Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition)
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»Na, mein Sohn?« Con klopft mir auf die Schulter, als auch ich das Gartentor erreicht habe. »Was macht das Leben?«
»Es lebt sich ganz gut«, erwidere ich. »Und bei euch?«
Charlie kommt auf die Veranda gerollt. Seit einem Arbeitsunfall vor zwanzig Jahren – sie war Schornsteinfegerin – ist sie von der Hüfte ab gelähmt. Nicht einmal Link erinnert sich noch daran, wie es war, als sie noch laufen konnte.
Maya strampelt in Cons Arm, möchte ihre Großmutter begrüßen. Die beiden haben wirklich eine ganz besondere Beziehung. Sobald Con sie auf den Boden gestellt hat, fliegt sie regelrecht in Charlies Arme.
»Wir machen es uns heute schön, was meinst du?«, sagt Charlie und drückt die Kleine fest an sich. Maya nickt begeistert, während sie ihrer Großmutter mit den kleinen Fingern durch die langen grauen Haare fährt.
»Kommt erst mal rein«, sagt Con. Er geht leicht geduckt. Früher war er ein beeindruckender Mann, groß gewachsen, breite Schultern, dichte blonde Haare. Eine Woche, nachdem man bei Blythe Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert hatte, hatten sich seine Haare schlohweiß gefärbt. Und sein Gang war nie wieder richtig aufrecht.
»Hast du noch ein bisschen Zeit, Jasper?«, fragt Charlie. »Ich habe gebacken.«
Seit sie nicht mehr arbeitet, verbringt sie die meiste Zeit in der Küche. Sie ist eine hervorragende Köchin und Bäckerin, und es wäre Wahnsinn, eine Einladung zu Kaffee und Kuchen abzulehnen.
»In anderthalb Stunden muss ich bei der Bandprobe sein«, sage ich entschuldigend. Denn mit dem Bus dauert es eine halbe Ewigkeit zurück nach Tremé.
»Nimm mein Auto«, bietet Con an. »Heute Abend brauchen wir es ohnehin nicht mehr. Und wenn du die beiden morgen wieder abholst, bringst du es einfach wieder.«
»Bist du sicher?« Ich leihe mir Cons Auto ohnehin viel zu oft. Wahrscheinlich benutze ich es mehr als er selbst.
»Aber natürlich. Wenn das bedeutet, dass du noch ein bisschen bleibst …«
»Abgemacht!« Charlie klatscht in die Hände, und ich muss grinsen. Bei den beiden hat falsche Bescheidenheit und Ziererei keinen Sinn. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, wird es so gemacht – und nicht anders. Genauso war es, als wir ihnen erzählten, dass Blythe, die gerade siebzehn geworden war, schwanger war. Ein kurzer Augenblick der Schockstarre, dann wurden Pläne gemacht. Es funktionierte reibungslos. Und nicht ein einziges Mal zogen sie in Zweifel, dass ich nun Teil der Familie war. Im Gegenteil: Sobald ich in Schüchternheit oder Unwohlsein verfiel, ermahnten sie mich, nannten mich »Sohn« und überhäuften mich mit familiärer Liebe, die ich bis zu diesem Moment so nicht gekannt hatte.
Im Garten ist der Tisch bereits gedeckt. Ein Kürbiskuchen steht in der Mitte, aus einer Kanne dampft Kaffee.
»Ich habe gesehen, du hast deine Gitarre dabei, Wes«, sagt Con. »Heißt das, wir könnten eventuell ein Privatkonzert bekommen?«
»Vielleicht«, sagt Weston mit vollem Mund und zuckt mit den Schultern. Er grinst. »Bald bin ich so gut wie Link. Dann kicken wir ihn aus der Band.«
»Na, das will ich meinen«, sagt Con, und um seine traurigen Augen bilden sich Lachfältchen, die bewirken, dass er mich an den Con von früher erinnert.
»Warum suchst du dir eigentlich keine eigene Band?«, frage ich. »Ich glaube, Link hängt ein bisschen an uns …«
»Ja, aber ich würde gern mit Bonnie spielen«, sagt Weston.
»Mit Bonnie, hm?«, fragt Charlie und lässt sich von Maya eine Gabel mit saftigem Kürbiskuchen in den Mund schieben.
Weston wird ein bisschen rot, so als hätte er zu viel verraten. »Bonnie ist cool«, sagt er dann und wendet sich mit übertriebenem Eifer seinem Kuchen zu.
Ich muss schmunzeln. Bonnie ist also cool. Nicht, dass mir das entgangen wäre. Sie ist cool. Sogar sehr cool. Aber dass mein Sohn das ebenfalls so sieht, macht mich froh. Es ist ein erleichterndes Gefühl. Ganz so, als würde etwas aus dem Weg geräumt.
»Bonnie ist cool«, flüstert auf einmal Maya. Alle Köpfe drehen sich gleichzeitig zu ihr, doch es scheint, als habe Maya nicht einmal selbst gemerkt, dass sie gesprochen hat.
»Ich sehe schon, Bonnie läuft mir den Rang ab«, sage ich lachend, um der Situation etwas Alltägliches zu verleihen. Aber tief in mir wächst etwas. Etwas Großes, Schönes. Etwas, das auf der Hochzeit begann. Oder vielleicht noch früher? Mir fällt der Moment vor ein paar Monaten ein, als mir zum ersten Mal auffiel, wie hübsch sie ist. Wie ich zum ersten Mal ihre großen mahagonifarbenen Augen wahrnahm. Als hätte sie etwas an sich verändert, dabei war es nur meine Wahrnehmung, die sich leicht verschoben hatte. War das der Augenblick?
»Konnte Hugos Hausmittel gegen den Mehltau helfen?«, frage ich, um meine Gedanken abzuschütteln. Das hier ist weder der richtige Ort noch die richtige Zeit.
»Die Pflanzen sehen schon viel besser aus, meinst du nicht?«, fragt Con und lächelt stolz. »Wer hätte gedacht, dass Buttermilch … Dein Hugo hat wirklich Ahnung.«
»Ja …«, sage ich. Nach wie vor habe ich Sorge, Charlie und Con könnten eifersüchtig auf Hugo sein. Bis vor Kurzem waren sie, abgesehen von Weston und Maya, meine einzige Familie.
»Vielleicht lernen wir ihn ja mal kennen«, schlägt Charlie vor. »Zeigen ihm ein paar Fotos von früher.« Sie klingt nicht eifersüchtig, und ich lächle sie dankbar an.
»Das wäre schön. Er würde sich sicher freuen.« Vor allem, weil Charlies Fotoalben im Gegensatz zu meinen Schuhkartons vollständig und geordnet sind.
Wenig später muss ich los und erhebe mich ein wenig widerwillig vom Tisch. Bei Charlie und Con fühle ich mich geborgen. Aufgehoben. Auch wenn die Traurigkeit hier allgegenwärtig ist. Für mich und meine Kinder sind sie der Fels in der Brandung.
Ich küsse Weston und Maya zum Abschied, umarme meine Schwiegereltern. »Macht es euch schön.«
Drinnen hält Con mich auf.
»Warte kurz, Jasper. Ich würde dir gern noch etwas zeigen. Dich fragen …«
Ich drehe mich um. Seine Stimme klingt sowohl dringlich als auch seltsam verschämt.
»Als damals der Brief deines Vaters kam …« Er meint den unsäglichen Brief, in dem mein Erzeuger Charlie und Con darauf hinwies, dass Blythes Schwangerschaft mein Leben ruinieren würde. Jedes einzelne Wort hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Und damit der Entschluss, ihn niemals wieder auch nur in meine Nähe, geschweige denn in die Nähe meiner Kinder zu lassen.
Bei Ihnen im Seventh Ward mag das ein freudiges Ereignis sein. Doch in unseren Kreisen ruiniert so etwas ein Leben. Das Leben meines Sohnes. Ihnen und Ihrer Tochter steht frei zu tun, was Sie für richtig halten. Doch lassen Sie meinen Sohn gehen, damit wenigstens seine Zukunft verschont bleibt.
Con räuspert sich. »Blythe hat mir damals etwas zur Verwahrung gegeben. Es …« Er zögert.
»Was ist es, Con?«, frage ich stirnrunzelnd.
»Also … Willst du dich vielleicht noch mal kurz setzen?« Er deutet auf einen der Stühle, die um den Esstisch herumstehen.
Ich blicke auf mein Handy. Eigentlich muss ich los. Aber es scheint Con wichtig zu sein. Deswegen nehme ich mir die Zeit. Er setzt sich an die Stirnseite, sieht mir in die Augen. Ich kann den Blick nicht deuten. Irgendetwas zwischen Schuldbewusstsein und Amüsiertheit?
»Neulich habe ich ein paar alte Sachen umsortiert. Fotos, Erinnerungsstücke. Dabei ist mir das hier in die Hände gefallen.«
Aus der Brusttasche seines Flanellhemds zieht er eine Kette. Ein silbernes, mit stilisierten Blättern ummanteltes Herz hängt daran. Irgendwoher kenne ich diesen Anhänger.
»Was ist das?«, frage ich, greife nach der Kette. Con überlässt sie mir ohne Weiteres.
»Wenn du so willst, ein Erbstück aus deiner Familie, glaube ich.«
»Was?« Ich bin wie vom Donner gerührt. Kann das Schmuckstück immer noch nicht so richtig zuordnen. Es fühlt sich kühl in meiner Hand an. Fremd.
»Blythe …« Man merkt, wie schwer es ihm auch noch nach Jahren fällt, ihren Namen laut auszusprechen.
»Was ist mit ihr?«
»Sie nannte es Umverteilung.«
»Wie bitte?« Mir entfährt ein le
ises Prusten.
»Sie hat mir gestanden, diese Kette bei einem der wenigen Besuche in deinem Elternhaus mitgenommen zu haben.« Er sieht mich unsicher an, als erwarte er eine wütende Reaktion oder etwas in der Art. Doch ich blicke einfach nur etwas verwirrt von ihm zur Kette und wieder zurück. »Glaub mir, ich fand es nicht in Ordnung«, sagt er dann. »Ich habe ihr befohlen, die Kette an Ort und Stelle zurückzubringen. Und sie … hat behauptet …«
»… sie hätte sie zurückgegeben«, beende ich den Satz für ihn, auf den Lippen ein Grinsen.
»Nun, als der Brief kam … Ihre Worte waren so ungefähr: Ich wette, jetzt willst du nicht mehr, dass ich die hier zurückbringe. Sie hat sie mir zur Verwahrung gegeben, sagte etwas von schlechten Zeiten.« Con spricht schnell. Als er geendet hat, wirkt er beinahe erleichtert.
»Und du hast die Kette für sie aufbewahrt.« Ich sehe mir den Anhänger an. Das angelaufene Silber, die filigranen Blätter. Dann fällt es mir wieder ein. »Ich glaube, die hat der Tante meiner Mutter gehört. Ich habe sie nie kennengelernt.«
»Ich hoffe, du bist ihr nicht böse …«
»Meiner Großtante?«, frage ich, weil ich noch zu verdutzt bin, auf einmal ein Erbstück meiner Familie in der Hand zu halten.
»Blythe«, korrigiert mich Con.
»Was? Um Himmels willen. Ich finde es ziemlich witzig, ehrlich gesagt. Die Tatsache, dass die Mutter meiner Kinder meiner eigenen Mutter eine Kette geklaut hat – das hat schon eine gewisse Komik, meinst du nicht?«
»Doch, irgendwie schon.« Jetzt lacht Con. »Ich hatte ein bisschen Sorge.«
»Ach was.« Ich mache eine wegwerfende Handbewegung.
»Auch, weil … na ja, ich wusste einfach nicht, ob es in Ordnung ist, dich damit zu überfallen. Aber vor dir geheim halten wollte ich die Kette auch nicht.«
»Du hast genau das Richtige getan, Con«, sage ich. »Kann ich … wäre es okay, wenn ich die Kette behalte?« Ich weiß selbst nicht, woher die Frage kommt.
»Aber natürlich! Sie gehört dir. Oder zumindest gehört sie mehr dir als mir.« Er lächelt.
»Danke, Con.« Ich klopfe ihm auf die Schulter. »Das ist wirklich …« Mir fehlen die Worte.
Auf einmal besitze ich ein Erbstück aus meiner Familie. Meiner leiblichen Familie. Eine Kette, die in der Schmuckschachtel meiner Mutter lag, neben all dem horrend teuren Kram, mit dem mein Vater ihre Loyalität erkaufte. Vermutlich hätte er sie sogar billiger gekriegt.
»Vielleicht hast du ja eines Tages Verwendung dafür, Sohn«, sagt Con und erhebt sich. »Und jetzt ab mit dir. Wir sehen uns morgen.«
»My head’s in a frenzy «, singt Link. »My mind’s in a frenzy …«
Nachdem wir sicher zwei Stunden an neuem Material gearbeitet haben, jammen wir noch ein wenig zum Spaß. Frenzy ist eins der Lieder, zu denen Franzi ihn inspiriert hat. Das erste einer Reihe von Songs, die anders sind als alles, was wir vorher gespielt haben. Und dennoch haben wir sie zu unseren Songs gemacht.
Meine Klavierbegleitung ist deutlich rhythmischer als gewöhnlich. Weniger verspielt. Bonnie unterlegt den Song mit einer überraschenden Bass-Line und gibt Links Gitarre so den Raum, den sie braucht, ohne auf einen vollen Rahmen zu verzichten. Curtis’ Schlagzeug ist poppiger als sonst, und doch hat er seinen eigenen Stil in Frenzy hineingetragen.
Sal setzt zu einem letzten Trompetensolo an. Die Melodie ist voll und stark. Link und ich spielen abwechselnd hier und da einen pointierten Akkord. Das sind meine liebsten Momente. Die, in denen wir die Kreativität der anderen als Band tragen. In denen wir uns unterstützen, uns eine Bühne bieten, uns zurücknehmen. Bis der Nächste an der Reihe ist.
Sal blickt mich an, doch ich schüttle den Kopf. Ich habe für heute Abend genug Bühne gehabt. Außerdem werde ich mit Bonnie zusammen noch ein paar Stunden am neuen Song arbeiten. Mehr als genug musikalische Herausforderung für mich. Und, wenn ich ehrlich bin, will ich die Probe auch nicht mehr unnötig in die Länge ziehen.
Zehn Minuten später packen Link, Curtis und Sal zusammen.
»Drinks?«, fragt Curtis.
»Sorry, Mann, bin raus. Bonnie und ich haben noch was vor«, sage ich.
»Nice«, erwidert Curtis, wackelt anzüglich mit den Augenbrauen und hält mir seine Hand für ein High Five hin.
»Alter«, sage ich und drehe mich weg.
»Glaub mir«, flüstert er jetzt dicht an meinem Ohr, »sie hat’s ebenso nötig wie du. Eine klassische Win-win-Situation, wenn du mich fragst.« Er grinst.
»Hör auf mit dem Scheiß«, raune ich ihm zu und hoffe inständig, dass Bonnie nichts davon mitbekommen hat. Doch als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie gar nicht mehr im Raum ist.
»Wie auch immer«, sagt Curtis, und an seinem Blick sehe ich, dass er noch nicht fertig ist. »Ich lass das hier mal da.«
Er klatscht seine Hand auf das Klavier. Als er sie wieder hebt, sehe ich, dass dort ein Kondom liegt.
»Du bist wie ein pubertierendes Kind. Ein sehr nerviges noch dazu«, sage ich.
»Gern geschehen«, erwidert er und verlässt mit Link und Sal den Probenraum in dem Moment, als Bonnie mit zwei Flaschen Wasser zurückkehrt.
»Ich dachte, du hast vielleicht auch Durst«, sagt sie und reicht mir eine davon.
Die Tür fällt hinter ihr zu, und ich nehme dankbar eine der Flaschen.
»Cheers«, sage ich und proste ihr scherzhaft zu.
»Könnte ’ne lange Nacht werden, oder?«, fragt sie und lächelt ein wenig müde. Sie wirkt, als hätte sie in letzter Zeit nicht viel Schlaf gekriegt.
»Ach was, wir hauen einen perfekten Text raus, verfeinern die Melodie hier und da, schreiben dir eine zweite Stimme … ich würde sagen, wir sind in zwanzig Minuten fertig.« Ich lache. Und überraschenderweise lacht sie auch.
»Hast du schon Ideen?«, fragt sie. »Für einen Text, meine ich?«
»Ich habe mich an etwas versucht, aber, ehrlich gesagt, war nichts dabei, womit ich zufrieden gewesen wäre.«
»Geht mir auch so.«
»Wonach klingt es denn für dich? Was sind deine Assoziationen? Und sag nicht Glitzer, denn davon wollen wir weg.«
Ich setze mich zurück auf den Klavierhocker und spiele Links Melodie. Erst laut und fröhlich. Dann leise und sanft.
»Geht beides«, sage ich und drehe mich fragend zu Bonnie um.
»Die zweite Version klang ehrlicher«, sagt sie und setzt sich auf das Sofa am anderen Ende des Raums.
»Vielleicht wäre es schlauer, du würdest ein bisschen näher kommen«, schlage ich vor. »Für den kreativen Fluss.« Und weil ich sie gern in meiner Nähe hätte.
Sie will sich einen Stuhl von einem Stapel greifen, doch ich rutsche schnell auf dem Klavierhocker ganz an den Rand.
»Hier ist genug Platz«, sage ich und klopfe neben mich. Als wäre es selbstverständlich. Als wäre alles andere albern.
Ich sehe, dass sie einen Moment zögert. Doch dann schnappt sie sich ihre Wasserflasche und kommt zu mir. Setzt sich neben mich. Auf den eigentlich viel zu kleinen Klavierhocker. Ich rutsche noch ein Stück, damit es ihr nicht auffällt, und sitze nun nur noch mit meinem halben Hintern darauf. Dennoch berühren sich unsere Oberschenkel, und ich spüre ihre wunderbare Wärme.
Bonnie räuspert sich. »Spiel noch mal. Die langsame Version.«
Ich tue, wie mir geheißen. »Es klingt … sehnsuchtsvoll?«, biete ich an.
Unsere Blicke treffen sich. Sie nickt. »Genau das dachte ich auch«, sagt sie, als hätte meine Idee sie überrascht.
»Es klingt nach … diesem Verlangen?«, biete ich an und merke, dass ich es in diesem Augenblick spüre. Ein Ziehen tief in mir, das bewirkt, dass ich die Konturen von Bonnies Gesicht mit den Fingern nachzeichnen will.
»Ein Verlangen«, wiederholt sie leise.
»I’m still feeling it …«, beginne ich.
»Your gentle touch«, singt Bonnie.
»I can still feel your gentle touch«, singe auch ich nun auf eine leicht abgewandelte Melodie und denke daran, wie mein Körper um ihren geschmiegt war. Mein Herz schlägt schnell, und ich nehme noch einen Schluck Wasser, aus Furcht, Bonnie könnte mir etwas a
nmerken.
»Vielleicht«, sagt sie jetzt, »I’m still longing for your touch …?«
»Longing for your gentle touch«, sage ich und schlucke.
Ich spiele erneut die Melodie, wage es nicht, den Kopf zu wenden. Mein Atem geht seltsam unregelmäßig, obwohl das hier nur ein Songtext ist. Aber ich habe das Gefühl, als würde ich mehr hineinlegen als sonst. Als wäre ich nackt.
»Living in a memory«, singe ich.
»Painful memory«, schlägt Bonnie vor, und nun geschieht es doch. Ohne mir dessen bewusst zu sein, sehe ich sie erneut an. Aus ihren dunklen Augen spricht ebenjene schmerzhafte Erinnerung. Sie fühlt diesen Text. Ebenso wie ich ihn fühle. Nur weniger real.
»It wasn’t mine to take, but I took it anyway.« Sie ist so leise, dass ich sie kaum höre.
Ich ziehe einen Bleistiftstummel aus der Hosentasche und schreibe ihren Satz auf.
»Findest du das gut?«, fragt sie unsicher.
»Ich finde, es passt perfekt.« In meinem Hals hat sich ein Kloß gebildet. Spricht sie über mich? Hatte ich nicht das Recht, sie in meinem Arm zu halten? Oder bin ich der Einzige, der Poesie und Realität vermischt?
»I was blind before, but now I’ve come to see«, sage ich, ebenso vorsichtig und unsicher wie Bonnie zuvor.
Ich spüre, wie sie neben mir nickt, und schreibe diese Zeile ebenfalls auf.
»What took you so long«, singt Bonnie, und mit einem Satz springt sie auf. Beginnt, auf und ab zu laufen.
»Was …?«, setze ich an, doch als mein Blick ihr Gesicht streift, merke ich, dass etwas passiert ist. Ob es die Musik ist oder die Textzeilen, kann ich nicht sagen. Aus ihr spricht der Schmerz, die Verzweiflung.
»Wir kommen der Sache näher«, sage ich sanft. In dieser Stimmung gelingen ihr sicher großartige Lyrics. Und beinahe hoffe ich, dass sich auch bei ihr ein wenig Realität in die Gedanken mischt. Wobei, das stimmt nicht. Je länger ich sie ansehe, ihr feines Gesicht, die Traurigkeit, das Verlangen in ihren Augen, desto sicherer bin ich mir: Ich bete, dass ihre Sätze einen wahren Kern haben.