by Kira Mohn
«Danke. Dann sind wir jetzt immerhin schon zwei, die das denken.»
«Wohnst du noch bei Cayden?»
«Ja. Cayden ist schon okay.»
Sie nickt. Noch immer sieht sie mich an, und jetzt küsse ich sie. Weil es einfach schwierig ist, ihr Gesicht so nah vor meinem zu sehen, und es nicht zu tun. «Du gehörst genau da hin, wo du sein willst, Haven, und du hast jederzeit die Möglichkeit, einen neuen Weg auszuprobieren oder zu einem alten zurückzukehren», murmele ich. «Und das, was du jetzt entscheidest, werde ich akzeptieren.»
Haven windet sich aus meinen Armen und dreht sich um, bis sie mit dem Rücken zum See sitzt und mich direkt ansehen kann. Sie mustert mich mit ernstem grauem Blick. Lange. Dann beugt sie sich vor, und diesmal küsst sie mich. Ich schließe die Augen, als sie es auch tut, während ihr Mund sich leicht öffnet. Obwohl sie sich enger an mich schmiegt, obwohl ihre Hände zart über meinen Rücken fahren, obwohl es genügend Gründe gäbe, an nichts anderes zu denken, als an diesen Kuss, frage ich mich die ganze Zeit, ob das jetzt gerade ein Abschied ist. Als sie schließlich zurückweicht, wappne ich mich.
«Du hast recht», sagt sie und atmet einmal tief durch. «Ich würde mich immer fragen, ob ich es nicht hätte durchziehen sollen.»
Vergeblich versuche ich, ein breites Grinsen zu unterdrücken. «Und außerdem rennst du nicht einfach weg, nur weil eine Situation brenzlig wird», füge ich hinzu.
Das Lächeln auf Havens Gesicht ist vermutlich nicht halb so breit wie meins, doch ich lese Entschlossenheit heraus. «Das auch», bestätigt sie.
33
HAVEN
D en grauen Teppich hat Jackson aus seinem Zimmer rausgeworfen, die schwarzen Sessel ebenfalls, und sogar das Bett musste daran glauben. Vor dem riesigen Fenster hängt ein heller Vorhang, der das Licht hineinlässt, den Blick auf das fensterlose Nachbarhaus jedoch verhindert. Ansonsten mag Jackson eindeutig sehr viel lieber Naturtöne als kaltes Grau und düsteres Schwarz. Es ist ein luftiges Zimmer, das zu dem Jackson passt, den ich kenne, und sogar der Elefant, der noch immer an der Wand hängt, scheint sich wohler zu fühlen.
Es ist eine Weile her, seit ich zum letzten Mal hier war, und die Veränderungen in diesem Raum machen ziemlich deutlich, dass Jackson nicht übertrieben hat, als er mir am Silent Lake erzählte, er habe einige Entscheidungen getroffen.
Fast eine Woche ist das jetzt her. Ich sitze auf Jacksons Futon und warte auf ihn, damit wir uns auf den Weg machen können, wohin auch immer. Er wollte es nicht verraten und auch nicht, mit wem er vorher noch unbedingt telefonieren muss.
Dad war nicht überrascht, als ich ihm sagte, ich würde zurückfahren, doch die Umarmung, mit der wir uns dieses Mal voneinander verabschiedeten, war etwas völlig anderes als die dürren Worte, die zwischen uns fielen, als ich das erste Mal in Richtung Edmonton aufbrach.
Caroline meinte, sie sei froh, dass ich mich jetzt wieder an alles erinnern könne. Sie wusste Bescheid, natürlich, aber ich kann ihr kaum übelnehmen, dass sie sich an das Versprechen hielt, das mein Vater ihr abnahm, nicht an die Vergangenheit zu rühren.
«Okay, wir können los.» Jackson öffnet die Zimmertür, und ich stehe auf.
«Laufen wir?»
«Nein, wir nehmen meinen Wagen. Aber es ist nicht weit.»
Wir sind bereits unterwegs, als mir auffällt, dass Jackson nervös zu sein scheint. Er hat sich zum vierten Mal die Haare aus dem Gesicht gestrichen, die ihm jedes Mal sofort wieder in die Stirn fallen, als er sich vor einer Kreuzung zu mir umdreht. «Falls die Idee bescheuert war, sag es einfach, okay?»
«Welche Idee denn?»
«Siehst du gleich.»
Die Straße, in die wir Minuten später einbiegen, kenne ich, und das Haus, vor dem wir halten, kenne ich ebenfalls. Zögernd steige ich aus und ziehe meine Jacke vor der Brust zusammen.
Auf der breiten Veranda thronen mehrere Kürbisse, rotes Ahornlaub rankt sich über der Haustür. Neben den Holzstufen am Ende des Pflasterwegs steht eine gusseiserne Laterne, die Kerze darin leuchtet jedoch noch nicht.
Es sieht hübsch aus. Herbstlich.
Jackson hat die Wagentür zugeworfen und streckt mir jetzt seine Hand entgegen.
«Warum sind wir hierhergekommen?», frage ich. Seine Finger sind sehr viel wärmer als meine.
«Wenn du magst, gehen wir jetzt in den Garten», erwidert er, statt meine Frage zu beantworten.
«Wir können nicht einfach …»
«Doch, können wir. Hier wohnen Ted und Maude, ein älteres Ehepaaar. Mit Maude habe ich gerade telefoniert. Es ist okay.»
«Du hast … was?»
«Ich war gestern schon hier und habe gefragt.»
«Was hast du gefragt?»
«Na – ob wir mal in den Garten dürfen.»
Ganz kurz blitzt die Erinnerung an das Strawberry Kiss in mir auf und an Jackson, der einfach zu diesen beiden Frauen marschiert, um ihnen zu erklären, warum wir ausgerechnet an ihrem Tisch sitzen müssen.
«Wenn du nicht willst, fahren wir einfach wieder.»
«Nein, es ist nur …» Ich umschließe Jacksons Hand fester. Warum nicht? Nur ein kurzer Blick. Einfach, um mal zu schauen, ob der Garten noch so aussieht, wie ich ihn in Erinnerung habe.
Mit Jackson zusammen gehe ich an der Veranda entlang, links am Haus vorbei. Bereits von hier lässt sich erkennen, worüber Dad sich jeden Herbst aufs Neue aufgeregt hat. Das grüne Gras ist kaum mehr zu sehen unter dem dichten Teppich aus dunkelroten Ahornblättern. Sie rascheln unter unseren Füßen, während wir auf den Baum zugehen, der mit seiner flammend roten Krone den Garten überspannt. Genauso mächtig wie früher. Leuchtend. Majestätisch.
Jackson bleibt zurück, als ich meine Finger aus seinen löse und jetzt beide Hände auf die zerfurchte Rinde lege.
Ich weiß, was Jackson sich überlegt hat. Und ich liebe ihn dafür in dieser Sekunde wie verrückt. Auch wenn ich keine Ahnung habe, ob es funktionieren kann. Ob dieser Baum, diese Verbindung zu meiner Vergangenheit, tatsächlich mehr, vielleicht so etwas wie ein neuer Kraftort werden könnte. Mit geschlossenen Augen lehne ich die Stirn gegen den Stamm.
Hier stehe ich, an dem Ort, an dem ich groß geworden bin. Ich meine Dad zu hören, der lacht, während er mir hinterherrennt; und Mum, die mir zuruft, ich solle schneller laufen, noch schneller, um den Baum herum, damit Dad mich nicht fangen kann … In jedem Herbst hat Dad die Blätter zusammengeharkt, und ich durfte einmal hineinspringen. Danach durfte ich nicht mehr, aber es gehörte zum Ritual, es trotzdem zu tun, bis Mum aus dem Haus kam und mich auf den Arm genommen hat. «Jetzt lassen wir Dad die ganze Arbeit machen und trinken einen Kakao zusammen, okay?», hat sie dann immer gesagt, und ihre Lippen fühlten sich warm auf meinen Wangen an …
Das harte Gefühl in meiner Brust beginnt sich von den Rändern her aufzulösen, und obwohl mir jetzt die Tränen kommen, atme ich zum ersten Mal, seit mein Vater mir alles gesagt hat, wieder etwas leichter, obwohl ich gerade an Mum denke. Ich drehe mich zu Jackson um, und er kommt auf mich zu.
«Alles okay? Sollen wir wieder fahren?»
Kopfschüttelnd wische ich mir über die Augen. «Nein, alles okay.»
Inmitten der leuchtend roten Blätter über und unter uns umarme ich ihn, so fest ich kann, und weil das noch nicht reicht, schlinge ich ihm irgendwann beide Arme um den Hals und lege alles, was ich für ihn empfinde, alles, was ich bin, in den Kuss.
Ich gehöre genau dorthin, wo ich sein will. Das hat Jackson am Silent Lake gesagt, und er hat recht. Und ich möchte … bei Jackson sein. Ganz einfach. Ich werde hier studieren, vielleicht sogar länger als nur ein Semester, denn in dieser Sekunde kann ich mir nicht vorstellen, zu meinem Fernstudium zurückzukehren. Ich werde mir ein Zuhause schaffen, dort, wo ich bin. Und ich will das mit dem Menschen zusammen tun, den ich genau jetzt in meinen Armen halte.
JACKSON
H ätte ich gewusst, was sich in wenigen Monaten alles verändern würde, als ich Haven zum ersten Mal gesehen habe, ich wäre nicht nur interessiert an ihr gewesen, sondern hätte ihr sofort einen Antrag gemacht.
«Was ist gerade lustig?», will sie wissen.r />
«Nix. Ich freu mich nur.» Man muss ja nun auch nicht jeden irren Gedanken sofort aussprechen.
«Es war eine gute Idee übrigens», sagt Haven. «Hierherzukommen, meine ich.»
Ein Räuspern lässt uns zu der Terrasse hinübersehen. Dort steht Maude, die kleine weißhaarige Dame, mit der ich vorhin noch einmal gesprochen habe. Obwohl sie offensichtlich nervös die Hände vor der Brust gefaltet hält, strahlt sie uns an.
«Entschuldigung? Also, ich wollte euch nicht stören, aber ich dachte mir … wo ihr schon mal in unserem Garten steht … ich habe einen Tee gemacht.»
Haven erwidert Maudes Lächeln so herzlich, dass ich mich langsam zu fragen beginne, wie verrückt man einen Menschen eigentlich lieben kann. «Ein Tee wäre toll», sagt sie und nimmt meine Hand. Gemeinsam gehen wir neben Maude her zum Haus.
«Ted meinte – Ted ist mein Mann – Ted meinte, ich solle euch jungen Leute nicht stören, aber ich dachte mir, mit einem Tee stört man doch niemanden, oder? Es ist Rosentee. Ich hoffe, ihr mögt Rosentee? Ich könnte auch einen anderen Tee kochen. Wir bekommen nicht oft Besuch. Vorsicht, die Schwelle ist ein wenig hoch, Ted stolpert da dauernd drüber – Ted! Ich habe dir doch gesagt, jeder freut sich in dieser Jahreszeit über einen Tee …»
Maude verschwindet durch die geöffnete Terrassentür, und wir sehen uns an. Ich spüre den leichten Druck von Havens Hand und drücke zurück.
Dann treten wir über die Schwelle in das Haus aus Havens Vergangenheit, und gleichzeitig fühlt es sich an wie ein Schritt in die Zukunft.
Danksagung
Kein Buch entsteht allein im Kopf der jeweiligen Autorin oder des jeweiligen Autors, und auch dieses Buch wie auch sein Nachfolgeband lebt mit dadurch, dass viele Menschen mich auf dem Weg begleitet haben.
Ich möchte einer ganzen Reihe von Leuten danken, die mir dabei geholfen haben, entfallene Recherchereisen aufgrund einer weltweiten Pandemie auszugleichen, indem sie mir in langen Gesprächen, Mails oder Telefonaten den Jasper National Park nach Hause brachten. In erster Linie danke ich hier Vera Weisenberger, die in Kanada lebte und die mich auf tausend Kleinigkeiten aufmerksam machte, wie beispielsweise, dass es dort fast unmöglich sei, als einsamer Wanderer mit schwerem Gepäck eine Straße entlangzugehen, ohne dass Autofahrer anhalten und ihre Hilfe anbieten würden (nach all dem, was Vera mir erzählte, möchte ich noch dringender nach Kanada als zuvor).
Außerdem danke ich Anke von dem Reiseblog «Moose around the World» und Thomas vom Reiseblog «Two Biologists on Tour» – beide haben mir jede Menge Fragen zum Thema Wandern – allgemein und ganz speziell, was das Wandern im Jasper National Park betrifft – beantwortet und sich dafür wirklich unendlich viel Zeit genommen.
Was ihre Erfahrungen auf den Campingplätzen um den und im Jasper National Park betraf, durfte ich auch mit Julia Heudorf, Birgit Loistl, Viola Plötz und Merle Steimke reden. Ich danke euch sehr für alles, was ihr mir verraten habt – bis hin zu Kriebelmückenattacken.
Ich danke meinen Testleserinnen Ivonne Szynkiewicz, Hadassa Levy, Nina Schneider, Sarah Michler und Juliane Pust, die netterweise alle angemessen gnadenlos sind und mich niemals in offene Messer laufen lassen würden – ihr seid großartig!
Außerdem danke ich meinem Ink Rebels Team und gleichzeitig meinen Freundinnen Julia, Franziska, Jenny und Daniela, die – man muss es so sagen – einfach die einfallsreichsten und liebevollsten Frauen der Welt sind und ohne die ich nicht wüsste, wie mein Leben aussehen würde – trauriger auf jeden Fall.
Ganz besonders danken muss und will ich auch meinem Verlag und insbesondere dem einzigartigen Kyss-Team. Ich betrachte es als geradezu unfassbares Glück, mit euch zusammenarbeiten zu dürfen (das wiederhole ich gern), und nicht nur für eure Blumengrüße werde ich ewig in Liebe an euch denken.
Und Anne – meine liebste Lieblingslektorin auf der großen, weiten Welt: Ich danke dir für deine Adleraugen, deine Geduld und deine unglaubliche Gabe, den Finger punktgenau auf die Stellen zu legen, an denen die Autorin gedacht hat: «Ach, das wird schon okay sein.»
Fühl dich bitte noch einmal extra umarmt.
Und ich danke meiner Familie. Meinen beiden Kindern Nathalie und Liam, die in den letzten Monaten viel Nachsicht mit ihrer Mutter haben mussten und mit denen ich eine Zeit durchgestanden habe, die uns, wenn sie schon hart war, immerhin gezeigt hat, wie lieb wir uns haben und dass wir uns aufeinander verlassen können. Für immer und ewig, Lieblingstochter und Lieblingssohn.
Für immer und ewig verbunden auch mit dir, Jens. Ohne dich würde ich überhaupt nicht schreiben, und das weißt du.
Ich vermisse dich.
Leseprobe zu:
Kira Mohn
Free like the Wind
1.
Rae
«Rae? Ist alles in Ordnung?»
Mum steht in meiner Zimmertür, und wie so oft hat sie zwar angeklopft, ist dann aber direkt hereingeplatzt, ohne auf eine Antwort zu warten. Diesmal hat sie dafür zugegebenermaßen einen Grund. Ich habe mich gerade erst wieder aufgesetzt, nachdem ich bei meinem Versuch, einen Kopfstand hinzubekommen, einfach zur Seite gekippt bin.
«Alles okay.» Mein Nacken fühlt sich ein wenig verrenkt an, aber das behalte ich besser für mich. Sonst googelt sie Symptome bei Nervenschädigungen im Halsbereich .
«Ich habe ein Poltern gehört und dachte …»
«Mir sind nur ein paar Bücher aus der Hand gefallen.»
Meine Ausrede wird unterstützt durch einen umgekippten Stapel Bücher neben dem Bett, neben dem ich gerade hocke, als habe ich sie aufsammeln wollen. Dass die dort bereits seit gestern Abend liegen, weiß meine Mutter ja nicht.
«Okay, wenn es dir wirklich gut geht …» Sie lächelt ihr kleines Mum-Lächeln, ein bisschen entschuldigend und sehr traurig, und mein Herz zieht sich zusammen.
«Es ist alles okay, wirklich», erwidere ich und lächle zurück.
«Gut, dann … es gibt gleich Abendessen.»
«Alles klar, ich komm runter.»
Sobald die Tür sich hinter ihr geschlossen hat, taste ich nach meinem schmerzenden Nacken und drehe den Kopf vorsichtig erst nach rechts, dann nach links. Autsch.
Von wegen Kopfstand für Anfänger . Dieses blöde Youtube-Video. Ich hätte bei meinen Yogaübungen einfach beim Sonnengruß bleiben sollen.
Meine Freundin Haven beherrscht die Kopfstandübung perfekt, und hätte sie mir vorhin am Telefon nicht davon vorgeschwärmt, müsste ich jetzt nicht meine Knochen sortieren. Ich sollte endlich einsehen, dass Haven mir in Sachen Körperbeherrschung weit überlegen ist. Dabei hat sie mit Yoga erst vor ein paar Wochen angefangen. Ächzend erhebe ich mich, um ins Badezimmer zu gehen. Vielleicht lasse ich den Kopfstand fürs Erste lieber sein und wage mich nur an neue Übungen, für die ich ohnehin auf dem Boden liegen muss. Haven wird dazu garantiert eine ganze Reihe an Vorschlägen haben.
Vor dem Spiegel wickele ich mir die langen Haare zu einem Knoten zusammen, den ich mit geradezu absurd vielen Spangen feststecke. Meine vietnamesische Urgroßmutter hat mir das glatte, schwere Haar vererbt, allerdings sind sie seit einiger Zeit nicht mehr schwarz, sondern blau. Damit habe ich Philippe, meinen Chef im Phoenix, an seine Grenzen gebracht und kann wohl von Glück sagen, dass er mich nicht gefeuert hat. «Blau!», hat er gerufen und mich entgeistert angestarrt. «Warum färbst du deine Haare blau?»
Warum nicht? Es ist ein wunderschönes, tiefes Nachtblau, und es hat mir einfach gefallen.
Philippe steht auch nicht auf offene Haare bei der Arbeit. Er findet das unhygienisch, als würde ich nicht in einem Kino an der Kasse sitzen, sondern am offenen Herzen operieren. Ich befestige eine letzte Spange, klemme mir die vorderen, nur kinnlangen Strähnen hinters Ohr und schüttele versuchsweise den Kopf. Das sollte halten.
Meine Mutter wuselt in der Küche herum, als ich die Treppe hinunterkomme. Dad ist wie so oft nicht da, aktuell gibt’s in Vancouver Dinge für die Firma zu regeln, bei der er arbeitet. Die Energie, die meine Mutter in erster Linie in mich steckt, investiert Dad in seinen Job, und dafür bin ich ganz dankbar. Ich liebe meine Eltern und verstehe sie vollkommen, trotzdem sind sie gem
einsam mitunter schwer zu ertragen. Die beiden ständig im Doppelpack – ich würde irre werden.
«Rae? Kannst du das Gemüse mitnehmen?»
Kaum habe ich ihr die Schüssel abgenommen, greift sie sich ein Handtuch, um einen Teller Crêpes aus dem Ofen zu holen, wo sie sie warmgehalten hat.
Im Esszimmer schiebe ich die große Vase beiseite, in der gelbe Tulpen bereits die Köpfe etwas hängenlassen.
Mum stellt die Crêpes zwischen die anderen Schalen. «Nimm dir Bambussprossen», weist sie mich an, während sie sich auf ihrem Stuhl niederlässt. «Und trink bitte dein Wasser, ja? Du trinkst zu wenig. Das ist nicht gut.»
Diesen Hinweis höre ich seit Wochen Tag für Tag. Mit ziemlicher Sicherheit hat Mum irgendwo gelesen, dass man täglich mindestens drei bis vier Liter Wasser trinken sollte, oder eine ihrer Freundinnen hat ihr das erzählt. Seitdem rennt sie mir mit Wasserflaschen hinterher. Und das wird sie tun, bis etwas anderes in ihren Fokus rückt – wenn ich Glück habe, bevor ich eine Allergie gegen Wasser entwickelt habe. So viel trinkt einfach kein normaler Mensch.
«Wann bist du heute Nacht wieder da?», will sie jetzt wissen.
«Gegen zwei.»
Wie an jedem Donnerstag. Die Spätvorstellung beginnt erst um Viertel nach elf, und bis dann alle Leute draußen sind und ich den Saal aufgeräumt habe, dauert es eine Weile. An den anderen Tagen, an denen ich im Kino arbeite, läuft die letzte Vorführung spätestens um halb neun, doch eigentlich sollte Mum sich mehr Sorgen machen, wenn ich vor Mitternacht nach Hause gehe. Um diese Uhrzeit sind meiner Erfahrung nach mehr Idioten unterwegs.
«Rufst du mich an, sobald du losgehst?»
«Mach ich.»
«Pfefferspray hast du?»
«Klar.»
Mum hat es extra in einem Outdoorladen für mich gekauft. Offiziell ist es ein Bärenspray, aber ihrer Meinung nach treiben sich nachts in Edmontons Straßen Leute herum, die mindestens genauso gefährlich sind wie Bären. Sie führt die Gabel zum Mund und hält inne. Ich weiß genau, dass sie in diesem Moment mit sich ringt, weil sie mich zum tausendsten Mal bitten möchte, mir ein Taxi zu nehmen. Für meinen Wagen gibt es dort im weiten Umkreis einfach keinen Parkplatz. Aber mit einem Taxi wäre ich erstens ohnehin beinahe länger unterwegs als zu Fuß, und zweitens ginge ein Viertel meines Verdienstes für die Fahrtkosten drauf. Und ich will auch nicht, dass Mum das Taxi jeden Abend bezahlt. Oder mich abholt. Es ist schwer genug, sich in diesem Haus halbwegs selbständig zu fühlen, genau genommen ist es beinahe unmöglich. Und um die wenigen Freiheiten, die ich habe, kann ich sehr hartnäckig kämpfen.