Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition)

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Love is Bold – Du gibst mir Mut: Roman (Love-is-Reihe 2) (German Edition) Page 25

by Engel, Kathinka


  »Willst du nicht wissen, was sie dir zu sagen hat?«, fragt Link, und ich beiße mir auf die Unterlippe.

  Es muss ihm vorkommen wie der größte Verrat an Blythe. Ihre letzten Worte an mich zu ignorieren. Dabei ist es das Gegenteil. Doch das kann ich ihm nicht sagen.

  »Ich habe es nicht geschafft«, sage ich deswegen und fühle mich noch elender.

  »Das verstehe ich«, sagt er. »Aber vielleicht wäre es langsam an der Zeit, meinst du nicht?«

  Ich nicke. Ich schlucke schwer. Ich weiß, dass er recht hat. Ich schulde es ihr.

  »Sag, Bonnie, warum bist du heute hierhergekommen?«

  »Hab ich doch schon gesagt. Um mit ihr zu reden.«

  »Du willst mit ihr reden, aber ihren Brief hast du nicht gelesen?« Er lacht leise. »Okay, lass mich anders fragen. Was ist aus der starken Bonnie geworden?«

  Ich schließe kurz die Augen. Die starke Bonnie. Die, die Kontrolle über ihre Handlungen hat. Der es gelingt, die Fassade aufrechtzuerhalten, zu filtern.

  »Die, die die Band rettet? Die, die mir sagt, was für ein Idiot ich bin? Die, die Curtis vor Dummheiten bewahrt?«

  Die Bonnie meint er. Ach so. »Sie macht Urlaub«, sage ich und versuche mich an einem wenig überzeugenden Grinsen.

  »Im Ernst, ich mache mir Sorgen um dich. Du siehst blass aus, als würdest du nicht gut schlafen. Hast du Ärger zu Hause?«

  »Ach was.«

  »Wann haben wir aufgehört, uns alles zu erzählen?«, fragt er, lehnt sich zurück und stützt sich auf die Ellenbogen.

  Wann war das? Umgekehrt habe ich es immer von ihm verlangt. Ehrlichkeit, Offenheit. Link war lange Zeit der Einzige, der von meinen Gefühlen wusste. Und er hat mich nie verurteilt. Im Gegenteil.

  »Na komm«, sagt er und streckt seinen Arm nach mir aus. Er zieht mich in eine Umarmung. Und als er mich wieder loslässt, bleibe ich einfach so liegen. In seinem Arm. Früher wäre das ganz normal gewesen. Unsere Freundschaft war immer auch körperlich. Ich saß auf seinem Schoß, er küsste mich auf den Scheitel … Doch seit er Franzi hat, halte ich mich zurück. Es ist schön, ihm nun auf diese Weise nah zu sein. Meinem besten Freund. Hier zu liegen, dem leisen Plätschern des Mississippi in der untergehenden Sonne zu lauschen. Der Himmel hat sich bereits in ein dunkles Lila gefärbt.

  »Ich habe mit Jasper geschlafen«, sage ich auf einmal.

  Einen Moment lang passiert überhaupt nichts. Dann: »Endlich.«

  Ich richte mich auf, aber Link zieht mich wieder an sich.

  »Wie kannst du das sagen?«, frage ich. »Es ist schrecklich. Es ist absolut falsch.«

  »Bonnie«, sagt er und presst nun tatsächlich seine Lippen auf meine Box Braids. Wie in alten Zeiten. »Ich glaube, ganz im Gegenteil. Ich freue mich für dich.«

  Ich seufze. Ich bin so müde. Ich habe keine Kraft, mich dagegen zu wehren, dass Links Worte eine Wohltat sind. Dass es schön ist, sich für einen Augenblick lang nicht schmutzig und abstoßend zu fühlen.

  »Du bist meine beste Freundin, Bonnie«, sagt er. »Ich wünschte, du würdest ein bisschen Glück zulassen und die Rakete abfeuern.«

  38 – Jasper

  Heute

  An jedem letzten Samstag im Monat spielt Bonnie mit einer Combo aus Veteranen, deren Bassist vor einiger Zeit verstorben ist, in einem kleinen Club in der Frenchmen Street. Ein paarmal war sie danach mit Link und Curtis feiern, während ich meiner Verantwortung als alleinerziehender Vater nachkam und früh ins Bett ging. Doch heute bleibt Link bei Weston und Maya zu Hause, während ich mich mit Bonnie treffe. Noch weiß sie nichts von ihrem Glück. Und ich bin mir nicht einmal sicher, wie ironisch »Glück« in diesem Zusammenhang gemeint ist.

  Um halb zwölf find ich mich vor dem Vape ein. Oldschool Blues dringt nach draußen. Im Schein der farbenfrohen Lichter vor den Clubs und Bars wirken die Menschenmengen auf der Suche nach Spaß und Musik wie die Party selbst – und das sind sie auch. Denn nicht nur in den Clubs, auch auf der Straße sind der Sound von New Orleans, die Buntheit, die Freiheit allgegenwärtig. Es riecht nach feuchter Wärme und Gras, es klingt nach Heimat. Eine Brassband steht, umgeben von einer Traube Touristen, zwei Straßenecken weiter, und ihre Musik vermischt sich mit dem Sound aus dem Vape.

  Mit dem Blick auf den Seiteneingang lehne ich mich an eine der Säulen, die die Balkons im ersten Stock der Gebäude stützen. Meine Hände habe ich in den Hosentaschen vergraben. Jetzt heißt es warten. Zwei Männer mit Instrumenten betreten den Club für den anschließenden Jam. Einer der Angestellten kommt auf eine Zigarette heraus. Ansonsten bleibt die Tür geschlossen. Ich bin nervös, und meine Hände beginnen, in meiner Hosentasche zu schwitzen. Wird sie mich wieder abweisen? Oder gibt sie mir die Gelegenheit, mit ihr zu sprechen? Richtig zu sprechen?

  Wenn ich darüber nachdenke, dass ich mich nach über vier Jahren wieder auf einen Menschen einlassen will – ganz und gar, so, wie ich mich auf Blythe eingelassen habe –, erfüllt mich ein ungeheures Glücksgefühl. Es scheint, als hätte der Kummer ein Ende. Dass Bonnie der Grund dafür ist, mag auf den ersten Blick verwunderlich sein. Aber gleichzeitig ist es erstaunlich, wie wenig es mich am Ende überrascht. Als wäre Bonnie die einzige Wahl für mich. Als wäre sie es schon lange, nur war ich zu blind, es zu sehen. Zu blind und zu feige. Jetzt, hier und heute, bin ich mutig genug. Mutig genug für einen Versuch wenigstens. Für eine Chance.

  Die Tür öffnet sich erneut, und ich höre ihr Lachen, ehe ich sie sehe. Zunächst treten zwei alte Herren heraus. Einer von ihnen trägt einen Geigenkasten.

  »Harry«, sagt der andere, »Bonnie ist viel zu jung für deinen Sohn. Und wo wir gerade dabei sind, zu hübsch und zu klug.«

  »Danke, Frank«, antwortet nun Bonnie, die beinahe unter ihrem Kontrabass verschwindet. Unwillkürlich schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht.

  »Allerdings bin ich auch hübsch und klug. Und ich erinnere mich im Gegensatz zu diesem alten Kauz noch daran, wie es war, jung zu sein«, sagt Frank weiter.

  Wieder erklingt Bonnies Lachen. Es ist ehrlich und froh und bewirkt, dass sich mein Inneres fest zusammenzieht.

  »Ich sag dir was, Frank. Ich würde sofort mit dir ausgehen. Aber ich fürchte, deine Frau hätte etwas dagegen.«

  Frank schiebt die Unterlippe nach vorne und seufzt. »Da könntest du recht haben«, sagt er, und als hätten sie sich abgesprochen, kommt in diesem Augenblick eine weißhaarige Dame auf die drei zu, in der Hand einen Autoschlüssel.

  »Frank«, sagt sie, »ich bring dich jetzt ins Bett.«

  Bonnie und der Mann namens Harry brechen in lautes Gelächter aus.

  »Gute Nacht, Frank!«, rufen beide im Chor und winken.

  Bonnies Blick folgt Frank und seiner Frau, bleibt jedoch im selben Moment an mir hängen. Kurz meine ich, Freude in ihrem Gesicht aufflackern zu sehen, doch in der gleichen Sekunde weicht sie etwas, das ich nicht deuten kann.

  Ich hebe leicht verlegen die Hand zum Gruß.

  Mit den Lippen formt sie die Worte: »Was machst du denn hier?«

  Ich zucke etwas verlegen mit den Schultern, senke den Blick. Aber auf meinen Lippen liegt ein Schmunzeln, dessen ich mich nicht erwehren kann. Nicht mehr. Nicht in Bonnies Nähe. Und vor allem nicht, wenn ich sie mit alten Männern scherzen sehe.

  Sie verabschiedet sich von Harry und kommt dann auf mich zu. Mein Herzschlag beschleunigt sich, mein Lächeln wird breiter, meine Hände schwitziger.

  »Ich war gerade in der Gegend«, sage ich etwas lahm. »Hi.«

  »Sehr überzeugend.« Ihre Haltung ist leicht vornübergebeugt, weil der Kontrabass schwer auf ihrem Rücken liegt.

  »Kann ich dir was abnehmen?«, frage ich.

  »Nein danke.«

  »Würdest du mir erlauben, dir etwas abzunehmen?«, versuche ich es erneut.

  »Willst du meine Noten tragen?« Sie reicht mir eine Umhängetasche, und ich kann nicht anders, als ein halb amüsiertes, halb frustriertes Lachen auszustoßen.

  »Okay, Deal«, sage ich. »Du behältst den Kontrabass auf dem Rücken, gehst dafür aber mit mir noch etwas trinken.« Ich bin mir sicher, dass sie ablehnt.

  »Ich bin e
cht müde. War ein langer Gig. Ein andermal, in Ordnung?«

  »In Ordnung. Aber dann bestehe ich darauf, deinen Bass zu tragen. Du bist müde, hattest einen langen Gig …«

  »Ich dachte, du willst etwas trinken gehen?«

  »Nein, ich wollte mit dir etwas trinken gehen. Stattdessen bringe ich dich nach Hause und ins Bett. Stell dir einfach vor, du wärst Frank und ich seine Frau.«

  Ich sehe, dass sie versucht, sich gegen ein Grinsen zu wehren.

  »Und jetzt mal im Ernst, glaubst du wirklich, Franks Frau würde zulassen, dass er seinen Kontrabass trägt?«

  »Definitiv nicht. Und du lässt mit Sicherheit auch nicht locker«, sagt Bonnie seufzend und stellt tatsächlich das schwere Instrument ab, sodass ich es mir auf den Rücken heben kann.

  Wir setzen uns in Bewegung und folgen der Frenchmen Street Richtung Norden. Immer wieder müssen wir Passanten ausweichen, die nicht mehr ganz Herr ihrer Sinne sind. Die laute Brassband ist inzwischen weitergezogen und nur noch von ferne zu hören. Aus jeder Bar, jedem Club dringt Musik nach außen. Jazz, Blues, Funk, Soul … Das bunte Treiben auf der Straße wird auch in den nächsten Stunden nicht abnehmen. Es ist ein Ort des kulturellen Erbes und des Vergessen-Wollens, der grenzenlosen Freude und des Exzesses. Für uns ist es Alltag, unser Arbeitsplatz. Und doch ist es gleichzeitig so viel mehr. Es ist Identität.

  »Also Frank und Harry, hm?«, frage ich. »Ist das der wahre Grund, warum …« Ich beiße mir auf die Zunge.

  Als ich den Kopf wende, sehe ich, dass Bonnie die Augen verdreht.

  »Das war keine gute Gesprächseröffnung«, gebe ich zu.

  »Du warst nicht zufällig in der Gegend, hab ich recht?« Es ist keine Frage. Es ist eine resignierte Feststellung. Und vielleicht ist Resignation das Beste, worauf ich in diesem Moment hoffen kann.

  »Ich wollte dich sehen«, sage ich. »Musste«, schiebe ich hinterher.

  Inzwischen haben wir den belebten Teil der Frenchmen Street hinter uns gelassen, nähern uns dem Louis Armstrong Park. Währenddessen denke ich angestrengt darüber nach, wie ich Bonnie dazu bringe, sich mir anzuvertrauen.

  »Was hältst du von einem Spiel?«, frage ich, da der Lärm des French Quarter nun kaum noch zu hören ist und die Stille zwischen uns beginnt, unangenehm zu werden.

  »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das läuft ungefragt neben mir«, sagt Bonnie mit vor Ironie triefender Stimme.

  »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist stur«, kontere ich.

  »Never have I ever«, fährt sie fort, »… eine Freundin genervt.«

  »Never have I ever«, erwidere ich und gebe mir Mühe, geduldig zu sein, »… einer Freundin etwas verheimlicht.«

  Bonnie schnaubt.

  »Was reimt sich auf?«, schlägt sie vor. »Was reimt sich auf ›Schmervensäge‹«?

  »Das ist kein Wort.«

  »Nervensäge«, sagt sie.

  »Was reimt sich auf Schmaussprache?«

  »Und das ist ein Wort?«

  »Deine Regeln«, sage ich. »Und ›Aussprache‹ wäre die richtige Antwort gewesen.«

  »Wir versagen wohl beide bei diesem Spiel.«

  »Darf ich vielleicht etwas vorschlagen?«, frage ich.

  »Bitte, bitte. Ich kann dich ja ohnehin nicht davon abhalten.«

  Wir sind nun auf der Höhe des Parks und orientieren uns nach links, um ihn zu umlaufen.

  »Ich tausche Geheimnis gegen Geheimnis«, sage ich.

  »Das ist ein dämliches Spiel.«

  »Es ist ein ganz hervorragendes Spiel. Hugo hat es mir beigebracht. Pass auf, ich fange an. Es gab Augenblicke in den letzten Jahren, da habe ich mir gewünscht, ich hätte keine Kinder.«

  Die peinliche Wahrheit hängt über uns. Für einen Moment sagt niemand was.

  Weil ich merke, wie unangenehm mir das Geständnis ist, erkläre ich: »Die Verantwortung, weißt du? Ginge es nur um mich, könnte ich das Haus verkaufen, meine Schulden abbezahlen. Manchmal war es beinahe erdrückend.«

  »Du musst dich nicht rechtfertigen«, sagt Bonnie, und ihre Stimme klingt auf einmal ganz sanft. »Schätze, das ist ganz normal. Alles andere hätte mich, ehrlich gesagt, gewundert.«

  Eine Weile laufen wir nebeneinander, ohne zu sprechen. Der Weg führt uns unter der Interstate 10 hindurch. Ein paar wenige Autos donnern auch zu dieser späten Stunde über uns hinweg. Verkehr aus der Stadt hinaus, Verkehr in die Stadt hinein. Zu den Pendler-Stoßzeiten morgens und abends staut es sich auf den drei bis vier Spuren pro Richtung meilenweit.

  »Ich sammle Momente in Einweckgläsern«, sagt Bonnie und unterbricht damit unser Schweigen.

  »Wie meinst du das?«, frage ich, weil ich mir unter ihrem Geheimnis nichts vorstellen kann.

  »Gedanken, Dinge, die ich mit Situationen verbinde … ich lege alles in ein Glas und schraube es fest zu. Dann stelle ich es in mein Regal. Wie ein Museum für Erinnerungen.«

  »Das klingt schön«, sage ich und bin beeindruckt. Von Bonnie, von der Romantik, die dieser Angewohnheit innewohnt. Das hätte ich von ihr nie erwartet.

  »Es ist eher belastend.« Sie lacht.

  »Inwiefern?«

  »Erst bist du wieder dran«, fordert sie.

  »Okay. Also. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob ich Curtis wirklich mag.«

  Ihr Lachen wird lauter. »Wer ist das schon?«, sagt sie. »Scherz. Ich liebe ihn. Aber ich kann verstehen, dass es tagesformabhängig ist.«

  »Puh.« Ich seufze erleichtert auf. Hugos Spiel ist nervenzehrend. Aber ich will es versuchen. Deswegen muss ich unangenehme Wahrheiten teilen. »Also, warum ist es belastend, Erinnerungen in Gläsern zu sammeln?«

  »Jedes einzelne ist wie ein Mahnmal«, sagt sie. »Du wirst sie nicht los. Bei schönen Erinnerungen ist das eine Sache. Aber bei den schmerzvollen …«

  Herzvollen, reime ich im Kopf.

  »Was für Erinnerungen sind denn schmerzvoll?«

  Doch sie schüttelt den Kopf. »Du bist dran.«

  Ich räuspere mich. Es wird immer härter. Aber Deal ist Deal. »Ich … ähm … ich denke schon seit einer ganzen Weile nicht mehr auf diese besondere Weise an Blythe. Auf eine liebende Weise, natürlich. Aber nicht mehr auf eine … leidenschaftliche.«

  Wieder hängen die Worte spannungsgeladen in der Luft.

  »Okay«, sagt Bonnie, und ich spüre, wie erleichtert ich bin. »Schmerzvolle Erinnerungen also? Geheimnis gegen Geheimnis?« Sie sieht mich mit ihren dunklen Augen an. Im Schein der Straßenlaternen wirken sie beinahe schwarz. »Das hier wird heftig.« Sie bleibt stehen, strafft die Schultern. Blickt zu Boden, hebt den Kopf wieder. »Unser Kuss.«

  Ein stechender Schmerz breitet sich von meinem Herzen in alle Richtungen in meinen Körper aus. »Das ist eine schmerzvolle Erinnerung für dich?« Ich habe einen Kloß im Hals.

  »Ich meine unseren ersten Kuss, Jasper. Den, kurz bevor …« Ihre Stimme bricht ab.

  »Du meinst …« Ich bin wie vom Donner gerührt.

  »Ich meine, nach dem Abend … Du und ich. Bei dir. Millionaire Matchmaker … «

  »Ist das dein Ernst?«, frage ich ungläubig. Dieser Kuss, so unschuldig. So bedeutungslos. So nichtig. Natürlich war es in dieser Situation ein Fehler. Natürlich hätte es nicht passieren dürfen. Aber wer war in diesen schrecklichen Tagen schon Herr seiner Sinne?

  »Natürlich.« Es ist mehr ein Hauchen als sonst irgendwas.

  »O Bonnie«, stöhne ich und fahre mir mit der Handfläche über das Gesicht, höre das Geräusch meiner Bartstoppeln unter meinen Fingern.

  »Was?«, fragt sie und klingt so ernst. So verzweifelt ernst.

  Ich räuspere mich, gehe einen Schritt auf sie zu. Sie weicht kaum merklich zurück, und ich trete noch näher an sie heran. Lege eine Hand auf ihre Schulter, die sich ganz warm anfühlt unter meinen Fingern. »Das war«, sage ich vorsichtig, »die extremste aller Extremsituationen. Meine Frau … lag im Sterben. Deine beste Freundin. Wir hatten für einen Moment keine Kontrolle über unsere Emotionen, weil alles so unerträglich grauenhaft war.« Ich kann nicht glauben, dass sie diese Erinnerung so lange mit sich herumgeschleppt hat. Das nun zu wissen
bricht mir beinahe das Herz.

  Sie nickt, ihr Blick wird auf einmal glasig, als müsse sie Tränen zurückhalten.

  Ich spreche einfach weiter. Denn ich kann es so nicht stehen lassen. »Wir waren vollkommen ausgelaugt. So schwach war ich in keinem Moment meines Lebens. Weder davor noch danach. Wir brauchten Nähe, und die ist für eine Sekunde aus dem Ruder gelaufen – vor Verzweiflung«, schiebe ich hinterher. »Das war dämlich, aber nichts, worüber man sich im Nachhinein hätte den Kopf zerbrechen müssen. Niemand ist so stark, dass er das einfach aushalten kann. Niemand.« Ich schlucke, als ich sehe, dass sich tatsächlich eine Träne aus Bonnies Augen gelöst hat und ihr über die Wange rinnt. »Ich fasse es nicht, dass du das all die Jahre mit dir herumgetragen hast.«

  »Für dich ist das etwas anderes«, sagt sie leise.

  »Bonnie!« Meine Stimme bebt, und ich wische ihr mit dem Handballen einmal über die Wange. »Bonnie.« Meine andere Hand liegt immer noch auf ihrer Schulter, und ich muss mich zusammenreißen, um sie nicht in meine Arme zu ziehen. »Blythe hätte das übrigens auch so gesehen«, sage ich dann. »Das weißt du doch, oder?«

  Sie nickt, aber ich habe nicht den Eindruck, als wäre das, was ich soeben gesagt habe, wirklich bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen.

  »Danke, dass du mir Absolution erteilen willst.« Sie hat sich wieder gefangen, und die Mauer von vorhin ist zurück. »Und in deinem Fall ist sie auch gerechtfertigt.« Sie geht ein paar Schritte. Als ich merke, dass sie nicht wieder stehen bleibt, beeile ich mich, zu ihr aufzuschließen.

  »Wie meinst du das?«, frage ich. Sie spricht in Rätseln.

  »Vergiss es«, sagt sie. »Es hat nichts zu bedeuten.«

  Doch ich weiß, dass mehr dahintersteckt. Zeit für das nächste Geheimnis. »Ich hatte vor drei Wochen das erste Mal seit viereinhalb Jahren Sex«, sage ich schnell.

 

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