by Kira Mohn
Sie sieht mich darauf direkt an, und obwohl sie auf dem Bild nicht lächelt, wirkt sie nicht abweisend, sondern einfach nur sehr … ernsthaft. In diesem Moment hat sie über die Pikas nachgedacht und darüber, dass Menschen diese Tiere nicht so behandeln, wie sie ihrer Ansicht nach behandelt werden sollten. Sieht sie deshalb traurig aus? Wütend?
Ich vergrößere den Ausschnitt ihres Gesichts.
Weder noch, entscheide ich. Vielleicht ging es doch nicht um die Pikas. Vielleicht lese ich in ihren Augen einfach nur die Überraschung eines Menschen darüber, plötzlich fotografiert zu werden.
Was willst du von mir? , scheint sie zu denken, und über diese Frage grübele ich eine ganze Weile lang nach, bevor ich es aufgebe.
Ich lasse das Smartphone sinken. Nachdem mein Blick sich gerade auf das helle Display gerichtet hatte, scheint die Dunkelheit noch undurchdringlicher als zuvor. Weder der Mond noch Sterne sorgen für ein bisschen Licht, und ich schalte die Handy-Taschenlampe ein.
Kurz darauf habe ich den Reißverschluss des Zelteingangs geschlossen und die Campingleuchte angemacht, die das Innere in ein gelbliches Licht taucht. Eine ganze Weile wälze ich mich hin und her, bevor ich schließlich noch einmal nach dem Smartphone greife, um vor dem Einschlafen ein letztes Mal Havens Blick zu studieren.
Was willst du von mir?
Ich habe keine Ahnung. Aber irgendetwas will ich tatsächlich von dir, das steht fest, und ich habe noch vier Tage, um eine Antwort darauf zu finden, was genau das ist.
6
HAVEN
O bwohl es weit nach Mitternacht war, als ich gestern endlich eingeschlafen bin, werde ich noch vor Sonnenaufgang wieder wach. Sechs Uhr zweiundzwanzig, erklärt mir mein Radiowecker, und ich schließe noch mal die Augen, weil in ziemlich genau acht Minuten mein Vater das Badezimmer betreten wird. Halb sieben ist seine Zeit.
Als ich ihm gestern beim Abendessen erzählt habe, dass ich mit Jackson unterwegs war, hat das den üblichen Ablauf ein wenig durcheinandergebracht. Normalerweise nickt oder brummt er an den passenden Stellen, hin und wieder stellt er eine Frage oder sagt etwas zu dem, was ich ihm von meinem Tag berichte, doch dass er die Gabel beiseitelegt und mich genauer ins Visier nimmt, obwohl sich auf seinem Teller noch Schwarzwurzelgemüse und ein Rest vom Steak befinden, kommt selten vor.
«Jackson? Der Freund von diesem Jungen, den ich ins Krankenhaus gefahren habe?», wollte er wissen und hat mich gemustert, als würde er mir mindestens noch eine Frage stellen wollen, wenn nicht gleich drei. Letzten Endes jedoch griff er nur wortlos wieder zu seinem Besteck und aß weiter, und ich verzichtete darauf, ihm zu berichten, was Jackson und ich gemacht haben.
Es war ein so schöner Tag gewesen, doch es fühlte sich nicht so an, als würde Dad verstehen können, warum er so besonders für mich war.
In der kleinen Diele vor meinem Zimmer knarren die Holzbohlen, die Badezimmertür wird geöffnet und wieder geschlossen.
Den ganzen Abend hatte ich damit gerechnet, dass Dad noch etwas zu Jackson sagen würde, doch dass es weiter in ihm arbeitete, zeigte sich erst, als er von seiner Zeitung aufsah, nachdem ich ihm gute Nacht gewünscht hatte. In Erwartung seiner üblichen Erwiderung – «Schlaf gut» – war ich bereits dabei, die Stufen nach oben hinaufzusteigen.
«Trefft ihr euch morgen wieder, du und dieser Jackson?»
Etwas in seiner Stimme ließ mich wachsam werden.
«Er kommt morgen gegen zehn vorbei.»
«Er ist ein Städter.»
Genauso gut hätte Dad an dieser Stelle ‹Er ist ein Idiot› sagen können. Städter – ein Städter ist zusammengefasst alles, was Dad leise verachtet, und diese Tatsache war es, die mich wach hielt, nachdem ich mich mit einem Schulterzucken abgewendet hatte, und die mich auch jetzt, direkt nach dem Aufwachen, wieder beschäftigt.
Ich bin neunzehn Jahre alt, und meistens fühle ich mich auch so. Ich habe einen Highschool-Abschluss, studiere seit immerhin zwei Jahren Umweltwissenschaften, und ich erfülle bereits jetzt fast alle Voraussetzungen, die man mitbringen muss, um als Rangerin arbeiten zu dürfen. Würde Dad heute aufhören wollen – mal so rein theoretisch , tatsächlich scheint mir das unvorstellbar –, wäre ich durchaus in der Lage, in seine Fußstapfen zu treten.
Ich bin in jeder Hinsicht fähig, für mich selbst zu sorgen, ich bin erwachsen. Trotzdem habe ich mich gestern Abend plötzlich sehr viel jünger gefühlt, und ich brauche kein zusätzliches Psychologiestudium, um zu erkennen, dass Dads Bemerkung eine Trotzhaltung in mir ausgelöst hat, die andere garantiert nicht erstmalig mit neunzehn verspüren. Es frustriert mich, dass Dad offensichtlich nicht viel von Jackson hält. Seine Vorurteile haben dem gestrigen Tag einen Dämpfer verpasst.
Aus genau diesem Grund bleibe ich liegen, obwohl ich normalerweise aufstehen und zu ihm hinunter in die Küche gehen würde, wo er vermutlich gleich einen ersten Kaffee trinken wird.
Bis zehn ist noch reichlich Zeit, um mich anzuziehen und zu frühstücken, bevor ich mit Jackson heute zu den Athabasca Falls gehen werde. Die Wasserfälle sind um diese Jahreszeit zwar ziemlich überlaufen, doch mit etwas Glück sehen wir Gracie, wenn wir dem Fluss weiter nach Süden folgen. Jacksons Fotosammlung verträgt bestimmt noch eine Elchdame.
Mit halbgeschlossenen Augen döse ich vor mich hin, als es vor meiner Zimmertür plötzlich erneut knarrt und ein leises Klopfen zu hören ist. Überrascht setze ich mich auf. «Ja?»
Mein Vater öffnet die Tür. «Guten Morgen. Ich wollte dir nur einen schönen Tag wünschen. Ich hab dich nicht geweckt, oder?»
«Nein, ich war schon wach.» Ist das schon mal vorgekommen? Dass Dad sich am frühen Morgen von mir verabschiedet, wenn ich nicht zu ihm nach unten komme? In den letzten ein, zwei Jahren jedenfalls nicht. «Ist alles in Ordnung?»
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, benötigt mein Vater ein paar Sekunden. «Sicher. Also – ich denke schon. Oder nicht?»
«Doch. Klar», erwidere ich automatisch, und Dad verzieht die Mundwinkel zu etwas, das als Lächeln durchgehen könnte.
«Wo wollt ihr heute hin, du und … Jackson?»
«Zu den Wasserfällen.»
Er nickt langsam. «Dann viel Spaß.»
«Danke.»
«Ich könnte euch dort absetzen.»
«Ernsthaft? Du willst warten, bis Jackson da ist?»
«Kommt drauf an. Wann wollt ihr los?»
«Erst um zehn. Und wir laufen eigentlich lieber. Trotzdem danke», füge ich hinzu. Auch wenn klar ist, dass mein Vater nur einen etwas genaueren Blick auf Jackson werfen will, weiß ich durchaus zu würdigen, dass er noch einmal in mein Zimmer gekommen ist. Normalerweise macht er um jeden potenziellen Konflikt einen großen Bogen.
«Okay, dann also bis heute Abend.»
«Ja, bis heute Abend.»
«Wann genau bist du denn wieder da?»
«Dad!» Da ist es wieder. Dieses Gefühl, nicht neunzehn Jahre alt, sondern maximal vierzehn zu sein. «Seit wann willst du von mir wissen, wann ich wieder nach Hause komme?»
Abwehrend hebt er beide Hände. «War nur eine Frage. Ich könnte euch abholen.»
«Du musst uns weder bringen noch holen. Ich kenne mich gut genug aus, um auch ohne deine Hilfe jeden beliebigen Ort im Umkreis zu erreichen. Also – willst du sonst noch etwas wissen? Jacksons Telefonnummer vielleicht?»
«Du hast seine Telefonnummer?»
«Natürlich habe ich die. Wie sollte ich ihn sonst erreichen, wenn irgendetwas dazwischenkäme?»
«Und er hat deine?»
«Hör zu.» Ich setze mich endgültig auf und bemühe mich um einen versöhnlichen Ton. «Jackson und ich wandern heute zusammen zu den Wasserfällen. Mehr nicht, okay? Wir werden herumlaufen, er wird Fotos von jedem Tier schießen, das in seine Sichtweite kommt, zwischendurch werden wir etwas essen, und das war’s.»
«Ich will nur, dass du weißt, dass ein junger Mann wie Jackson …»
«Okay, jetzt reicht’s!» Ich schlage die Decke zurück und schwinge die Beine über die Bettkante. «Was wird das hier? Hast du vor, mir gleich noch etwas über Blumen und Bienen zu erzählen?» Obwohl ich eine Leggins
und ein weites Shirt trage, schaudere ich kurz, als die Wärme zusammen mit der Decke verschwindet. «Ich zeige Jackson ein bisschen was von der Umgebung. Er kennt sich hier nicht aus, ich schon. Er ist nett und lustig, und es kommt ja nun nicht so oft vor, dass ich mal jemanden in meinem Alter treffe!»
«Ebendeshalb möchte ich …»
«Dad, kannst du aufhören, dir irgendwelche völlig absurden Sorgen zu machen?», unterbreche ich meinen Vater, und vermutlich führt die Lautstärke, mit der ich diesen Satz ausspreche, dazu, dass er überrascht den Mund wieder schließt. «Ich passe auf mich auf. Also wünsch mir doch einfach ‹Viel Spaß›, okay?», füge ich wesentlich sanfter hinzu.
All die unausgesprochenen Ermahnungen stehen ihm noch immer ins Gesicht geschrieben, doch er atmet lediglich einmal tief durch. «Okay. Viel Spaß», wiederholt er meine Worte.
«Danke.»
Ein paar Sekunden später hat er die Tür wieder geschlossen, und ich streiche mir seufzend mit beiden Händen die Haare aus dem Gesicht.
Mit neunzehn. Ein solches Gespräch mit neunzehn. Es wäre absolut lächerlich, würden wir diese Diskussion nicht zum allerersten Mal in meinem Leben führen. Keine Ahnung, ob ich mich anders fühlen würde, wäre ich jünger – vielleicht würde ich ihm dann eher zugestehen, dass seine Sorgen berechtigt sind.
Eine Bewegung draußen lässt mich zum Fenster sehen, wo mein Vater gerade zu seinem Wagen geht. Er wirft seine Tasche auf den Beifahrersitz, bevor er einsteigt und den Motor anlässt. Sekunden später ist der Pick-up zwischen den Bäumen verschwunden.
Nein. Nein, ich würde mich nicht anders fühlen. Die Überzeugung, über mein Leben allein entscheiden zu wollen, wäre mit vierzehn garantiert nicht weniger ausgeprägt als mit neunzehn.
Ich suche mir meine Kleider zusammen und tapse barfuß die Diele entlang ins Badezimmer.
Bevor Dad in mein Zimmer kam, habe ich mich einfach auf einen schönen Tag gefreut, den ich nicht allein verbringen werde. Es macht mir Spaß, Jackson herumzuführen und ihm all die Dinge zu zeigen, die ganz selbstverständlich zu meinem Leben gehören und die er aufregend findet.
Jetzt allerdings mache ich mir Gedanken darüber, dass ich diesen schönen Tag mit jemandem verbringen werde, den ich nett finde. Dessen Lachen ich mag. Bei dem sich irgendetwas in mir verändert, wenn er mich ansieht.
Ich weiß nicht, ob meinem Vater gefallen würde, welche Richtung meine Gedanken durch unser Gespräch von eben genommen haben.
Vermutlich nicht.
Doch ganz egal, wie er es sehen würde: Auf jeden Fall kann ich es kaum erwarten, Jackson heute wieder zu treffen.
JACKSON
A ls ich mich dem Haus nähere, in dem Haven wohnt, ist es anders als gestern und gleichzeitig ähnlich. Anders, weil ich weiß, dass Haven auf mich wartet, und ähnlich, weil ich trotzdem geradezu lächerlich aufgeregt bin. Sie öffnet die Tür, noch bevor ich geklopft habe, und das Lächeln auf ihrem Gesicht zeigt deutlich, dass sie sich freut, mich zu sehen.
«Hi!» Sie trägt dieselbe Jacke wie gestern, dieselben Stiefel und vermutlich auch dieselben Jeans. Derselbe Rucksack, dieselben wilden Haare.
«Hey», erwidere ich.
Es ist ein seltsamer Moment, einer, in dem die Sekunden sich erst auszudehnen scheinen, um sich dann wieder zusammenzuziehen. Ich trete zu Seite, als Haven die Tür hinter sich schließt. Ganz kurz denke ich, sie werde als Nächstes nach meiner Hand greifen, doch nein, natürlich nicht.
«Ich dachte, wir könnten uns heute die Athabasca Falls ansehen, es ist kein langer Weg», sagt sie. «Wir brauchen keine zwei Stunden.»
«Klingt gut.»
Heute verlassen wir den Pfad nicht, um nach einer Wapitiherde zu suchen, und obwohl ich besser daran täte, auf Wurzeln und Äste zu achten, muss ich ständig Haven ansehen. Mehr als einmal begegne ich dabei ihrem Blick.
«Was machst du eigentlich, wenn du mich nicht gerade durch den National Park führst?», frage ich irgendwann und bin gespannt auf ihre Antwort. Sie lebt hier offenbar ganz allein, nur mit ihrem Vater. Was ist mit ihrer Mutter? Hat sie Geschwister? Freunde?
«Hauptsächlich unterstütze ich meinen Vater. Kontrolliere Wanderwege und so. Und ich studiere.»
«Was denn?»
«Ich will meinen Schwerpunkt auf Umweltwissenschaften legen.»
«Aber du bist nicht nur während der Semesterpausen hier, oder?»
«Nein, es ist ein Fernstudium», erwidert sie. «Wenn ich fertig bin, will ich mich ganz offiziell als Rangerin bewerben.»
«Im Jasper National Park?»
«Ja, sicher.»
«Hast du jemals woanders gelebt?»
«Nein. Oder doch», korrigiert sie sich unmittelbar. «Bis ich sieben war, habe ich in Edmonton gewohnt.»
«Und warum seid ihr hierhergezogen? Weil dein Vater den Ranger-Job bekommen hat?», hake ich nach.
«Meine Mutter hatte einen Unfall. Sie starb, und mein Vater hat sich hier im Park beworben und die Stelle gekriegt.»
«Das tut mir leid.»
«Es ist ziemlich lange her.»
Ohne Vorwarnung taucht sie nach rechts ins Unterholz ein, und erst als ich die Zweige auseinanderschiebe, die sich direkt hinter ihr wieder geschlossen haben, ist eine nahezu unsichtbare Schneise im Gestrüpp auszumachen.
«Und was machst du, wenn du nicht gerade über Bären stolperst?», fragt Haven über die Schulter hinweg. Während mir ständig Äste die Augen auszustechen drohen, scheinen sie ihr den Weg geradezu freiwillig freizugeben.
«Ich studiere auch. In Edmonton. Jura.»
«In Edmonton. Willst du Anwalt werden?»
«Vielleicht.»
«Vielleicht?»
«Ich bin noch nicht sicher, ich weiß noch nicht genau, in welche Richtung ich gehen will.»
«Welche Möglichkeiten gibt es denn?»
«Na ja, ich könnte Staatsanwalt werden oder Richter. Oder Steuerberater.»
«Spannend.»
Ich fange den Blick auf, mit dem sie mich für einen Moment mustert. Natürlich hat sie das nicht ironisch gemeint.
«Du findest das spannend?»
«Ja. Du etwa nicht? Ich meine, du studierst das immerhin. Okay, Steuerberater klingt nicht wirklich aufregend, aber Staatsanwalt oder Richter? Da hast du doch eine Menge Verantwortung.»
«Ja, vermutlich», erwidere ich.
Eine Weile laufen wir wortlos hintereinanderher. Würde Haven jetzt plötzlich verschwinden, würde ich ohne meine App niemals wieder hier rausfinden. Meinte ich vorhin noch einen Weg zu erkennen, scheint es mittlerweile so, als schlügen wir uns einfach planlos durchs Unterholz.
«Du hast dich nicht selbst für dieses Studium entschieden, oder?», durchbricht Haven das Schweigen, und ich beiße kurz die Zähne zusammen.
«Nein.»
«Warum studierst du es dann?»
«Mein Vater ist Anwalt.»
«Aha.»
«Und sein Vater. Und dessen Vater. Es ist … eine Familientradition. Würdest du Rangerin werden wollen, wenn dein Vater hier nicht arbeiten würde?»
«Ja.»
«Du hast nie darüber nachgedacht, vielleicht etwas anderes zu tun?»
«Nein, nie. Jedenfalls nicht ernsthaft.»
«Was bedeutet ‹nicht ernsthaft›? Als Gedankenspielerei aber schon?»
Einmal mehr dreht Haven sich zu mir um. Ein Zweig federt zurück, und es gelingt mir gerade noch rechtzeitig, ihm auszuweichen.
«Du blutest», sagt sie.
«Was?»
«Du blutest.» Sie ist stehen geblieben, und als ich näher trete, tippt sie behutsam mit dem Finger an meine Wange. «Hier.»
Ein Kribbeln durchfährt mich. Ich muss mich zwingen, nicht nach ihrer Hand zu greifen.
«Es ist nur ein Kratzer. Er tut nicht weh, oder?», fragt sie und sieht dabei fast schuldbewusst aus.
«Ich hab’s nicht mal bemerkt.»
So dicht vor ihr zu stehen und den Blick ihrer grauen Augen auf mir zu spüren lässt ein seltsam sehnsüchtiges Gefühl in mir aufkommen. Um uns herum gibt es nur Bäume und Sträucher und Blätter und Gras, nichts ist zu hören, abgesehen
von Vogelgezwitscher, den Wind zwischen den Tannenzweigen und gelegentlich einem zarten Rascheln im Unterholz. Noch immer meine ich ihre Berührung auf meiner Wange spüren zu können, und würde ich sie jetzt an mich ziehen …
«Am besten, wir laufen etwas langsamer. Wir haben es ja nicht eilig.»
Als sie sich abwendet, um weiterzugehen, presse ich für einen Moment die Lippen zusammen. Was genau passiert hier? Sie sieht gut aus, keine Frage, und sie hat etwas an sich, das mich fasziniert. Diese vollkommene Sicherheit, die sie umgibt, wenn sie Haven, das Mädchen aus dem Wald, ist. Und die Unsicherheit in ihrem Gesicht, sobald sie es mit etwas zu tun bekommt, das nicht dazugehört. Mit der Frage zum Beispiel, welches Leben sie sich außerhalb dieses Waldes vorstellen könnte. Aber ist das schon Erklärung genug dafür, dass ich sie gerade am liebsten geküsst hätte?
«Wir sind fast da.» Sie dreht sich zu mir um und schenkt mir ein Lächeln. Als ich die Klette in ihrem Haar entdecke, denke ich nicht weiter darüber nach, sondern beuge mich vor und zupfe das Ding mit einer langsamen Bewegung heraus. Die Strähne fühlt sich weich an.
Haven ist stehen geblieben. Sie betrachtet die Klette zwischen meinen Fingern, dann sieht sie mich an. Und die Fragen, die ich in ihren Augen lese, kommen mir verdammt bekannt vor.
7
HAVEN
J ackson wirkt, als wolle er noch etwas sagen, aber er tut es nicht, und ich fühle mich, als müsse ich etwas tun, doch ich weiß nicht, was.
«Man kann den Wasserfall schon hören», sage ich schließlich. Mit einer solchen Feststellung lässt sich nichts verkehrt machen.
Er lauscht, schüttelt dann aber den Kopf. «Ich hör nix.»
«Lass uns weitergehen, wir sind schon ganz in der Nähe.»
Dass er nicht mehr direkt vor mir steht, bringt das unwirkliche Gefühl, das mich gerade ergriffen hat, nicht völlig zum Verschwinden, aber es wirkt sich nicht mehr ganz so lähmend auf mein Denken aus. Ich wäre gern normal. In dieser Sekunde wäre ich so unendlich gern eine ganz normale junge Frau, eine, die weiß, wie man reagieren muss, wenn man plötzlich durch eine Berührung aus der Fassung gebracht wird. Fast hätte ich nach seiner Hand gegriffen, und was wäre dann geschehen?