesig vorzustellen. Doch in den folgenden Wochen machte sich sein Alter erschreckend bemerkbar. Er war hager und gebeugt, und sein Gesicht war bleich geworden. Er hatte große Schmerzen auszustehen, doch er verheimlichte sie und weigerte sich standhaft, in ein Krankenhaus gebracht zu werden.

  Man hatte sein Bett ans Fenster gerückt, damit er hinaussehen konnte auf die Felder seiner Farm und hinauf zu den Bergen an der libanesischen Grenze. Als Ari nach Hause kam, sah er, wie Barak bekümmert zu der Stelle hinstarrte, wo einst Abu Yesha gestanden hatte.

  »Schalom, Aba«, sagte Ari und umarmte seinen Vater. »Ich bin so rasch gekommen, wie ich konnte.«

  »Schalom, Ari. Laß dich ansehen, Sohn. Es ist so lange her — über zwei Jahre. Ich hatte gedacht, du würdest vielleicht mit deinen Leuten an der Parade teilnehmen.«

  »Die Ägypter hatten bei Nitzana mehrere Überfälle unternommen. Wir mußten Vergeltungsmaßnahmen ergreifen.«

  Barak musterte seinen Sohn. Ari war von der Wüstensonne dunkel gebräunt und sah prachtvoll aus, stark wie ein Löwe.

  »Die Wüste scheint dir gut zu bekommen«, sagte Barak.

  »Was ist das für ein Unsinn, den mir die Ima da erzählt?«

  »Denke bitte nicht, du müßtest mich aufheitern, Ari. Ich bin alt genug, um mit Anstand zu sterben.«

  Ari schenkte sich einen Cognak ein und zündete sich eine Zigarette an, während ihn Barak weiterhin aufmerksam beobachtete. Die Tränen stiegen dem alten Mann in die Augen.

  »Ich bin die letzte Zeit heiter und ruhig gewesen«, sagte er. »Nur der Gedanke an dich und Jordana machte mir zu schaffen. Wenn ich doch nur in dem Bewußtsein sterben könnte, daß ihr glücklich seid.« Ari nahm einen Schluck von seinem Cognak und sah beiseite. Barak ergriff die Hand seines Sohnes.

  »Man sagt mir, du könntest eines Tages Chef des Generalstabs werden, wenn du dich nur entschließen wolltest, aus der Wüste herauszukommen.«

  »Es gibt viel zu tun in der Negev-Wüste, Vater. Irgend jemand muß es schließlich machen. Die Ägypter stellen Mörderbanden auf, die über die Grenze herüberschleichen und unsere Siedlungen überfallen.«

  »Ja, Ari — aber du bist nicht glücklich.«

  »Glücklich? Du kennst mich doch, Vater. Es ist mir nun einmal nicht gegeben, mein Glück offen zu zeigen, wie das die neuen Einwanderer tun.«

  »Warum hast du dich zwei Jahre lang von mir und deiner Mutter ferngehalten?«

  »Ja, das war falsch, und das tut mir auch leid.« »Weißt du, Ari, in diesen letzten beiden Jahren habe ich mir zum erstenmal in meinem ganzen Leben den Luxus leisten können, einfach dazusitzen und nachzudenken. Es ist etwas Wunderbares, wenn man die Möglichkeit hat, in Ruhe und Frieden zu meditieren. Und in den letzten Wochen habe ich noch mehr Zeit dazu gehabt. Ich habe über alles nachgedacht. Und ich bin mir klar geworden, daß ich dir und Jordana kein guter Vater gewesen bin.«

  »Vater, was redest du denn da. Hör doch auf mit diesen unsinnigen Selbstvorwürfen.«

  »Nein, es ist etwas Wahres daran, was ich sage. Ich sehe jetzt alles so deutlich. Wenn ich daran denke, wie wenig Zeit ich dir und Jordana widmen konnte — und Sara. Glaub mir, Ari, für eine Familie ist das nicht gut.«

  »Ich bitte dich, Vater. Kein Sohn hat so viel Liebe und Verständnis erfahren wie ich. Vielleicht sind alle Väter der Meinung, sie hätten mehr tun können.«

  Barak schüttelte den Kopf. »Du warst noch ein kleiner Junge, da mußtest du schon ein Mann sein. Mit zwölf Jahren hast du neben mir in den Sümpfen gearbei
tet. Du hast mich nicht mehr gebraucht, seit ich dir einen Ochsenziemer in die Hand gab.«

  »Ich will nichts mehr davon hören. Unser Leben in diesem Lande ist dem gewidmet, was wir für die Zukunft tun können. So hast du leben müssen, und so lebe ich jetzt. Du hast keinerlei Grund, dir irgendeinen Vorwurf zu machen. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als so zu leben.«

  »Das versuche ich mir ja auch zu sagen, Ari. Denn, sage ich mir, was denn sonst? Ein Ghetto? Konzentrationslager? Gaskammern? Das, was wir hier haben, sage ich mir, lohnt jeden Einsatz. Und doch, diese unsere Freiheit — der Preis dafür ist hoch.«

  »Kein Preis ist zu hoch für Israel«, sagte Ari.

  »Doch, er ist zu hoch — wenn ich die Trauer in den Augen meines Sohnes sehe.«

  »Es ist nicht deine Schuld, wenn deiner Tochter der Geliebte genommen wurde. Es ist der Preis, den man dafür zahlt, als Jude geboren zu sein. Aber ist es nicht besser, kämpfend für das Vaterland zu sterben, als so zu sterben, wie dein Vater starb, in einem Ghetto, unter den Händen einer wütenden Meute?«

  »Doch die Trauer meines Sohnes ist meine Schuld, Ari.« Barak machte eine kleine Pause und fuhr dann zögernd fort: »Jordana hat sich mit Kitty Fremont sehr angefreundet.«

  Ari blinzelte bei der Erwähnung ihres Namens.

  »Sie besucht uns jedesmal, wenn sie im Hule-Tal ist. Schade, daß du dich gar nicht mehr um sie gekümmert hast.«

  »Vater, ich —.«

  »Meinst du, ich würde nicht sehen, wie sich diese Frau vor Sehnsucht nach dir verzehrt? Und ist das die Art, wie man als Mann seine Liebe zeigt, indem man sich in der Wüste versteckt? Ja, Ari, laß uns endlich einmal darüber reden. Du bist vor ihr davongelaufen und hast dich versteckt. Gestehe es doch ein. Sage es mir, und sage es auch dir selber.«

  Ari stand vom Bettrand auf und ging an das andere Ende des Zimmers.

  »Was in dir ist es eigentlich, das es dir unmöglich macht, zu dieser Frau hinzugehen und ihr zu sagen, daß dir vor Sehnsucht nach ihr das Herz bricht.«

  Ari fühlte den brennenden Blick seines Vaters im Rücken. Er wandte sich langsam um und schlug die Augen nieder. »Sie hat einmal zu mir gesagt, ich müßte solche Sehnsucht nach ihr haben, daß ich auf den Knien zu ihr krieche.«

 

‹ Prev