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Down

Page 4

by Nate Southard


  Aber sie war es gar nicht. In seiner Verwirrung hatte er gar nicht mehr an die Reporterin vom Rolling Stone gedacht. Er versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern, aber sein Hirn war erneut lethargisch und schwer. Sie schien ihn anzustarren, als ob sie Angst hatte. Entweder Angst vor ihm oder um ihn.

  »Sie scheinen sich eine Gehirnerschütterung zugezogen zu haben«, meinte sie.

  »Hä?«

  »Ich kenne die Symptome. War mal für drei Wochen mit Guns N’ Roses auf Tour und hab’s in der Zeit etwa viermal miterlebt.« Jetzt konnte sie sich aus eigener Kraft aus ihrem Gefängnis aus Koffern und Ausrüstung befreien und aufstehen. »Danke für die Hilfe. Was packt ihr Leute eigentlich immer so viel Krempel ein?«

  »Eine Gehirnerschütterung würde einiges erklären«, erwiderte er, während er sich frischen Schweiß aus dem Gesicht wischte. »Sind Sie in Ordnung?«

  »Jetzt, wo ich mich wieder frei bewegen kann, schon. Wo genau sind wir runtergekommen?«

  »Ich hab keinen blassen Schimmer. Aber das ist eine ziemlich gute Story für Sie, was?«

  »Besser als Ihr Junkie an der Leadgitarre und die Sonderlinge aus der Rhythmussektion allemal.«

  »Das fängt ja gut an. Schauen Sie, ich …«

  »Klar, wir hatten einen Flugzeugabsturz. Es gibt eine Menge wichtiger Dinge zu erledigen. Alles andere hat Zeit. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

  »Überlebende. Fangen Sie an, nach ihnen zu suchen. Neben den zwei Piloten waren fünf Bandmitglieder und wir drei in der Maschine. Conner und Dani scheinen auf den Beinen zu sein. Aber … verdammt, finden Sie einfach die Restlichen und kommen Sie hierher zurück. Dann überlegen wir gemeinsam, wie’s weitergeht.«

  »Okay. Ich kümmere mich drum.« Sie wollte an ihm vorbeigehen, doch dann erstarrte sie, als ein gellender Schrei, in dem entweder Qualen oder Wut mitschwangen, durch die Luft klirrte. Rolling Stone – Shannon, genau, so hieß sie! – warf ihm einen ängstlichen Blick zu, dann stürzte sie durch die Öffnung nach draußen.

  Potter folgte ihr, so schnell er konnte.

  »Greg?«

  Der Bassgitarrist war damit beschäftigt, die Stelle zu betrachten, an der sein Unterarm in einem Gewirr aus Plastik und zerstörten Metallteilen versank, als jemand seinen Namen rief. Er blinzelte und fragte sich, aus welcher Richtung die Stimme kommen mochte. Er drehte den Kopf zur Seite, weil er bemerkte, dass der Rufende etwa drei Meter rechts neben ihm stand. Klar, das musste Curtis sein.

  »Bist du okay?«, fragte er.

  Curtis gab keine Antwort, sondern stieß nur einen langsamen Atemzug aus, der feucht und rasselnd klang. Es ergab nicht viel Sinn, aber was hatte in den letzten paar Minuten schon Sinn ergeben? Alles stand Kopf und war zusammengequetscht.

  »Hey, Curtis. Sprich mit mir, Mann.« Er entdeckte Schmerz in den Augen seines Freundes, Schmerz und eine Art Verwirrung, die beinahe aussah wie … was? War es Erstaunen? Worum auch immer es sich handelte, es war so stark und mächtig, dass er seine Augen für einen langen Moment nicht von denen seines Freundes losreißen konnte. Deshalb bemerkte er auch nicht den zerbrochenen Stiel aus Metall, der aus dem Bauch des Schlagzeugers ragte.

  Als er das Trümmerstück schließlich doch registrierte, das Curtis durchbohrte und wie ein Insekt an den Kabinenboden spießte, nahm er nichts anderes mehr wahr. Blut benetzte das stumpfe Material – er fragte sich, ob es Stahl war – und seine Blicke hingen fassungslos an den kleinen Gewebestücken, die an Bruchkanten mit dermaßen ausgeprägten Scharten hingen, dass sie ihm wie Sägeblätter vorkamen.

  Das Metallstück hatte sich nicht nur in seinen Freund, sondern durch ihn hindurch gebohrt und alles zerstört, was ihm im Weg gewesen war. Greg spürte, wie Verzweiflung in ihm aufstieg. Er zitterte und kam sich nutzlos vor. Er wusste, dass sein Freund im Sterben lag, noch bevor ihm auffiel, dass Blutlachen aus dem Loch im Bauch quollen. Als er dann das Rot sah, das aus der Wunde strömte, als ob es von dort vertrieben würde, war die Sache für ihn klar. Er machte eine ruckartige Bewegung in Richtung seines Freundes und brüllte auf, als sich etwas aus den Trümmern tief in seinen Arm bohrte und ihn zu Boden riss.

  Sein Freund starrte ihn immer noch an, aber das Licht in seinen Augen erlosch allmählich. Die Lippen, vorher fest zusammengepresst, teilten sich langsam, als er einen zitternden Atemzug nahm. Er streckte eine Hand aus, die sich ein paarmal öffnete und schloss, jedes Mal etwas langsamer, dann atmete er rasselnd aus. Alles wurde still.

  »Curtis!«

  Er versuchte erneut, sich zu bewegen, und ein Blitz aus purer Qual schlug in seinen Körper ein. Verdammte Scheiße!

  »Was ist los?«, erkundigte sich eine Stimme, die näher kam. Greg identifizierte Potter und drehte sich in seine Richtung. Als sich sein Blick unter dem Tränenschleier klärte, schälten sich die Umrisse der massigen Statur des Tourmanagers heraus. Dieser füllte eine schmale Öffnung, die sich weniger als drei Meter rechts von ihm befand, vollständig aus. Eine kleinere Gestalt stand direkt neben ihm. Eines der Mädchen? Es war zu dunkel, um mehr zu erkennen, und seine Trauer wirkte sich auf seine Fähigkeit, klar zu denken, aus.

  »Ist Curtis …?« Potters Stimme versagte ihren Dienst. »Fuck.« Der Fluch war kaum zu hören. Er wankte einen Schritt zurück und fiel unvermittelt auf die Knie, jaulte auf und stieß Würgelaute aus, während sein Körper durchgeschüttelt wurde, als müsste sich etwas Schreckliches den Weg ins Freie bahnen.

  Greg wandte sich ab und konzentrierte seine Aufmerksamkeit noch einmal auf Curtis. Er lag mit festgenageltem Arm unbewegt da und versuchte, nicht zu schreien, während er tief in die toten Augen seines besten Freundes blickte.

  Drei

  Wenn man high war, lief alles um einen herum wie in Zeitlupe ab. Das war die Begleiterscheinung von Drogen, die Conner am besten gefiel – dass die Welt langsam und zähflüssig wurde wie das flüssige Feuer, das aus den Bäumen tropfte, oder die Töne seiner Gitarre, die nach oben stiegen. Er verbrachte in seinem Leben zu viel Zeit damit, sich zu beeilen und Termine einzuhalten. An der Halle ankommen, Soundcheck machen, Showbeginn, zurück in den Bus: Jeder einzelne dieser Punkte war mit einer exakten Uhrzeit im Tourplan festgehalten und man durfte keinen davon verpassen, sonst machte Potter einem die Hölle heiß. Wenn die Welt weich und geschmeidig wurde und sich zu seinen Füßen langmachte, war ihm das egal. Er empfand es als wichtige Unterstützung.

  Dann gab es Momente wie jetzt, in denen er auf einen Schrei zulief, von dem er sich gar nicht so sicher war, ob es ihn wirklich gab. Hinzu kam, dass sich sein Orientierungssinn mit jedem hektischen Schritt verschob und veränderte. Der Boden schwankte und schien zu zerbröckeln und die Entfernung zwischen ihm und dem Flugzeug pendelte ständig zwischen verschiedenen Extremen.

  Er spürte, wie die ersten Anzeichen von Frustration an ihm kratzten, als hätten sie ihre Fingernägel schon lange nicht mehr geschnitten. Sie ließen ihn an seinen Notvorrat denken. Dieser musste sich irgendwo an Bord befinden, wahrscheinlich in seinem Handgepäck. Er konnte nicht sicher sein, denn sein Rausch trieb lustige kleine Spielchen mit seinem Hirn, aber er glaubte, dass er das Zeug dort verstaut hatte. Ein kleiner Schniefer und seine Rippen würden Ruhe geben. Außerdem würden diese Fingernägel aufhören, an ihm zu kratzen. Alles, was er brauchte …

  Ein Ächzen löste sich aus seiner Kehle, als der Boden von einer Sekunde auf die andere unter seinen Füßen verschwand. Sein nächster Schritt ging ins Leere und sein Gleichgewicht war dahin. Er fiel vornüber und grunzte, als er mit dem Gesicht in die Kiefernnadeln stürzte und unaufhaltsam abwärtsglitt. Er streckte beide Arme aus und klammerte sich am Boden fest, um nicht weiter abzurutschen.

  Eine Senke, sogar eine ziemlich große. Vielleicht zehn Meter lang und fünf Meter breit. Das Gefälle war nicht allzu steil, aber das Herausklettern würde trotzdem mühsam sein. Manchmal hatte es auch Nachteile, bekifft zu sein.

  Er versuchte, über die Schulter zu spähen, um zu sehen, wie tief er genau gerutscht war, doch das führte lediglich dazu, dass er komplett den Halt verlor. Kiefernnadeln rutschten un
ter sein Hemd. Sie schabten über seine Haut und setzten sämtliche Nervenenden in Brand. Sein Atmen verwandelte sich in ein heftiges, stockendes Keuchen. Als er nach oben schaute, konnte er nicht sagen, ob der Weg in die Freiheit einen oder ungleich mehr Meter entfernt lag. So oder so fing er an zu kraxeln, vergrub die Finger im Erdreich und hoffte, dass er genug Kraft aufbringen konnte, um sich aus seiner Lage zu befreien. Danach würde er zurück zum Wrack gehen, seinen Vorrat suchen und sich zudröhnen. Das schien ihm ein guter Plan zu sein. Hoffentlich war niemand von den anderen zu schwer verletzt. Sie rutschten auf seiner Prioritätenliste gerade ziemlich weit nach hinten.

  Seine Arme brannten, seine Beine schmerzten. Bauch und Brust juckten und er wünschte sich nichts mehr, als sich zu kratzen, selbst wenn es wehtat. Aber vorher musste er ebenen Boden erreichen. Ein Teil von ihm wäre allerdings lieber zurück ins Loch gesprungen. Ein Loch in der Welt. Merkwürdig. Er kletterte weiter, denn seine eiserne Notration würde er hier kaum finden.

  »Fickt euch doch alle!«, fluchte er, als er den Rand erreichte und sich aus der Senke zog. Viel zu anstrengend. Ohne den Einfluss der Drogen hätte er einfach aus der gottverdammten Grube rausspringen können. Umgekehrt wäre ihm wahrscheinlich alles egal gewesen und er hätte sich ein kleines Nickerchen dort unten gegönnt.

  Conner rollte sich auf den Rücken und kratzte sich unter dem Hemd. Erleichterung ergriff ihn, doch der Juckreiz kehrte sofort zurück. Er musste zum Flieger, wenn er ihn wenigstens für ein paar Sekunden betäuben wollte. Doch die Vorstellung, zu stehen oder sich sogar zu bewegen, kam ihm wie eine Strafe vor. Jeder Teil seines Körpers flehte ihn an, flach auf dem Rücken liegen zu bleiben und ruhig durchzuatmen, den Geruch von Kiefern und Dreck zu inhalieren – und von … was war das?

  In der Luft lag ein schweres Aroma, das ihm aus irgendeinem Grund das Gefühl von kühlender Wärme gab. Es kroch in seine Nasenlöcher und füllte seinen Kopf. Er würgte, rollte sich auf die Seite und hustete in den Erdboden, atmete dabei etwas davon ein und musste würgen. Scheiße, was war das nur?

  Langsam kämpfte er sich auf Hände und Knie und versuchte, seinen Magen daran zu hindern, sich zu einem Knoten zu verschlingen. Er bemühte sich, den Atem anzuhalten, schaffte es aber nicht. Seine Lungen forderten protestierend Sauerstoff ein, egal wie ranzig er sein mochte. Und die Luft schmeckte wirklich faulig, wie etwas Grässliches, das aus der Senke aufstieg und die natürlichen Düfte des Waldes verdrängte.

  Was war das nur?

  In Conner rangen die Angst vor dem, was er entdecken würde, und der Wunsch, es herauszufinden, miteinander. Er kroch zum Rand der Öffnung und spähte hinunter. Die Dunkelheit verschluckte alles, also kramte er in der Tasche nach dem Feuerzeug. Er hielt es über den Rand, drehte das Rädchen und ließ es aufflammen. Ein weiches, orangefarbenes Glühen pulsierte in seiner Hand, und er machte es sich zunutze, um die Senke genauer in Augenschein zu nehmen.

  Verdammt! Sein Magen verkrampfte sich und der restliche Körper verwandelte sich in klirrendes Eisen. Ihm wurde unglaublich kalt. Für eine lange Zeit konnte er nichts tun, als zitternd in das Loch zu starren.

  Es sah aus, als wäre er vorhin weit genug hineingerutscht, um eine dreckige Spur im Blut zu hinterlassen, mit dem der untere Teil der Senke getränkt war. Der Boden war dunkel und feucht. Rotfleckige Nadeln bedeckten das Erdreich, und selbst in seinem berauschten Zustand konnte er sich denken, was für diese Färbung verantwortlich war. Der übermächtige Geruch von Blut wurde noch durch den Gestank nach rohem Fleisch und Verwesung übertroffen. Conner schaffte es nicht, sich abzuwenden. Er versuchte zu begreifen, womit er es zu tun hatte.

  Einige der Körperteile, die auf dem Boden der Senke verstreut lagen, schienen von Tieren zu stammen. Er erspähte verkrustetes Fell und einen Schädel mit Geweih. Doch das war noch nicht alles. Zerrissene Kleider, ein mit roten Schlieren verschmierter Wanderstiefel. Eine Hand mit noch etwas Fleisch an den Knochen.

  Mein Gott!

  Entsetzen durchzuckte ihn wie ein Stromschlag und er merkte nicht einmal, dass er aus voller Kehle schrie, während er sich aufrappelte und mit einer Reihe verzweifelter, stolpernder Ausrufe wegrannte.

  Er musste die anderen finden, musste sie warnen. Hier war irgendetwas, etwas Furchtbares, und es konnte einen Menschen bei lebendigem Leib zerfetzen. Vom Schrecken angetrieben, ließ Conner die Senke hinter sich und stürzte auf das glimmende Wrack zu.

  Als sie Conners Ausbruch hörte, sprang Dani auf und konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Auch Jen schrak zusammen. Sie versuchte sich aufzusetzen und brüllte plötzlich los. Ihr Gesicht wirkte angespannt und verkrampft. Sie zitterte, während sie sich bemühte, eine Reihe von Schluchzern herunterzuschlucken. Dani drückte ihre Hände sanft auf die Stirn ihrer Schwester, um sie zu beruhigen. Jens Körper bebte und ein lang gezogener, hoher Laut, der von großer Qual zeugte, drang durch ihre zusammengebissenen Zähne.

  »Alles wird gut«, redete Dani auf sie ein. »Sieh zu, dass du dich nicht allzu sehr bewegst. Ich weiß, dass es wehtut, aber …«

  »Wer … hat geschrien?«

  »Ich weiß nicht. Könnte jeder gewesen sein.«

  Jens Gesichtszüge entspannten sich für einen Moment, als sie schwer atmend liegen blieb. Ihre Augen schlossen und öffneten sich wieder, und sie schien nun weitaus ruhiger zu sein. »Was, wenn … es könnte … Kevin gewesen sein.« Sämtliche Luft schien aus ihren Lungen zu entweichen, nachdem sie den Gedanken beendet hatte.

  Dani hatte alles daran gesetzt, den Gedanken zu verdrängen, aber jetzt, wo Jen ihn laut ausgesprochen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich damit auseinanderzusetzen. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, um auch ihrer Schwester Ruhe und Halt zu geben, aber ihre Nerven schienen Feuer gefangen zu haben. Die Angst kroch lichterloh brennend ihr Rückgrat hinauf. Was, wenn es wirklich Kevin war? Er konnte verletzt sein, möglicherweise sogar im Sterben liegen. Was, wenn niemand ihm half? Er würde mit ihrem Namen auf den Lippen einsam sterben, überzeugt davon, dass sie ihn im Stich gelassen hatte.

  Sie wusste, dass ihre Schwarzmalerei zu weit ging, aber sie konnte diese Gedanken nicht abstreifen. Nackte Panik hatte endgültig von ihr Besitz ergriffen. Sosehr sie sich wünschte, dass das Bild aus ihrem Kopf verschwand, es ließ sich nicht vertreiben. Die Hände, die ihrer kleinen Schwester Halt geben sollten, hatten sich zu zitternden Fäusten geballt. Als sie Jens Berührung an ihrem Oberarm spürte, musste sie sich einen Aufschrei verkneifen.

  »Dani.«

  »Ja?«

  »Geh ihn suchen. Ich kann hier sowieso nicht weg.«

  »Du weißt, ich kann nicht …«

  »Oh doch, das kannst du. Wenn du Kevin nicht bald findest, treibt dich das in den Wahnsinn. Ich komme schon klar. Vergiss mich nur nicht und komm später zurück, in Ordnung?«

  »Entschuldigung. Wer? Wo? Ich habe eine Schwester?« Sie war tatsächlich noch zu Scherzen aufgelegt, wie sie merkte, als sie es laut aussprach.

  »Ha ha. Los, jetzt geh und such deinen Mann!«

  »Okay. Ich bin so bald wie möglich wieder hier. Und du rufst mich, falls was ist, verstanden?«

  »Jawohl, Pocahontas. Mach, dass du wegkommst!«

  Dani beugte sich hinunter, um ihre Schwester auf die Stirn zu küssen. Jen tätschelte ihr in einer beruhigenden Geste den Rücken und sank dann stöhnend auf die Erde zurück. Dani schaute sie ein letztes Mal an und verschaffte sich dann im Stehen einen Überblick, in welcher Richtung und Entfernung das Flugzeug sich befand. Sobald sie sicher war, dass sie die Stelle später wiederfinden würde, rannte sie los in Richtung Wrack – auf den Schrei zu, den sie gehört hatte.

  »Nicht verletzt sein«, flüsterte sie. »Bitte, Baby.«

  Dann stürmte etwas aus der Dunkelheit heran, stieß mit ihr zusammen und warf sie zu Boden.

  Potter bemühte sich, seine Verantwortung mit dem Bedürfnis in Einklang zu bringen, sich wie ein echter Mensch zu verhalten. Curtis lag tot da, aufgespießt in weniger als drei Metern Entfernung von seinem besten Freund. Er hätte am liebsten die Zei
t angehalten und Greg sein tiefes Mitgefühl ausgesprochen. Als er den toten Schlagzeuger anstarrte – einen Kerl, den er als Freund betrachtet hatte –, wollte er Curtis’ Körper von diesem schartigen Stück Schrott herunterziehen und mit etwas abdecken, ihm die letzte Ehre erweisen.

  Aber seine To-Do-Liste wartete im Kopf auf Erledigung und es gab einige Punkte, die noch nicht abgehakt waren. Er warf einen kurzen Blick darauf:

  1. Die beschissene Situation erfassen

  2. Nachschauen, wer überlebt hat

  3. Checken, wer verletzt ist, und Erste Hilfe leisten

  4. Mit dem Funkgerät Rettung anfordern

  5. Die Umgebung erkunden und – falls nötig – Hilfe

  holen

  Die Falten in seiner Stirn vertieften sich, als ihm bewusst wurde, dass noch gar nichts abgehakt war. Wie sollte er auch die Lage erfassen, ohne im Cockpit beim Piloten nach dem Rechten zu sehen? Es gab Hinweise darauf, dass Conner und Dani überlebt hatten, aber noch waren beide verschwunden. Auch von Jen gab es keine Spur. Greg gab undefinierbare Laute von sich, die sowohl Rufe als auch Schluchzer oder Gewinsel sein konnten. Sie vermischten sich miteinander und wenn er versuchte, sie auszublenden, um einen Entschluss zu fassen, was er als Nächstes tun sollte, ergriffen sie von seinen Gedanken Besitz und zerrten sie in verschiedene Richtungen.

  Er trat einen Schritt zurück, um von Greg und Curtis wegzukommen, und sein Gleichgewicht war wieder dahin. Der Schmerz versenkte einen weiteren Dolch in seiner Kniekehle und die Welt begann, sich zu drehen. Mit gefletschten Zähnen gab er ein gequältes Zischen von sich und wartete, bis das Schlimmste überstanden war. Hände tätschelten seinen Rücken und Shannon fiel ihm wieder ein.

 

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