001 - Wild like a River

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001 - Wild like a River Page 28

by Kira Mohn


  «Jax, sie hat ihm auf die Füße gekotzt.»

  «Na und?»

  «Sah sie für dich allen Ernstes so aus, als hätte sie Spaß gehabt?»

  «Wie man halt so aussieht, wenn man gerade kotzen musste.»

  «Das glaub ich jetzt nicht – wir reden hier von deinem Waldmädchen!»

  «Ja, genau das tun wir! Und hast du mir nicht erzählt, dass ich mir Gedanken darüber machen sollte, ob Haven wirklich was von mir will oder ob ich nicht nur zufällig der Erste war, der vorbeikam? Hast du? Ja, hast du!»

  Cayden öffnet den Mund – und schließt ihn wieder.

  «Also komm mir jetzt nicht so. Und hör verdammte Scheiße noch mal auf, sie so zu nennen!» Cayden anzubrüllen fühlt sich so gut an, wie es mich weiter in Rage bringt. «Sie ist sich übrigens selbst nicht sicher, ob sie sich nicht so verhalten hat, als hätte sie Bock darauf gehabt. Vielleicht weiß sie selbst nicht so genau, ob sie es nicht mal mit einem anderen versuchen wollte.»

  «Jax. Du hast sie gerade gesehen. Und du hast diesen Typen gesehen. Ihr ging’s einfach nur beschissen, und dieser Drecksack konnte sich gar nicht schnell genug verziehen. Vielleicht war es blöd, dass sie mitgegangen ist, aber du hast doch gerade selbst gesagt, dass der Arsch deshalb keinen Freibrief hatte – sie hat nix falsch gemacht. Wir reden hier nicht von Stella, die sich in der Küche begrabbeln lässt. Und wir reden übrigens auch nicht von Lynn», fügt Cayden hinzu, und ich lasse mich an der Wand neben dem Flur hinunterrutschen, weil ich mich plötzlich fühle, als habe man mir die Füße weggetreten.

  «An die denkst du doch, oder?», fährt Cayden fort. «An Lynn. Aber du weißt, dass das nicht vergleichbar ist. Auch wenn sie dir so wichtig war, wie dir jetzt Haven wichtig ist.»

  Ich hab Kopfschmerzen. Kurz presse ich mir beide Handflächen gegen die Stirn, dann lasse ich meinen Kopf schwer gegen die Wand sacken. «Wieso hast du mit solchen Sachen eigentlich immer recht und bist gleichzeitig so ein gefühlloser Arsch?»

  «Ich bin nicht gefühllos», erwidert Cayden. «Meinetwegen ein Arsch, aber nicht gefühllos. Ich lass das nur nicht raushängen. Wärst du in meiner Familie groß geworden, würdest du das auch nicht.»

  Cayden redet nie über seine Familie. Niemals. Und über meine Familie reden wir genauso wenig. Unsere Freundschaft ruht auf einer spiegelglatten Oberfläche, und erst durch Haven hat das alles Risse bekommen. Es ist schwer, weiterhin unangreifbar zu bleiben, wenn es ganz offensichtlich etwas gibt, das einen so verletzlich macht.

  Ich hole Luft.

  «Frag mich jetzt bloß nicht nach meiner Familie.» Cayden lächelt sein gewohntes Cayden-Lächeln. Ein wenig spöttisch und von oben herab. «Überleg dir lieber, wie du das mit Haven wieder in Ordnung bringst.»

  29

  HAVEN

  C aroline gibt sich Mühe. Sie gibt sich wahnsinnig große Mühe, und es tut mir wirklich leid, aber ich kann nicht. Ich kann heute Morgen nicht so sein wie immer, nicht mit Sam lachen oder Caroline von der Party gestern erzählen, so wie ich es tun würde, hätte ich mir letzte Nacht nicht auf die Füße gekotzt und würde mir beim Gedanken an Jon nicht gleich wieder übel werden. Bei dem Gedanken an Jon und an meine eigene Blödheit.

  Heute sitzen gleich zwei Leute am Frühstückstisch, die schweigend Cornflakes löffeln – in meinem Fall mehr rühren als löffeln. Ich hab keinen Hunger. Und ich habe Kopfschmerzen. Das ist dann wohl der Zustand, der einen am nächsten Tag erwartet, wenn man zu viel Alkohol getrunken hat. Jackson hatte das erwähnt.

  Jackson.

  Ich muss immer an den Blick denken, mit dem er mich im Auto angesehen hat. Als hätte ich ihn enttäuscht. Hab ich ja auch.

  «Möchtest du noch Tee, Haven?» Carolines Blick dagegen ist besorgt. Ich wünschte, ich wäre eine bessere Schauspielerin. Ich wünschte, ich wäre zu Hause. Mühsam ringe ich mir ein Lächeln ab und schüttele den Kopf.

  Sie mustert mich noch ein paar Sekunden lang, dann entwischt ihr ein Seufzen, das sie mit einem Räuspern zu kaschieren versucht. «Sam, musst du heute noch was für die Schule machen?»

  Während Sam gar nicht schnell genug versichern kann, dass er bereits alles erledigt hat, schiebe ich mir einen Löffel Cornflakes in den Mund und beschließe in derselben Sekunde, dass ich einfach nichts essen kann.

  «Ich muss noch ein bisschen was für morgen erledigen», sage ich und rücke den Stuhl zurück. «Tut mir leid, ich hab echt keinen Hunger.»

  «Das macht doch nichts», erwidert Caroline und steht ebenfalls auf. «Haven …» Sie führt mich am Arm bis zur Tür des Esszimmers. «Ist gestern irgendetwas passiert? Egal, was war, du kannst mit mir reden.»

  «Nein, es war nichts. Wirklich, ich … ich hab nur zu viel getrunken. Ich bin Alkohol einfach nicht gewohnt.»

  Das stimmt immerhin, und vielleicht ist das auch der Grund, warum ich Carolines prüfendem Blick standhalten kann. Sollte ich darauf jetzt stolz sein? Dass ich Halbwahrheiten erzählen kann, ohne aufzufliegen? Noch vor ein paar Wochen hätte ich das nicht gekonnt, aber da gab es ja auch nichts, das mir so unangenehm gewesen wäre, dass ich am liebsten die Erinnerung daran aus meinem Kopf löschen würde.

  In meinem Zimmer stehe ich einige Minuten lang unschlüssig vor dem Schreibtisch und blicke zum Fenster hinaus auf das Nachbarhaus. Die Zweige des riesigen Ahorns verbergen das meiste davon, und ich frage mich, was hinter den Zweigen und hinter der Hauswand wohl in diesem Moment geschieht. Ob es dort auch jemanden gibt, der sich wünscht, er könne die Zeit zurückdrehen. In meinem Kopf sehe ich Carolines Haus und die Häuser drum herum, und als wäre ich ein Vogel, steige ich immer höher hinauf, die Häuser werden kleiner, und es werden mehr und mehr. Und überall gibt es Menschen wie mich. Menschen, die Dinge bereuen und sich müde fühlen und allein und beschämt.

  Ein Klopfen an der Tür lässt mich seufzen. «Ja?»

  Es ist nicht Caroline, wie ich es erwartet hatte. Es ist Lucy. Überrascht sehe ich sie an, während sie behutsam die Tür wieder hinter sich schließt und anschließend einige Sekunden in meinem Zimmer herumsteht wie ein Fremdkörper. Schließlich schiebt sie beide Hände in die Hosentaschen. «Ich wollte nur fragen … bist du okay?»

  Lucy fragt mich, ob ich okay bin? Ausgerechnet Lucy?

  «Sicher.»

  «Du hast deine Klamotten bei uns im Waschbecken gewaschen. Und du hast gestern Nacht noch geduscht. Ewig.»

  Darauf erwidere ich nichts. Was gäbe es dazu auch zu sagen?

  «Du bist nicht vergewaltigt worden, oder?»

  Schockiert starre ich meine kleine Cousine an, die sich unbehaglich unter meinem Blick windet. «Ich meine … wenn es so wäre, dann musst du unbedingt zur Polizei gehen.»

  «Ich bin nicht vergewaltigt worden.»

  Aber auch das hätte ohne weiteres passieren können. Weil ich so blöd bin. So naiv. Und nie etwas kapiere.

  «Gott sei Dank.» Lucy mustert kurz die Spitzen ihrer Sneakers, dann nimmt sie die Hände aus den Taschen und wendet sich wieder der Zimmertür zu.

  «Lucy? Was hast du eigentlich gegen mich?»

  Sie erstarrt mitten in der Bewegung, und kurz denke ich, dass sie meine Frage einfach überhört und das Zimmer verlässt. Doch dann dreht sie sich langsam wieder zu mir um.

  Es ist mir gerade völlig egal, ob Lucy mich mag oder nicht, ich will es in diesem Moment einfach nur verstehen. Und ich habe keine Lust mehr, so zu tun, als müsste ich ihre abweisende Art nur lang genug ignorieren, damit irgendwann alles in Ordnung kommt.

  «Ich hab gar nichts gegen dich.»

  «Du redest nie mit mir.»

  «Ja, aber … das ist nur …» Lucys Hände wandern zurück in ihre Hosentaschen. «Jetzt rede ich doch mit dir.»

  Vielleicht weiß sie es selbst nicht einmal. Vielleicht haben tatsächlich nur meine Kleider am Tag meiner Ankunft dazu geführt, dass Lucy beschlossen hat, mich blöd zu finden, und zwar für immer und ewig. Das würde doch passen zu dieser schrägen Welt.

  «Okay, vergiss es», sage ich. «Eigentlich ist es auch egal.»

  Einen Moment lang sieht es so aus, als würde Lucy darauf noch etwas erwidern wollen, dann dreht sie sich um
und huscht leise aus dem Zimmer heraus.

  Ich lasse mich aufs Bett fallen und starre gegen die Decke. Wäre ich jetzt zu Hause, würde ich zur alten Tanne gehen. Oder vielleicht zum Silent Lake . In Edmonton gibt es keinen solchen Ort, mit dem ich mich auf diese besondere Art und Weise verbunden fühlen würde – vielleicht sollte ich mich auf die Suche danach machen. Vielleicht würde das helfen.

  Im Geiste sehe ich mich durch Edmontons Straßen laufen und schließe die Augen.

  Lächerlich. Hier gibt es so etwas nicht.

  Das Summen meines Handys reißt mich aus meinen Gedanken. Jackson, denke ich und liege zum zweiten Mal heute falsch. Die Nachricht kommt nicht von Jackson, sondern von Stella.

  Hi Haven. Ich hab gehört, was gestern passiert ist, und es tut mir so leid. Ich hoffe, dir geht’s einigermaßen. Wenn du reden willst, melde dich.

  Eine Weile denke ich über Stellas Worte nach, dann gebe ich Buchstabe für Buchstabe eine Antwort ein. Würde Jackson mich jetzt fragen, warum ich nicht einfach anrufe, hätte ich ein besseres Argument, als dass so jeder selbst entscheiden könne, wann er die Nachricht lesen oder darauf antworten will – während ich tippe, habe ich genügend Zeit, mir zu überlegen, was genau ich eigentlich sagen möchte.

  Ich habe Jackson verletzt.

  Stellas Antwort folgt beinahe unmittelbar.

  Mach dir wegen Jackson nicht so viele Gedanken. Du hast nichts falsch gemacht! Jackson ist eigentlich derjenige, der ein Problem hat, nicht du. Frag ihn doch mal nach Lynn.

  Diese Sätze lese ich mehrere Male, unsicher, was genau Stella mir damit sagen will, und als ich für mich zu einem Ergebnis komme, schalte ich das Smartphone aus.

  Irgendwann ziehe ich das Fotoalbum von meinem Nachtschrank zu mir herüber. Zum ersten Mal schlage ich die Seiten auf, ohne dass Jackson dabei ist, und blättere bis zu dem Bild von Mum und mir auf der Blumenwiese, keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil es ein guter Tag ist, um sich noch ein wenig mehr selbst zu quälen.

  Wäre Mum nicht gestorben … garantiert wäre mir so etwas wie gestern Abend dann nie passiert. Ich wäre nicht so dumm und hilflos gewesen. Vielleicht wäre ich heute eher so wie Rae. Das würde mir gefallen.

  Mum , denke ich und tippe meine kleine Mutter auf dem Foto mit dem Finger an. Warum nur bist du einfach aus meinem Leben verschwunden?

  Und was ist es, das mich ausgerechnet an diesem Bild so traurig macht?

  Ich klappe das Album wieder zu, klemme es mir unter den Arm und schlüpfe leise, wie kurz zuvor Lucy, aus meinem Zimmer heraus.

  Caroline sitzt unten in ihrem Arbeitszimmer. Es ist ein kleiner Raum, der zur Hälfte von einem gewaltigen Schreibtisch eingenommen wird, auf dem sich Unmengen von Papier und Akten stapeln. Bisher habe ich nur hin und wieder im Vorübergehen einen Blick hineingeworfen, es ist das erste Mal, dass ich, nachdem ich an die Tür geklopft habe, dieses Zimmer betrete.

  Caroline nimmt die Brille ab, die sie immer trägt, wenn sie an ihrem Rechner arbeitet, und wirkt unmittelbar wieder so besorgt wie vorhin beim Frühstück.

  «Haven.» Ein letzter Klick, dann schiebt sie die Computermaus beiseite. «Setz dich. Warte.» Sie springt auf und befreit einen Sessel von einigen Ordnern und einer lila Strickjacke. «Okay, was ist los?»

  Vorsichtig lege ich das Fotoalbum auf den Schreibtisch zwischen ihre Unterlagen. «Das hat mir Dad geschenkt, kurz bevor ich nach Edmonton gefahren bin.»

  Carolines Finger legen sich auf den Einband. «Darf ich?»

  Ich nicke.

  Sie öffnet das Album und betrachtet eine Weile das erste Foto. Haven Elena. Zu diesem Zeitpunkt noch keine zwei Monate alt und völlig ahnungslos, was das Leben alles für sie bereithalten würde.

  Caroline blättert weiter, bedächtig. Sie nimmt sich Zeit für jedes Bild, und ich starre so gebannt mit ihr in die Seiten, dass mir erst ein herabfallender Tropfen bewusst macht, dass ihr Gesicht tränenüberströmt ist.

  «Caroline, entschuldige, ich wollte nicht …»

  «Nein, alles gut. Alles gut.» Meine Tante schiebt einige Papiere herum, bis sie irgendwo darunter eine Packung Taschentücher findet. «Das hat mich jetzt nur unvorbereitet erwischt, das ist alles. Ich kenne diese Bilder gar nicht – also, die meisten. Ein paar davon habe ich selbst gemacht.» Sie putzt sich die Nase und räuspert sich, bevor sie weiterspricht. «Okay, du zeigst mir das sicher nicht ohne Grund, oder? Willst du irgendetwas Bestimmtes wissen?»

  Ich beuge mich vor und blättere weiter. «Dieses Bild. Weißt du etwas darüber? Wer hat es gemacht? Wo ist es entstanden?»

  Caroline hat sich ebenfalls vorgebeugt, doch nur einige Sekunden lang. Dann blickt sie auf. «Tut mir leid, das kenne ich nicht.»

  Enttäuscht lasse ich mich im Sessel zurückfallen.

  «Wieso beschäftigt dich gerade dieses Bild so?»

  «Es macht mich traurig», erwidere ich leise. «Und ich weiß nicht, warum.»

  Meine Tante nickt, als sei das eine ausreichende Erklärung. Ich persönlich finde sie alles andere als ausreichend. «Vermisst du deine Mutter sehr?»

  «Manchmal. Nicht oft. Ich hab sie … vergessen. Ist das nicht schrecklich?»

  Caroline schluckt. Ja, sie findet es schrecklich.

  «Seit ich hier bin, denke ich so oft darüber nach, wie mein Leben heute aussehen würde, wenn sie nicht gestorben wäre. Wenn sie und ich hier in Edmonton leben würden und Dad … du weißt, dass sie Dad verlassen wollte, oder?» Auf Carolines Nicken hin rede ich weiter. «Dad wäre nie mit mir nach Jasper gezogen, und ich wäre heute ein ganz anderer Mensch. Ein stärkerer Mensch. Mum und ich, wir hätten … ein normales Leben geführt. Hat sie dir damals erzählt, wo sie hinwollte, nachdem sie sich von Dad getrennt hätte?»

  «Sie hat …» Caroline unterbricht sich. «Sie hat darüber geredet, ja. Aber ich glaube, sie wusste es selbst noch nicht genau.»

  «Was hat sie denn gesagt?»

  «Sie hat von Vancouver gesprochen und auch von Kalifornien. Sie wollte reisen …»

  Vielleicht wäre ich in der ganzen Welt herumgekommen. Mum hätte mir die Welt gezeigt. Und nicht wie Dad nur den Wald.

  «Haven.» Carolines Stimme holt mich aus meinen Gedanken. «Hast du mal mit deinem Vater darüber gesprochen, welche Pläne er und deine Mutter hatten? Ich meine … er könnte dir am meisten erzählen.»

  «Nicht wirklich.» Behutsam schlage ich das Album zu und ziehe es auf meinen Schoß. «Er hat mir nur erzählt, dass Mum jemanden kennengelernt hat und ihn deshalb verlassen wollte.»

  «An deiner Stelle würde ich ihn danach fragen.»

  «Im Moment ist das schwierig.»

  «Wieso?»

  «Weil …» Weil ich mich bemühe, ihn nicht dafür zu hassen, dass ich so bin, wie ich bin. «Weil es da ein paar Dinge gibt, über die wir zuerst reden müssen.»

  Caroline mustert mich lange. «Dann tut das», sagt sie schließlich. «Und dann sprecht über die Fragen, die du mir gestellt hast. Es beschäftigt dich doch.»

  Fast muss ich lachen. Oh ja, es beschäftigt mich. Allerdings gibt es so einiges, was mich beschäftigt.

  Ich hieve mich aus dem Sessel heraus. «Irgendwann mache ich das.»

  «Warte nicht zu lang damit. Ich denke, es wäre wichtig für dich, eigentlich sogar für euch beide.»

  Irgendetwas an Carolines Blick gibt mir plötzlich das Gefühl, dass sie mehr weiß, als sie zugibt, doch bevor ich dieses Gefühl in eine Frage fassen kann, redet sie weiter. «Und wegen gestern Abend …»

  Ich wende mich zur Tür. «Du musst dir keine Gedanken machen. Es sind ein paar Dinge blöd gelaufen, aber ich bringe das schon wieder in Ordnung.»

  Auf dem Weg zurück in mein Zimmer verspreche ich mir genau das: Ich bringe es in Ordnung. Ich bin absolut in der Lage, auch in Edmonton klarzukommen, in Edmonton oder wo auch immer – ich bin nicht nur ein Waldmädchen.

  JACKSON

  D ie Nacht war kurz, und ich bin mit Kopfschmerzen und quer über meinem Bett liegend aufgewacht, als wäre ich es gewesen, der zu viel getrunken hat, und nicht Haven.

  Noch nicht einmal als ich – mittlerweile angezogen – durchs Wohnzimmer tro
tte, fühle ich mich ansatzweise wach. Mehr so auf einer Art Zombievorstufe.

  Cayden ist offenbar bereits in der Küche gewesen, eine ausgespülte Espressotasse steht auf einem Geschirrtuch. Ich nehme mir eine zweite Tasse aus dem Schrank und stelle sie neben die noch immer eingeschaltete Espressomaschine.

  Kaffeebohnen mahlen. Meinetwegen würde es auch fertiges Pulver tun, aber sein Espresso aus ganzen Bohnen ist Cayden heilig.

  Als ich kurz darauf mit einem doppelten Espresso wieder das Wohnzimmer betrete, habe ich vor, mich damit aufs Sofa zu setzen und mir zu überlegen, wie der Tag weiter verlaufen soll. Geklärt wird dies allerdings unmittelbar durch eine Nachricht von Haven auf meiner Mailbox. «Jackson, ist es in Ordnung, wenn ich nachher vorbeikomme? Vielleicht so gegen zwei? Ruf mich an, wenn dir das nicht passt.»

  Ich gucke auf die Uhr. Kurz nach zwölf. Okay, noch zwei Stunden Zeit, darüber nachzudenken, was genau es alles zu klären gibt.

  Als es schließlich an der Tür klingelt, habe ich drei Tassen Espresso getrunken und war gerade in der Küche, um mir einen vierten zu machen. Davon abgesehen habe ich beschlossen, erst einmal abzuwarten, was Haven mir zu sagen hat. Trotz allem, was ich mir heute in den frühen Morgenstunden von Cayden anhören musste, weiß ich eigentlich nur, dass ich mir gern irgendwie das Bild von Jon und Haven aus dem Hirn ätzen würde.

  «Hi.» Haven sieht blasser aus als gewöhnlich. «Lässt du mich rein?»

  Ich gebe die Tür frei. «Hey.»

  Sie klettert vor mir her die Wendeltreppe hinauf und bleibt oben stehen, während ich mich wieder auf das breite Sofa fallen lasse. «Setz dich doch.»

  «Nein, ich … ich bleibe nicht lange, ich will nur … hast du gewusst, dass sie mich Waldmädchen nennen?»

  Mit allem Möglichen habe ich gerechnet, aber nicht damit. Einigermaßen geplättet starre ich sie an.

  «Das tun sie nämlich. Leute, die ich gar nicht kenne und die mich nicht kennen. Wusstest du das?»

  Die Sekunden scheinen sich auszudehnen. «Ja», sage ich schließlich.

  «Warum hast du mir das nicht erzählt?»

 

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