by Kiefer, Lena
Ich ging um das Gebäude herum, über den Kies der Auffahrt und dann zum Eingangsportal. Meine Karte öffnete den schmalen Eingang neben der imposanten Drehtür ohne Murren und ich warf einen vorsichtigen Blick in die Lobby. Vielleicht hatte ich ja Glück, vielleicht war George gar nicht da. Er saß schließlich öfter mal im Büro oder machte eine Pause.
Die Rezeption sah tatsächlich unbesetzt aus. Ich jubilierte innerlich, als ich die Lobby durchquerte und am leeren Empfangstresen vorbei direkt zum Treppenhaus ging. Da stoppte mich eine Stimme, von absolutem Triumph gesättigt.
»Na, wo wollen wir denn hin?«
Ich drehte mich um, die Zimmerkarte in der Hand, mir völlig bewusst, was für ein Bild ich gerade bot: in meinem Anzug von gestern Abend, das Hemd nachlässig zwei Knöpfe offen, die Haare garantiert durcheinander, das Sakko verknittert, weil es die ganze Nacht zusammengeknüllt auf Kenzies Sitzbank gelegen hatte. Nie hatte der Spruch »Es ist nicht das, wonach es aussieht« besser gepasst. Ich verkniff ihn mir dennoch.
»In mein Zimmer«, sagte ich in dem arroganten Tonfall, den ich für solche Gelegenheiten parat hatte. »Haben Sie etwas dagegen?«
Die Concierge Isla musterte mich und lächelte weiter. »Nein, natürlich nicht. Schließlich dauert es sicher noch zwei Stunden, bis Ihre Tante wach wird und ich ihr von diesem Treffen erzählen kann.«
»Das werden Sie nicht.« Ich starrte sie finster an.
»Ach, und warum nicht? Ich bin beauftragt, Sie im Auge zu behalten, Lyall. Das ist mein Job, und ich werde mich für Sie garantiert nicht gegen die Anweisungen meiner Chefin stellen.« Dass es ihr diebische Freude bereitete, sagte sie nicht, aber das war auch nicht nötig.
Zeit für die schweren Geschütze. Ich wollte so etwas nicht tun müssen, aber ich hatte keine andere Wahl.
»Vergessen Sie da nicht etwas?«, fragte ich hart.
Sie sah mich an. »Ich wüsste nicht was.«
»Nicht? Dann helfe ich Ihnen auf die Sprünge: Sie sind eine Angestellte, ich bin Teil der Familie, die Sie bezahlt. Und ich bin kein 15-jähriger Junge mehr, der sich wünscht, dass jeder ihn mag – sondern habe gelernt, wie ich mit denjenigen umgehen muss, die das nicht tun. Also nur zu, erzählen Sie Moira davon, dass Sie mich um halb 5 Uhr morgens hier gesehen haben, ohne zu wissen, wo ich war oder was ich getan habe. Aber ich schwöre Ihnen, dass ich dann irgendetwas finden werde, mit dem ich Sie ganz schnell vor die Tür setzen lassen kann.« Ich sah ihr direkt in die Augen. »Jeder hat Geheimnisse, Isla. Und ich werde Ihre finden. Deswegen endet Ihre kleine Hetzjagd gegen mich genau jetzt.«
Islas selbstbewusster Ausdruck war plötzlich verschwunden. »Sie drohen mir?«, fragte sie schockiert.
»Nein. Ich gebe Ihnen ein Versprechen.« Ich öffnete die Tür zum Treppenhaus, dann drehte ich mich noch mal um. »Oh, und: Nennen Sie mich nie wieder beim Vornamen. Das steht Ihnen nicht zu.«
Ich trat durch die Tür, zog sie zu, rannte die vier Stockwerke nach oben, um das Adrenalin loszuwerden, bis ich hinter meiner Zimmertür stehen blieb, den Kopf an das alte Holz lehnte und die Augen schloss. Hoffentlich hatte es sich gelohnt, das Arschloch zu geben.
Denn wenn nicht, hatte ich ein mächtig großes Problem.
»Du hast ein mächtig großes Problem.« Mit diesen Worten empfing mich Edina, als ich um Punkt neun Uhr an Moiras Haustür erschien. Meine Schwester hatte wie Mum im Haus unserer Tante übernachtet.
Mein Herz rutschte mir in die Jeans, die ich aus reiner Rebellion an diesem Morgen trug, passend zu einem Shirt, das seine besten Tage definitiv hinter sich hatte.
»Was meinst du damit?«, fragte ich leise. Hatte Isla doch gepetzt?
»Was wohl? Du bist von der Ausstellung verschwunden und nicht mehr aufgetaucht, bis alles vorbei war. Kannst du dir das Getuschel vorstellen? Tante Moira ist schier ausgerastet deswegen. Ich kann ja echt viel, Bruderherz, aber zaubern kann ich nicht.«
Ich atmete auf, obwohl ihre Worte alles andere als beruhigend waren. Offenbar hatte Isla die Klappe gehalten.
»Ach, das erkläre ich ihnen schon.«
Es knirschte auf dem Kies, ein schweres Auto rollte heran, und wir sahen beide auf, als es direkt vor uns hielt.
»Erklärst du das auch ihr ?«, fragte meine Schwester.
Der Chauffeur stieg aus, grüßte und ging dann zur hinteren Tür, um sie zu öffnen. Schon bevor der Fahrgast zu sehen war, hörten wir eine missbilligende Stimme.
»Machen Sie etwas schneller, William. Ich muss meine restliche Zeit auf dieser Welt sinnvoll nutzen, und wenn Sie immer so lange brauchen, werde ich ganz sicher auf dieser Rückbank sterben.«
»Tut mir sehr leid, Ma’am.« Der arme William machte ein schuldbewusstes Gesicht und streckte seine Hand in das Auto.
Ein Fuß mit einem hochwertigen Lederstiefel tauchte auf, dann der Saum eines langen Kleides, bis schließlich eine große, aufrechte Frau aus dem Wagen stieg, wie immer mit akkurater Frisur, dem Familienschmuck um den Hals und einer Jacke, für die sicher einige Tiere hatten sterben müssen.
»Hallo, Grandma.« Meine Schwester ging mit einem Lächeln auf sie zu, aber ich blieb, wo ich war, und nickte nur. Meine Großmutter hatte für die männlichen Nachkommen ihrer Kinder ohnehin nicht viel übrig, aber ich war ihr noch weniger lieb als Finlay oder Logan. Zu viele Widerworte. Zu wenig Angepasstheit.
»Edina, wie schön.« Das in Stein gemeißelte Gesicht wurde weicher, als Grandma lächelte. Dann traf ihr Blick mich – und das Lächeln verschwand. »Guten Morgen, Lyall. Gibt es einen Grund dafür, dass du aussiehst, als hätte man dich ausgeraubt?«
Ich atmete ein und suchte nach einer diplomatischen Antwort, leider fielen mir nur scherzhafte Erwiderungen ein. Und ich war sicher, dass sie dazu nicht aufgelegt war, denn das war sie nie. Was machte sie in Kilmore? War das nur einer ihrer Kontrollbesuche, die sie so gerne unternahm, um alle wahnsinnig zu machen? Oder war sie meinetwegen hier und mein Plan in Gefahr?
»Lyall hatte nach dem Sport noch keine Gelegenheit, sich umzuziehen«, sprang Edina für mich ein. Ob Grandma wirklich glaubte, dass man in Jeans joggen ging? Sie sah mich missbilligend an.
»Ach ja? Zu meiner Zeit trugen wir Sporthosen für so etwas.«
»Na, du kennst doch Lyall, er braucht immer eine Extrawurst. Aber er wollte gerade ins Hotel gehen und das erledigen, richtig?« Edina sah mich fast noch strenger an als meine Grandma. Also nickte ich brav.
»Richtig.«
»Dann wärst du aber zu spät zum Brunch gekommen, oder?« Grandma schüttelte den Kopf und wedelte mit der Hand. »Beeil dich, Junge. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen und heute noch andere Termine.«
Ich nickte wieder, dann sprintete ich ins Haupthaus und zog Hemd und Hose an. Als ich das Zimmer verließ, sah ich extra nicht in den Spiegel. Ich hasste es, Männchen für diese Frau machen zu müssen. Aber noch war nicht der richtige Zeitpunkt, um mich offen gegen sie zu stellen. Also musste ich spuren. Sie war nur für den Familienbrunch da. Das würde ich schon überstehen.
Auf dem Weg zurück zu Moira checkte ich mein Handy auf neue Nachrichten, es war jedoch nichts angekommen. Wahrscheinlich schlief Kenzie noch. Oder sie erinnerte sich daran, was ich in der Nacht zu ihr gesagt hatte, und schrieb mir deswegen nicht. Besser für sie wäre es. Aber so verboten das zwischen uns war, ich wusste, es würde mich trotzdem hart treffen, wenn sie sich nicht bei mir meldete.
Alle anderen saßen bereits an dem riesigen Esstisch, als ich hereinkam und den Platz neben Edina einnahm. Fiona war da, neben ihr saß Mum, die auf ihrem Handy herumtippte und hoffte, es würde niemand merken. Dann kam Moira und am Kopfende saß Grandma.
»Theodora«, tadelte sie ihre jüngere Tochter. »Das hier ist ein Familienessen, kein Konzernmeeting.« Und selbst da waren Handys verboten.
»Entschuldige, Mutter.« Mum lächelte. »Wir haben Probleme damit, für das neue Resort auf Bali Betten aus nachhaltig angebautem Holz zu bekommen. Miranda tut, was sie kann, aber nachdem die eine Lieferung auf dem Schiffsweg verloren gegangen ist –«
»Dafür findest du sicher eine Lösung. Nach diesem Essen.« Meine Großmutter wartete, bis Mum das Telefon weg
gelegt hatte, dann sah sie in die Runde. »Fangt an.«
Das Büfett war ebenso reichhaltig wie das im Hotel und in der nächsten Viertelstunde herrschte gefräßiges Schweigen. Aber bald legte Grandma die Serviette hin.
»Moira«, fragte sie. »Wie geht es mit dem Neubau voran?«
»Sehr gut. Wir werden sicherlich zum neuen Jahr eröffnen können.«
»Und die Grundrisse?«
Meine Mum sah zu mir. Ich hatte ihr am Telefon erzählt, dass ich kein Fan von Moiras und Paulas Entwürfen war.
»Gibt es da eine endgültige Entscheidung?«
Moira legte die Hände aneinander. »Paula und ich finden Lyalls Vorschläge zu der Aufteilung des Erdgeschosses interessant. Aber wir wollten noch eine Präsentation morgen abwarten. Paulas Praktikantin hat angeboten, einen Raumteiler zu designen, um den neuen Grundriss zu strukturieren.«
»Ihr macht diese wichtige Entscheidung von einer Praktikantin abhängig?« Meine Großmutter sah Moira missbilligend an.
»Sie ist ziemlich gut«, warf ich ein. Sofort lagen aller Augen auf mir. Der Blick von Edina war besorgt, der meiner Mutter eher fragend, der von Moira und meiner Großmutter wachsam. Ich wusste, ich hätte das nicht sagen sollen, aber die Worte waren schneller gewesen als mein Verstand.
»Ach ja?« Grandma musterte mich mit jeder Sekunde eindringlicher. »Und das ist deine fachlich fundierte Meinung?«
Fiona schnaubte belustigt. Ich wollte antworten, aber unsere Großmutter kam mir zuvor.
»Lyall, wenn du schon fertig bist, begleite mich doch in Moiras Büro.« Sie stand auf. Es klang nicht so, als wäre ihr diese Idee erst jetzt gekommen, und ich ahnte langsam, dass unser Familienoberhaupt nicht den weiten Weg von ihrem Sommerhaus auf der Isle of Skye hierher gemacht hatte, weil das Rührei so gut schmeckte.
»Natürlich«, antwortete ich und erhob mich. Als ich den Raum hinter Grandma verließ, standen Moira, Fiona und meine Mutter ebenfalls auf. Ich sah meine Schwester fragend an, aber die hob nur ratlos die Schultern. Offenbar hatte ihr von dieser Sache niemand etwas gesagt.
Moiras Büro war mit Holz vertäfelt und in jeder Hinsicht düster – dunkles Holz, dunkle Teppiche, dunkle Vorhänge. Ich hatte diesen Raum, den sie nach Grandmas Auszug nicht verändert hatte, nie sonderlich gemocht, aber seit vor drei Sommern hier ein Gespräch geführt worden war, das mein Leben auf ewig verändert hatte, hasste ich ihn regelrecht.
»Womit habe ich dieses Tribunal verdient?«, fragte ich und blieb vor dem massiven Mahagoni-Schreibtisch stehen, während sich Grandma und Moira dahinter positionierten und meine Mutter genau wie Fiona auf den Sesseln an der Seitenwand Platz nahmen.
»Das würde mich auch interessieren.« Meine Mum schlug die langen Beine übereinander. »Soweit ich weiß, war der gestrige Abend ein voller Erfolg und die von Lyall organisierte Auktion kam bei den Leuten in Kilmore gut an. Ich habe selbst mit einigen von ihnen gesprochen.«
Meine Großmutter nickte. »Das wurde mir berichtet. Nur leider ist er dann wohl mitten in der Veranstaltung verschwunden und auch nicht mehr zurückgekehrt, bis sie beendet war.«
»Er kann euch hören.« Wenn ich etwas noch mehr hasste als dieses Büro, dann war es, wenn man über mich redete, als wäre ich nicht anwesend.
»Dann sag uns doch mal: Wo warst du die ganze Nacht?« Moira sah mich streng an. »Du bist erst heute Morgen um 4:30 ins Hotel zurückgekommen.«
Also hatte Isla doch gequatscht? »Und ich dachte immer, Verschwiegenheit wäre die wichtigste Eigenschaft einer Concierge«, sagte ich düster.
»Isla hat damit nichts zu tun. Fiona checkt regelmäßig deine Log-Daten und hat dabei entdeckt, dass du erst so spät da warst.«
»Ist das dein Ernst?« Es hätte mich nicht wundern dürfen, dass sie mich derartig überwachten, aber trotzdem hatte ich nicht damit gerechnet. Finster funkelte ich meine Cousine an. Fiona war nicht dumm genug, zu lächeln, aber ich ahnte auch so, der Check meiner Log-Daten war auf jeden Fall ihre Lieblingsaufgabe des Tages.
»Also, Lyall«, sagte meine Großmutter in einem Tonfall, der keine Ausflüchte zuließ. »Wo warst du, nachdem du die Ausstellung verlassen hast?«
»Ich habe einer Freundin geholfen, der es nicht gut ging.« Das war die Wahrheit.
»Etwa Kenzie Stayton?«, fragte Moira.
»Ja, es war Kenzie«, entgegnete ich hart. »Auch wenn ich nicht weiß, was das für eine Rolle spielt.« Es war unglaublich unfair – ich hatte mich Kenzie gegenüber mehrfach nicht anständig verhalten und niemanden hatte es interessiert. Und nun tat ich das Richtige, war der perfekte Gentleman, und dafür wurde ich vor das oberste Henderson-Gericht zitiert?
»Es spielt eine Rolle, weil du dich augenscheinlich für sie interessierst«, sagte Moira. »Auf eine Weise, die hier in Kilmore für dich nicht angemessen ist.«
»Nicht angemessen?« Ich schnaubte. »Glaub mir, ich habe mich vollkommen angemessen verhalten in dieser Nacht. Und überhaupt – hättest du nicht dieses Foto ausgewählt –«
»Himmel, Lyall, schieb doch nicht immer deine Fehler auf andere.« Fiona verdrehte die Augen. Ich hätte so gerne den Briefbeschwerer nach ihr geworfen.
»Meine Fehler? Wer hat sie denn noch dumm angequatscht, als sie völlig außer sich war, nachdem sie das Foto ihrer Mutter gesehen hat! Wie kann man das überhaupt auswählen, wenn man auch nur einen Funken Mitgefühl im Leib hat?« Ich konnte den anklagenden Ton nicht aus meiner Stimme heraushalten.
Moira straffte die Schultern. »Ich habe Kenzie gefragt, ob es ihr recht ist, wenn wir Bilder ihrer Mutter verwenden.«
»Ja, irgendwelche Bilder«, sagte ich, und ignorierte die Stimme der Vernunft, die mich zur Zurückhaltung mahnte. »Aber doch nicht genau das, was ihre Mum direkt vor ihrem Tod gemacht hat.«
Plötzlich sah meine Tante sehr schuldbewusst aus. »Ich wusste nicht … ich wollte doch nicht …« Aber Grandma wedelte ihr Gestammel einfach beiseite und sah stattdessen mich an.
»Es ist mir egal, warum dieses Mädchen die Veranstaltung verlassen hat – du hättest ihr nicht nachgehen und mit ihr die Nacht verbringen dürfen. Die Regeln waren klar, Lyall. Keine Eskapaden, solange du in Kilmore bist.«
»Ich hatte nichts mit ihr, Herrgott!«, rief ich genervt. Wieso interessierte hier eigentlich niemanden die Wahrheit? »Sie war betrunken und hat die Hälfte der Zeit nur geweint! Glaubt ihr ernsthaft, ich würde da an Sex denken? Ich habe nur auf sie aufgepasst, verdammt!«
»Lyall«, mahnte meine Mum. Ich funkelte sie an. Gerade sie hätte auf meiner Seite sein müssen, aber ganz gleich, wie emanzipiert und selbstbewusst sie sonst war, vor Grandma kuschte sie trotzdem.
Die schoss jetzt einen warnenden Blick auf mich ab. »Es ist mir ausgesprochen egal, welches dieser jungen Dinger du … wie nennt ihr das? Becirct?«
»Nein, so nennen wir das nicht«, widersprach ich, obwohl ich wusste, dass die Frage rhetorischer Natur war und ich besser den Mund gehalten hätte. Deswegen durfte ich Grandma nie begegnen. Weil ich jedes Mal gefährdete, was sie früher oder später zur bloßen Deko im Familienrat machen sollte.
»Dann ersetze den Ausdruck doch bitte durch ein geeignetes Pendant deiner Wahl.« Sie ließ sich nicht beirren. »So oder so hatten Henderson-Männer immer schon einen Hang dazu, sich ihre Bestätigung beim weiblichen Geschlecht zu suchen. Aber wenn du das hier tust, verstößt du gegen unsere Auflagen. Die waren deutlich: ein Sommer in Kilmore, du überzeugst die Menschen davon, dass du dich geändert hast, und niemand wird dir deinen Weg in das Unternehmen versperren. Falls du dagegen verstößt, hast du die Konsequenzen selbst zu verantworten.«
Ich schwieg einen Moment und dachte nach. Der geplante Umsturz der Familie war allein auf meinem Mist gewachsen, und ich konnte mit einem Fingerschnippen alles abblasen, mich zurückziehen und mein eigenes Leben leben. Und wenn ich daran dachte, wie Kenzie mich in der letzten Nacht gebeten hatte, bei ihr zu bleiben, oder wie sie sich in meinen Armen angefühlt hatte, dann kam mir das plötzlich gar nicht mehr so schlimm vor. Aber ich wusste, es ging hier nicht nur um mich. Es gab so viele Gründe, warum das keine echte Möglichkeit war, einer schwerwiegender als der nächste
.
»Du hast doch nicht vergessen, was mit Ada Warner passiert ist, oder, Lyall?« Meine Grandma kannte einen dieser Gründe auch. Gerade sie.
Ich biss die Zähne aufeinander. »Natürlich nicht«, presste ich hervor. Das würde ich den Rest meines Lebens nicht vergessen.
»Gut. Dann weißt du ja auch, was von dir erwartet wird, damit sich so etwas nicht wiederholt.« Sie erhob sich. »Fürs Erste wirst du die Stadt jedoch verlassen. Du kannst gehen und packen.«
»Packen? Wofür?« Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme alarmiert klang.
»Du begleitest deinen Onkel zu einem Benefiz-Golfturnier in Andalusien.« Grandma ließ sich von Moira einen Umschlag reichen, in dem sicherlich ein Ticket war. »Da dein Cousin Logan aufgrund seiner Prüfungen verhindert ist und Finlay nicht einspringen kann, weil er auf den Fidschi-Inseln irgendwelche Bikini-Schönheiten flachlegt – du siehst, ich weiß sehr genau, wie ihr jungen Leute das nennt –, ist ein Platz frei geworden. Das Turnier startet morgen, es dauert mit allen Veranstaltungen eine Woche.«
Eine Woche. Eine Woche weg aus Kilmore, das wäre mir vor einer Weile noch wie das Paradies erschienen. Aber jetzt kam es mir furchtbar falsch vor. Kenzie hatte morgen ihre Präsentation, und da das Grundkonzept von uns beiden stammte, hatte ich unbedingt dabei sein wollen. Und dass du sie wiedersehen willst, hat damit nichts zu tun?
»Wäre es für meine Rehabilitation nicht besser, wenn ich vor Ort bleiben würde?«, fragte ich. Nur ein Blick von allen Beteiligten und ich wusste, damit hatte ich mich verraten. Ich sah hilfesuchend zu meiner Mutter, aber die hob die Schultern und schwieg.
»Keine Diskussion, Lyall«, sagte meine Grandma. »Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Ma’am.« Ich nickte.
»Gut.« Sie bedachte mich mit einem letzten missbilligenden Blick, dann war das Gespräch beendet.
Als alle anderen wieder zurück an den Frühstückstisch kehrten, hielt ich meine Mutter auf.
»Wäre es zu viel verlangt gewesen, dass du ein einziges Mal zu mir hältst, statt vor Grandma den stummen Diener zu geben?«, knurrte ich.