by Kira Mohn
Schließlich verschwinden auch sie und werden ersetzt durch staubgraue Erde, zubetonierte Industrieflächen und langgezogene Fabrikbauten. Ich fahre vorbei an Werbetafeln, Supermärkten und Hotels, und der Verkehr, der sich zwischenzeitlich wieder aufgelockert hatte, beginnt sich erneut zu stauen. Tankstellen. Telefonkabel, ins fade Himmelsgrau hineingezeichnet. Die Straße ist hier dreispurig, und auf ebenso vielen Spuren schiebt sich der Gegenverkehr entlang. Jackson hat behauptet, Edmonton sei eine grüne Stadt, und es scheine beinahe immer die Sonne, doch aktuell wirkt alles nur trostlos und hässlich. Erst als ich das Industriegebiet verlasse und tiefer in den Stadtkern vordringe, tauchen die ersten, gepflegten Rasenflächen auf, gefolgt von adretten Häusern in Elfenbein, Pastellrosa, Moosgrün und Schiefergrau, mit vereinzelten Bäumen im Vorgarten und gepflasterten Zufahrtswegen.
Tante Caroline wohnt in einem dunkelroten Holzhaus mit weißen Fensterrahmen und zwei spitzen Giebeldächern. Ein mächtiger Ahorn überschattet einen großen Teil des Anwesens. Trotz des noch immer düsteren Himmels wirkt das Gebäude freundlich, einladend sogar, und ich atme langsam aus, während ich den Wagen an den Straßenrand rollen lasse und den Zündschlüssel abziehe.
Hat Tante Caroline Locken? Trägt sie lieber Jeans oder Röcke?
Es ist nicht wichtig, sage ich mir selbst. Gleich wirst du es herausfinden. Und überhaupt: In zwölf Jahren kann sich so viel verändert haben, es würde mir überhaupt nichts nutzen, mich an ihr damaliges Äußeres zu erinnern.
Steifbeinig steige ich aus dem Wagen und schlage die Tür zu. Während ich den Schlüssel in der Jeanstasche versenke, gehe ich auf den Weg zu, der inmitten einer sattgrünen Rasenfläche zum Haus führt. Rollrasen. Unter diesem Ahorn würde doch nie so dichtes Gras gedeihen.
Es gibt keine Veranda, nur eine breite weiße Holztreppe, und als ich zögernd davor stehen bleibe, wird die Haustür geöffnet.
«Haven!»
Eine pummelige kleine Frau stürzt lachend auf mich zu. Sie hat dichtes, kastanienbraunes Haar und trägt einen Hosenanzug, der aussieht, als sei sie gerade aus dem Büro gekommen. Die puscheligen Pantoffeln an ihren Füßen zerstören diesen Eindruck gleich wieder, und weiter komme ich nicht, bevor Tante Caroline mich an sich reißt.
«Hallo», bringe ich schwach heraus. Ich bin einen halben Kopf größer als sie, doch es gelingt ihr trotzdem, mich an ihre Brust zu ziehen. Mit eingeklemmten Armen und nach vorn gebeugt stehe ich da, bis mir ihr Duft in die Nase gerät und mir fast die Knie weich werden.
Tee. Earl Grey. Und etwas Pudrig-Blumiges dazwischen, Flieder.
Ich sitze auf Tante Carolines Schoß, meine Cousine Lucy ist noch ein Baby in ihren Armen. Und sie singt für uns beide ein Lied, als Mum auftaucht, ihre Arme um mich legt und sagt: «Niemand singt so wunderbar wie du, Caroline.»
Ich kann mich daran erinnern, dass ich abgeschnittene Jeans trug, meine Knie waren verpflastert, und ich hielt Lucys Händchen, weil mich diese winzigen Fingerchen so fasziniert haben.
«Wie war deine Fahrt? Hat alles gut geklappt? Du bist so früh, hast du denn keine Pause gemacht? Möchtest du etwas essen?»
Sie entlässt mich aus ihrer Umarmung, und ich richte mich wieder auf. Auf der obersten Treppenstufe stehen zwei Kinder und starren mich an. Lucy ist blond. Ihre langen Haare fallen in weichen Wellen über ihre Schultern, und auf ihrem Gesicht liegt ein Ausdruck, den ich nicht einordnen kann – es wirkt jedenfalls nicht so, als würde sie sich freuen, mich wiederzusehen.
Ihr kleiner Bruder Samuel dagegen grinst ein zahnlückiges Grinsen von einem Ohr zum anderen. «Hi!», ruft er. «Ich bin Sam! Mum sagt, du hast dein ganzes Leben lang in einem Wald gewohnt, stimmt das?»
«Ich sagte, Haven hat in den letzten Jahren in einem Wald gewohnt», wirft meine Tante fröhlich dazwischen. «Sie hat die ersten sieben Jahre ihres Lebens gleich hier um die Ecke gelebt, genau wie du.»
«Ich bin acht!», ruft Samuel. Er hat ebenso blondes Haar wie Lucy, das ihm in wilden Wirbeln vom Kopf absteht. «Kannst du ohne Streichhölzer Feuer machen?»
«Kann ich», erwidere ich. Es hat mich fasziniert, als mein Vater mir gezeigt hat, wie das funktioniert, allerdings habe ich diese Fertigkeit in meinem ganzen Leben noch nie anwenden müssen. Wenn ich mir Samuel ansehe, glaube ich fast, dass sich das endlich einmal ändern wird.
«Hallo.»
Mein Blick schweift zu meiner Cousine. Sie steht immer noch da, den Rücken gegen die Hauswand gelehnt, die Arme verschränkt, und sogar das Lächeln auf ihrem Gesicht wirkt nicht besonders freundlich.
«Ich weiß nicht, ob du dich noch erinnern kannst, Haven», sagt Tante Caroline neben mir. «Du und Lucy, ihr habt früher oft zusammen gespielt.»
«Ich erinnere mich jedenfalls nicht mehr daran.» Lucy stößt sich von der Wand ab und stopft die Hände in die Hosentaschen. «Willkommen.» Sie wendet sich ab und geht ohne ein weiteres Wort zurück in Haus.
Tante Caroline sieht ihr mit gerunzelter Stirn hinterher. «Schwieriges Alter», sagt sie und hebt entschuldigend die Schultern. «Das wird sich geben, wenn du erst einmal eine Weile hier bist. Ich freue mich so sehr, dich zu sehen!» Sie hakt sich bei mir unter und zieht mich die Stufen hinauf. Samuel folgt uns in einen hellen, halbrunden Vorraum hinein, von dem eine weiße Holztreppe in den ersten Stock hinaufführt. Die Garderobenhaken daneben scheinen sich unter der Last unzähliger Jacken zu biegen, und ausgehend von den Schuhen, die darunter verstreut liegen, würde ich auf mindestens zehn Hausbewohner tippen.
«Möchtest du als Erstes dein Zimmer sehen?», will meine Tante wissen. «Oder lieber etwas essen?»
«Mum hat extra für dich gekocht!», ruft Samuel. «Normalerweise bestellt sie immer nur was!»
«Es wird sich noch zeigen, ob das eine gute Idee war», erklärt meine Tante grinsend.
«Bestimmt», sagt Samuel und strahlt seine Mutter an. «Und es gibt auch Nachtisch, oder?»
«Auch das wird sich zeigen.»
«Wenn sie das so sagt, gibt es Nachtisch.» Samuel lacht. «Zeigst du mir, wie man Feuer macht, Haven?»
«Das kann Haven später noch tun. Jetzt wird sie erst mal …» Sie wendet sich mir zu. «Was möchtest du, Haven? Ausruhen oder essen?»
Ich mustere meine Tante und daneben Samuel. «Ich glaube … vielleicht zeige ich Samuel doch gleich, wie man ein Feuer macht.»
Mein kleiner Cousin hüpft vor Freude in die Luft. «Ja!», ruft er. «Du kannst Sam zu mir sagen, Haven. Alle meine Freunde nennen mich Sam.»
JACKSON
A ls ich am Samstagabend vor dem Haus von Havens Tante stehe, bin ich ziemlich aufgeregt, Haven endlich wiederzusehen. Sie war sich nicht sicher, ob es in Ordnung wäre, sich direkt am Tag nach ihrer Ankunft zu verabreden, doch diese Bedenken hat ihre Tante offenbar zerstreut. Wir haben gestern nur kurz telefoniert, und ich bin neugierig, was genau sich hinter den wenigen Sätzen verbirgt, die Haven zu ihrer wiedergefundenen Familie gesagt hat. Alle seien sehr nett und ihre Tante habe sich sehr viel Mühe mit dem Abendessen gegeben – sonderlich aufschlussreich fand ich diese Aussage nicht. Näheren Fragen ist Haven mit der Bemerkung ausgewichen, sie müsse erst einmal alles für sich sortieren.
Unmittelbar nachdem ich auf den Klingelknopf gedrückt habe, wird die Tür aufgerissen, und ein kleiner Junge steht vor mir. Das muss Samuel sein.
«Hallo», sagt er. «Du bist also Havens Mann.»
Überrumpelt starre ich ihn an. «Ähm … hallo», erwidere ich. «Du hast recht, ich bin Havens Freund. Wo ist sie denn?»
«In ihrem Zimmer. Muuum», brüllt er im nächsten Moment über die Schulter. «Havens Freund ist da!»
Eine weitere Tür wird geöffnet, und eine kleine Frau erscheint. Sie wirkt belustigt, als sie ihren Sohn zur Seite zieht und mir eine Hand entgegenstreckt. «Hallo, ich bin Caroline Reynolds», sagt sie. «Freut mich, dich kennenzulernen.»
«Jackson Levy, hi. Ich freue mich ebenfalls», erwidere ich. Ihr Händedruck ist fest und fällt kurz aus.
«Haven müsste jeden Moment runterkommen, Sam hat ja netterweise gleich das ganze Haus informiert», fügt sie mit einem Lachen hinzu.
«Haven kan
n echtes Feuer machen», erklärt mir der Kleine. «Ohne Feuerzeug. Wusstest du das?»
«Bis jetzt noch nicht», sage ich in dem gleichen ernsten Ton, in dem mir diese Neuigkeit mitgeteilt wurde. «Das ist praktisch, oder?»
«Es ist cool.»
«Auf jeden Fall.»
Schritte sind zu hören, und sowohl Samuel als auch Mrs. Reynolds drehen sich zu der Treppe um, die Haven in diesem Moment hinuntersteigt. «Hi.»
Bei ihrem Lächeln wird mir warm. Sie sieht genauso aus, wie ich sie in Erinnerung habe, bis hin zu dem kleinen Rucksack, den sie sich über eine Schulter gehängt hat. Am liebsten würde ich sie in meine Arme ziehen, doch der Abstand, den sie zu mir hält, bringt mich davon ab.
Sie wendet sich an ihre Tante. «Wann soll ich wieder da sein?»
«Wann immer du willst», entgegnet Mrs. Reynolds, und sollte sie über die Frage überrascht sein – ich zumindest bin es –, lässt sie sich nichts anmerken. «Du hast einen Schlüssel. Sei einfach etwas leiser, wenn es spät wird, sonst weckst du vielleicht Sam.»
«Ich bleibe aber auch ziemlich lange auf», wirft der lässig ein, und ich muss grinsen, weil es ihm so offensichtlich wichtig ist, hier nicht den kleinen Jungen abzugeben.
«Gut, dann bis später.»
«Hab einen schönen Abend, Liebes», sagt Mrs. Reynolds warm.
Zumindest auf sie und Sam scheint Havens Aussage zuzutreffen: Beide sind wirklich nett. Noch einmal nicke ich Mrs. Reynolds zu. «Bis bald.»
«Ja, bis bald. Du kannst gern mal auf einen Kaffee vorbeikommen.»
«Mach ich», sage ich und gehe Haven hinterher, die bereits zur Haustür hinausgeschlüpft ist.
In dem Moment, in dem ich das Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür höre, überbrücke ich den Abstand zwischen uns und beuge mich vor, um sie zu küssen. Ihr kurzes Zögern hält nur einen Augenblick lang an, dann wandern ihre Hände über meine Hüften meinen Rücken hinauf, und genau deshalb fällt mein Kuss fordernder aus, als ich es mir vorgenommen habe. Haven weicht nicht zurück, und als ich innehalte, ist sie es, die dort weitermacht, wo ich aufgehört habe.
«Es ist schön, dich zu sehen», murmele ich in ihren warmen Atem hinein, und das Brennen, das sich in mir ausgebreitet hat, unterstreicht jedes einzelne Wort. Verflucht, es ist mehr als nur schön, es ist … ich warte Havens Antwort nicht ab, sondern küsse sie erneut, ein Kuss, der erst ein Ende findet, als Haven ein Stück zurückweicht.
Ich öffne die Augen und sehe sie gerade noch zum Haus ihrer Tante gucken. Okay. Ein Ortswechsel ist angezeigt.
«Ich habe uns einen Tisch reserviert», sage ich, während ich die Autotür für sie öffne. «Das Restaurant ist nicht sehr groß. Ich denke, es könnte dir gefallen.»
«Bestimmt.» Sie setzt sich auf den Beifahrersitz, während ich um das Auto herumlaufe und auf der anderen Seite einsteige.
«Bist du bereit?», frage ich und stecke den Zündschlüssel ins Schloss.
«Sicher», entgegnet sie mit einem Lachen, während sie den Sicherheitsgurt einrasten lässt. «Warum sollte ich das nicht sein?»
«Das wird dein erster Restaurantbesuch, hast du gestern gesagt.»
«Zumindest kann ich mich an keinen anderen erinnern.» Erwartungsvoll sieht sie mich an. «Ich bin gespannt.»
«Ich auch», sage ich und starte den Wagen. «Wenn es dir nicht gefällt, sag Bescheid. Dann fahren wir irgendwohin, wo du ein Feuer machen kannst, und grillen Maiskolben.» Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. «Ich hoffe, es gefällt dir», komme ich ihrer Frage zuvor. «Ich habe nämlich keine Maiskolben dabei.»
«Das war ein Scherz», schlussfolgert Haven und sieht zufrieden aus, als ich nicke. «Schade.»
«Schade?», erwidere ich überrascht und sehe sie grinsen.
«Keine Sorge, auch ein Scherz.»
«Du bist gut», sage ich und mag das Lachen, das meine Worte bei ihr auslösen.
Für Havens ersten Restaurantbesuch habe ich nach etwas gesucht, das weder zu voll noch zu laut sein dürfte. Kein In-Schuppen, vor dem die Leute Schlange stehen, aber auch nichts, was zu gewöhnlich wäre. Letzten Endes war es Cayden, der mir einen Tipp gegeben und mich auf das Atelier aufmerksam gemacht hat. «Ich war da ein paarmal mit meinen Eltern», hat er dazu gesagt, «ist eine Weile her. Ich schätze mal, das dürfte in etwa das sein, was du suchst.»
Das Restaurant liegt ein Stück weit außerhalb von Edmonton, laut Cayden ist es ein Insidertipp, und ohne Reservierung laufe dort gar nichts. Mit ziemlicher Sicherheit übersteigt es mein normales Budget, aber das hier ist ja keine alltägliche Situation. Haven geht zum ersten Mal abends aus, es ist gleichzeitig der erste Abend, an dem wir zusammen ausgehen, es ist das erste Mal, dass sie in einem Restaurant essen wird, und wir haben uns eine ganze Woche lang nicht gesehen. Wiedersehensfeier also auch noch. Da darf es dann schon mal so etwas wie das Atelier sein.
«Also», beginne ich, während ich uns mit Hilfe des Navis in einen hoffentlich schönen Abend lenke. «Wie war es gestern noch? Fühlst du dich wohl bei deiner Tante?»
«Es war seltsam», erwidert Haven. «Also, es war auch schön, und du hast meine Tante ja gerade kennengelernt, sie und Sam sind wirklich toll, und beide bemühen sich, mich überall einzubeziehen. Caroline – sie meinte, ich solle sie einfach Caroline nennen, und sogar Lucy nennt sie so – also, Caroline hat mich so viele Dinge gefragt – was ich gern esse und welche Farben ich mag und ob ich morgens früh aufstehe und lauter solche Sachen. Mittlerweile weiß sie wohl genauso viel über mich wie mein Vater. Vielleicht sogar mehr. Ich bin jedenfalls nicht sicher, ob Dad meine Lieblingsfarbe kennt.»
«Was ist deine Lieblingsfarbe?»
«Blau. Und deine?»
«Ich glaube, ich habe keine.»
Haven mustert mich kurz und wendet sich dann wieder ab. «Lucy freut sich allerdings nicht so sehr darüber, dass ich da bin.»
«Wie kommst du darauf», frage ich überrascht. Irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass sie die Freundschaft zu ihrer Cousine einfach nahtlos wiederaufnimmt.
«Ich weiß nicht.»
Ein schneller Blick zur Seite zeigt, dass Haven genauso aussieht, wie ihre Stimme in diesem Moment klingt. Ratlos. Und auch ein bisschen verunsichert.
«Was hat sie denn gesagt?», will ich wissen.
«Sie redet eigentlich überhaupt nicht mit mir. Gestern, beim Abendessen, saß sie zwar am Tisch, aber sie hat nur auf ihr Smartphone geguckt. Ich glaube, sie hat die ganze Zeit irgendjemandem Nachrichten geschrieben. Und sie schaut mich kaum an.»
«Dass sie ständig Nachrichten schreibt, ist normal», beruhige ich sie. «Wie alt ist deine Cousine noch mal? Sechzehn, oder? Das machen in diesem Alter alle.»
«Warum rufen sie sich nicht an? Nachrichten schreiben dauert doch viel länger.»
«Frag mich was Leichteres», erwidere ich. «Also, ich selbst schreibe auch lieber Nachrichten, weil dann jeder selbst entscheiden kann, wann er sie liest oder darauf antworten will.»
«Ja, aber wenn man jemandem schreibt, und derjenige antwortet sofort, und man selbst antwortet auch gleich wieder …»
«Klar.» Ich nicke. Es ist offensichtlich, worauf Haven hinauswill, und ich weiß gerade selbst nicht, warum ich dieses Prozedere genau so schon eine Million Mal durchgezogen habe. Eine Viertelstunde lang WhatsApps schreiben, statt dreißig Sekunden zu telefonieren. «Ich glaube, es macht einfach jeder, und deshalb haben sich alle daran gewöhnt.»
«Mh.»
Eine Weile halte ich die Stille aus, die sich im Wagen ausbreitet, bevor meine Neugier siegt. «Und wie ist es sonst so? Habt ihr schon über … na ja, über deine Mutter gesprochen?»
«Nein. Also, nicht richtig. Caroline meinte, sie würde meine Mutter vor sich sehen, wenn sie mich anschaut. Mum und ich haben dieselbe Haarfarbe.» Sie zuckt mit den Schultern. «Und sie wollte wissen, woran ich mich erinnern kann, aber da gibt es ja nicht so viel zu erzählen.»
«Das ändert sich vielleicht durch das Fotoalbum.»
«Ja, vielleicht. Ich …» Haven zögert. «Ich habe ein bisschen Angst davor, dass ich es aufschlage und es sich anfühlt, als würde ich mir Fotos v
on jemand anderem anschauen.»
«Setz dich nicht zu sehr unter Druck. Das braucht dann vielleicht einfach nur mehr Zeit.»
«Ja …» Das hört sich an, als würde sie dazu gleich noch etwas sagen, und ich habe recht. «Ich wünschte, Dad hätte mir das Album schon früher gezeigt. Wir hätten es zusammen ansehen können. Früher haben wir oft über Mum gesprochen, er hat nie versucht, so zu tun, als hätte es sie nie gegeben, außer …»
«Außer?», frage ich nach einigen Sekunden, doch Haven schüttelt den Kopf.
«Ich muss noch mal darüber nachdenken», erwidert sie.
Schweigend fahren wir weiter, und das ist wieder einer dieser Momente, in denen ich Haven gern fragen würde, was sie gerade denkt. Sobald sie sich entscheidet, mit irgendetwas allein klarkommen zu wollen, finde ich in ihrem Gesicht nichts mehr als Entschlossenheit. Ob sie wütend auf ihren Vater ist oder enttäuscht von seinem Verhalten – ich habe keine Ahnung.
«Wir sind fast da», stelle ich kurz darauf fest, und Haven, die bisher gedankenverloren auf das Armaturenbrett gestarrt hat, setzt sich auf.
Das Atelier ist Teil eines riesigen Shoppingkomplexes am Rande einer mehrspurigen Straße. Die Parkplätze sind noch immer ziemlich voll, ich hoffe, dass Caydens Beschreibung des Restaurants und die Bilder, die ich mir im Netz angesehen habe, auch den Tatsachen entsprechen.
Havens Hand schiebt sich in meine, nachdem ich den Wagen elektronisch verriegelt habe, und wir gehen an einem Nagelstudio und einem Weinladen vorbei, bevor sich gläserne Schiebetüren für uns öffnen und wieder schließen und wir in einem Gebäude stehen, das sich über mehrere Etagen in die Höhe schraubt, mit Rolltreppen, Schaufenstern und so vielen Menschen, wie ich sie Haven an ihrem ersten Abend eigentlich nicht zumuten wollte.
«Wow.»
Sie sieht zu der verglasten Kuppel auf, die sich über dem gesamten Komplex wölbt, und ich muss lächeln, als sie sich nach einigen Schritten einmal um sich selbst dreht.
«Das Restaurant muss irgendwo im Untergeschoss liegen», sage ich und suche die Umgebung nach Hinweisschildern ab. Mit einer der Rolltreppen fahren wir schließlich ins Untergeschoss, doch erst als ich mir eine Informationstafel genauer ansehe, gelingt es mir, den Zugang zum Atelier zu finden. Die schmale Treppe, die zwischen künstlichen Weinranken nach unten führt, kenne ich bereits von den Bildern, die ich online gesehen habe – nur war auf dem Foto nicht ersichtlich, dass sich links von den Plastikblättern ein Schuhladen und rechts davon ein Sportgeschäft befindet. Ich dirigiere Haven die Stufen hinunter, einigermaßen erleichtert, dass die Geräuschkulisse der vielen Menschen hinter uns zurückbleibt, und öffne, unten angekommen, eine schwere Holztür, die endlich meiner Vorstellung von dem Restaurant entspricht, in dem ich heute Abend mit Haven essen will.