Down

Home > Other > Down > Page 9
Down Page 9

by Nate Southard


  »Okay, dann also 20 Fragen. Jen, du fängst an.«

  »Bist du eine Rettungsmannschaft?«

  »Nein.«

  »Ein Monster?«

  »Nein.«

  »Dann ist es mir scheißegal.«

  Auf dem Gesicht ihres Mannes zeichnete sich das traurigste Lächeln ab, das sie je an ihm gesehen hatte. »Tut mir leid, Schatz. Ich glaube, für uns ist das Spiel längst gelaufen.«

  »Ja. Klar.« Sie setzte sich mit verschränkten Beinen zwischen die beiden. Ihre Augen wanderten zwischen ihnen hin und her. Sie wühlte in ihrem Kopf nach neuen Ideen. »Hier ist bestimmt irgendwo eine Gitarre in der Nähe. Wir könnten einen Song schreiben.«

  Jen bedachte sie mit einem Blick, der sich wie Prügel anfühlte.

  »Ich gebe mir doch bloß Mühe. Soll ich im Rhythmus furzen? Ich kann’s zumindest versuchen.«

  »Halt einfach die Klappe, Schwesterherz. Wir brauchen keinen Babysitter.«

  Kevin drückte ihre Hand. »Ist schon gut. Danke, aber ich glaub, keinem von uns ist nach Aufmunterung zumute.«

  »Okay. Tut mir leid.«

  »Nicht entschuldigen.«

  »Zu spät.« Sie trommelte mit den Fingern auf ihre Knie und starrte ins Leere. Etwas Heißes brannte hinter ihren Augen und sie befürchtete, dass bald Tränen über ihre Wangen purzeln würden. Dabei wollte sie doch nur helfen.

  Mehr neugierig als besorgt betrachtete sie die dunkle Ecke, in der Conner sich eingenistet hatte. Er hatte etwa fünf Minuten lang Taschen durch die Gegend getreten und in einer oder zwei von ihnen herumgewühlt. Nun lag er in einem seligen Dämmerzustand da, sabberte und fuhr sich von Zeit zu Zeit mit den Fingerspitzen durchs Gesicht. Offenbar hatte er gefunden, wonach er suchte.

  Eventuell konnte sie ja …

  Ihr Körper versteifte sich, als die Kreatur erneut aufbrüllte. Im Inneren der Kabine hörte es sich noch weitaus schlimmer an. Der Laut klang wütend und gequält zugleich und ließ sie an misshandelte Hunde denken, die bösartig waren, weil sie es nicht besser wussten. Ein weiteres Heulen erfüllte die Absturzstelle und sie griff nach den Händen ihrer Familie.

  »Kann es hier reinkommen?«, wollte Jen wissen.

  »Ist es vorhin jedenfalls nicht«, antwortete Kevin. »Hat’s aber auch nicht ernsthaft versucht.«

  »Was will es von uns?«

  »Ist wahrscheinlich neugierig«, gab Dani zurück. »Oder verängstigt. Wir sind vermutlich in sein Revier eingedrungen.«

  »Wir sind dummerweise mit unserem maroden Jet abgestürzt, ohne uns den Landeplatz vorher aussuchen zu können. Sorry, liebes Monster, wenn du das nicht schnallst. Erwarte bloß kein Mitleid von mir.«

  »Sei ein braves Mädchen«, meinte Kevin.

  Ein weiteres Brüllen schloss sich an, diesmal gefolgt von Rumoren. Sie hörte, wie etwas wieder und wieder gegen Metall hämmerte. Es attackierte offensichtlich das Flugzeug, nicht aber den Bereich, in dem sie sich aufhielten. Alle paar Sekunden röhrte es von Neuem und gab dann einen Laut von sich, der fast wie ein Bellen klang. Erst wollte sie sich zu einer der Luken schleichen, um Genaueres mitzubekommen, doch dann entschied sie, stattdessen die Kabine nach einer Waffe abzusuchen. Wenn das Biest versuchte, in einen anderen Sektor der Maschine einzudringen, drohte ihnen früher oder später ebenfalls unangenehmer Besuch. Dann wollte sie gerüstet sein.

  »Wo willst du hin?«, fragte Kevin, als sie in gebückter Haltung den Weg zum Vorderteil der Kabine antrat. Als Antwort legte sie lediglich den Zeigefinger an die Lippen und setzte ihr Manöver fort.

  Beim Untersuchen des Durcheinanders ignorierte sie die Plastikverkleidung, die gesplittert und von den Kabinenwänden gefallen war. Damit ließ sich nichts anfangen. Stattdessen nahm sie sich die gewundenen Metallteile vor. Nachdem sie sich ein paar Sekunden lang mit dem Geschrei und den Angriffsgeräuschen des Monsters im Ohr auf die Suche gemacht hatte, entdeckte sie ein gezacktes Aluminiumstück, das nahezu vollständig abgebrochen war. Es würde sich ohne größeren Aufwand lösen lassen. Sie fuhr prüfend mit der Daumenspitze darüber und stellte fest, dass es extrem scharfkantig war.

  Vorsichtig zerrte sie daran herum, hebelte es auf und ab, vor und zurück. Zunächst fielen ihr die Bewegungen höllisch schwer, doch bald ging es merklich leichter. Schließlich brach das Fragment mit einem schnalzenden Geräusch ab. Sie öffnete eine Reisetasche, die aus den Gepäckfächern auf den Gang gefallen war, und schleuderte achtlos ein paar Boxershorts beiseite, bis sie ein T-Shirt entdeckte. Sie wickelte den Stoff um das schmale Ende des Metallstücks, damit sie sich nicht schnitt, hielt es mit der Hand fest und drückte die andere Seite auf den Boden. Mit dem Fuß gelang es ihr, es relativ geradezubiegen. Sie machte ein paar Probeschläge. Gar nicht so übel! Es lag zwar schwer in der Hand, wirkte aber stabil genug.

  Als sie zum Loch in der Kabinenseite zurückging, warf sie ihrer Familie ein kurzes, nervöses Grinsen zu. Sie erwiderten es mit leerem Gesichtsausdruck. Vermutlich hatten sie im Moment wirklich andere Dinge im Kopf.

  Das Rumoren war in der Zwischenzeit nicht verstummt. Brüllen und Heulen und Bellen mischten sich mit einem strapaziösen Trommeln gegen die Flugzeugwand. Sie hoffte, dass das, was sich dort draußen herumtrieb, nicht plante, ihnen einen Besuch abzustatten. Die Annahme, es wäre zurück in den Wald gerannt und würde sie in Frieden lassen, hatte sich als Irrglaube erwiesen. Fürs Erste würde sie Wache halten und ihre Angehörigen beschützen. Falls ihr später etwas Besseres einfiel, konnte sie sich immer noch damit beschäftigen.

  Greg biss die Zähne zusammen und versuchte, das Brennen zu ignorieren, das an der Stelle pochte, an der er seinen Arm vermutete. Der Schmerz drohte auch den Rest von ihm zu verschlingen, aber er gab sich nicht die Blöße, ihn hinauszubrüllen. Das Biest lungerte immer noch im Freien herum und zerlegte das Cockpit. Er hatte nicht vor, unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

  Shannons Gewicht lastete schwer auf ihm und zerrte noch stärker an seinem eingeklemmten Arm. Als das Monster zurückkehrte, hatte sie sich auf ihn geworfen. Glaubte sie etwa, dass es gekommen war, um ihn zu holen, und wollte ihn beschützen? Falls ja, hatte sie sich gerade an die Spitze der Aufstellung mit den tapfersten Leuten, die er kannte, hochgearbeitet – obwohl außer ihr ohnehin niemand draufstand. Alle paar Sekunden flüsterte sie ihm beruhigende Worte ins Ohr. Manchmal gelang es ihm, sie durch seine Schmerzen hindurch zu verstehen, dann wieder klang es lediglich wie statisches Rauschen im Zentrum seines Schädels.

  »Das wird schon wieder«, erklärte sie diesmal.

  Er brachte ein kurzes Kichern zustande, das vorwiegend aus ein paar kurzen Schnaufern durch die Nase bestand.

  »Das hast du schon mal gesagt. Lass dir mal was Neues einfallen.«

  Er fühlte, wie sich ihr Oberkörper gegen seinen presste, und merkte daran, dass er sie ebenfalls zum Lachen gebracht hatte. Mit der freien Hand ertastete er ihren Unterarm und tätschelte ihn. Zur Antwort schloss sie die Arme fester um ihn. Der Schmerz in seinem Körper legte den nächsten Gang ein, aber das machte ihm ausnahmsweise fast nichts aus. Sie so nah bei sich zu spüren, fühlte sich unglaublich gut an. Er schob seine Hand ihren Arm hinauf, bis er ihren Trizeps ertastete, und drückte ihn. Tat er das gerade wirklich? In den letzten Monaten war sein privater Kosmos von Frust und Traurigkeit dominiert gewesen und nun streichelte er eine Reporterin, nur weil sie die Courage aufbrachte, ihn beschützen zu wollen?

  Draußen schwoll der Tumult weiter an und klang wie ein Ausbruch ungezügelter Wut und Gewalt. Ihm war bewusst, dass er sich deswegen Sorgen machen sollte, doch dann schlossen Shannons Arme sich fester um seinen Körper, und er spürte, wie sich sein Puls sprunghaft beschleunigte. Das Herz galoppierte ihm in der Brust und das Stechen im Arm schien sogar ein wenig nachzulassen. Seine Gedanken rasten und er fragte sich, ob er wirklich tun sollte, was sein Verstand ihm diktierte. Als sich das Hämmern im Freien verlangsamte und schließlich ganz verstummte, beschloss er, das als Signal zu werten.

  Da er befürchtete, dass sie bald von ihm heruntersteigen würde, l
egte er seine Hand auf ihre und schob sie von seiner Brust weg. Stattdessen zog er sie an seine Lippen und drückte einen Kuss darauf, in der Hoffnung, dass sie sich nicht zurückzog. Als Antwort schmiegte sie sich enger an seinen Rücken und drückte ihn fest. Dann vergruben sich ihre Lippen sanft in seinem Nacken.

  Wow! Er musste so breit grinsen, dass ihm fast das Gesicht wehtat.

  Es war nicht viel Platz unter der Steuerkonsole des Flugzeugs – viel weniger, als Potter brauchte, um sich vollständig außer Reichweite zu bringen –, aber er zwängte seinen geschundenen Körper so weit hinein, wie es ging, und das Monster schien ihn für den Moment vergessen zu haben. Oder er war ihm einfach gleichgültig. So oder so hatte er nicht vor, sein kleines Versteck zu verlassen, bevor er sicher sein konnte, dass sich das Geschöpf verzogen hatte.

  Es hatte sich bereits die Leiche geschnappt, die er für die des Kopiloten hielt, dabei den Ast abgebrochen, der den Mann durchbohrte, und ihn aus seinem Sitz gezerrt, wobei es die Sicherheitsgurte kurzerhand mitzerfetzte. Eine hässliche Aktion. Wie zuvor beim Klau von Curtis’ Leiche war das Biest entschieden zu groß, um durch die vorhandene Lücke ins Innere zu gelangen. Kurzerhand hatte es die Außenhülle demoliert und laut gekreischt, als ob es den hemmenden Stahl als persönliche Beleidigung betrachtete. Als es den Kopiloten aus seinem Sessel riss und ihn ins Freie schleuderte, setzte ein scharfes Klingeln in Potters Ohren ein. Sein ganzer Körper schmerzte und protestierte gegen das enge Gefängnis unter dem Pult.

  Nun machte sich das Biest am Piloten zu schaffen. Das schien ihm deutlich leichter zu fallen – entweder der Kerl hatte sich nicht angeschnallt oder die Gurte waren gerissen. Allerdings hing der Torso des Toten am Steuerbügel fest. Potters Jeans waren am Aufschlag bereits mit dem Blut des Mannes durchnässt. Er versuchte, seine Beine von dem kleinen Hügel aus Eingeweiden unter dem Sitz wegzuziehen, aber der Versuch war zum Scheitern verurteilt. Egal, wie er sich abmühte, immer wieder rutschte die glitschige Masse nach. Der Geruch stieg ihm in die Nasenlöcher, schwer und beinahe süß. Er hielt sich eine Hand über Mund und Nase, aber es half nichts. Das widerwärtige Aroma bahnte sich stur den Weg.

  Starr, mit verhärteten Muskeln und angehaltenem Atem wurde Potter Zeuge, wie die knurrende Kreatur ihre Pranken, die in glatten, schwarzen Krallen endeten, in die Schultern des Piloten grub. Wenigstens sie verliehen dem Biest eine unmenschliche Anmutung. Alles andere wirkte wie eine Mutation oder Perversion. Der breite Stirnrücken und die glühenden Augen darunter. Die lädierte Nase und die klappernden Zähne, die wie Felsbrocken über geschwollenen, gesprungenen Lippen aufragten. Büschel aus schmutzigem Haar oder Fell bedeckten große Teile des Körpers, der Rest bestand aus Muskeln, Narbengewebe und blässlicher Haut. Während Potter vor Angst schlotterte und sich fürchtete, das geringste Geräusch zu verursachen, konnte er nicht anders, als zu grübeln, welche Laune die Natur dazu antrieb, so ein schreckliches Wesen zu erschaffen.

  Das Monster schrie erneut – eine merkwürdige Mischung aus Brüllen, Heulen und Bellen –, während es gierig an der Leiche des Piloten zerrte. Die Klauen zerfetzten die Haut des Toten. Sie blieb am Höhenruder hängen. Weitere Eingeweide quollen in einem kühlen Schwall hervor. Etwas löste in Potters Kehle einen Würgreiz aus und er biss sich in den Handballen, um den Aufschrei zu unterdrücken.

  Noch ein Ruck. Er glaubte zu hören, wie die gewaltigen Greifer über Knochen schabten. Als das Biest erneut zog, wurde der Pilot über die Rückenlehne des Sitzes gehoben, wobei seine Innereien mitgeschleift wurden. Sein Bein verfing sich zwischen Sitz und Steuer und eine grässliche Sekunde lang dachte Potter darüber nach, dagegen zu treten, alles zu tun, um das Monster loszuwerden. Doch ein weiteres Zerren befreite den Piloten endgültig und das knurrende Wesen schleifte die Leiche mit einer schwarzen Klaue aus dem Cockpit.

  Potter atmete zitternd aus und wagte kaum, weiterzuatmen. Er behielt die Einstiegsluke im Auge und hoffte, dass das Biest nicht zurückkehrte. Im Kopf fing er an zu zählen, während seine Augen starr nach vorn gerichtet blieben und er wie versteinert wirkte.

  Eins, zwei …

  Draußen nahm er Bewegung wahr, schlurfende Geräusche und Grunzer. Als ob etwas Schweres angehoben wurde. Das bedeutete wohl, dass die Kreatur sich die Leiche über die Schulter warf, um sie wegzuschleppen. Genau wie bei Curtis.

  Zehn, elf, zwölf …

  Potter hörte schwere Schritte, die sich vom Cockpit entfernten. Ein schleifendes Geräusch begleitete sie und er fragte sich, welcher der beiden Körper es war, der es scheinbar nicht verdient hatte, getragen zu werden. Schon tauchte die nächste Frage in seinem Kopf auf: Warum hatte sich das Monster bisher mit niemandem angelegt, der noch am Leben war? Wollte es keine Gegenwehr riskieren? Der Gedanke amüsierte ihn. Wie konnte ein solcher Koloss vor irgendetwas Angst haben? Weitaus wahrscheinlicher, dass er sich zunächst auf die leichte Beute konzentrierte. Er hoffte, die drei toten Männer genügten. Wenn er sich den ramponierten Zugang betrachtete, den Stahl, der von den Fäusten des Monsters nach innen gehämmert worden war, bezweifelte er ernsthaft, dass sie sich gegen eine solche Urgewalt verteidigen konnten.

  Im Wald herrschte Totenstille. Potter zählte weiter. Sein Blick blieb fest auf die Einstiegsluke gerichtet. Seine Muskeln waren so stark angespannt, dass sie sich hart wie Beton anfühlten. Sie schmerzten und brannten, aber er hielt die Spannung aufrecht. Als er schließlich bis 100 gezählt hatte, atmete er langsam aus und zwang seinen Körper, sich zu beruhigen. Eine Welle der Erschöpfung durchfuhr ihn und ein Gähnen bahnte sich den Weg ins Freie. Er kam sich wie ein Idiot vor.

  So leise wie möglich krabbelte er aus seinem Versteck und ging in die Hocke. Er war weder tapfer noch dumm genug, um sich auf den Präsentierteller zu stellen. Erneut hielt er nach dem Mikrofon Ausschau und verfolgte das Kabel bis zum Armaturenbrett. Als er einen Kasten erspähte, von dem er annahm, es könnte sich um das Funkgerät handeln, betätigte er ein paar Schalter und betete, dass etwas passierte. Nichts. Er probierte ein paar andere Schalter aus – mit demselben Ergebnis. Panik stieg in ihm auf und er drückte wahllos auf zahlreiche Knöpfe, rüttelte an allen Bedienelementen herum, die er finden konnte. Nichts funktionierte und er wusste nicht, woran es lag. Er wusste nicht einmal, wo er anfangen sollte.

  »Scheiße!«

  Er ließ sich zu Boden fallen und griff sich ans Knie, massierte ein wenig vom Schmerz weg. Denkbar, dass einer der anderen wusste, wie man in einem Flugzeug den Strom und das Funkgerät zum Laufen brachte, aber er selbst war mit seiner Weisheit am Ende.

  Okay, das Funkgerät konnten sie fürs Erste vergessen. Das bedeutete, dass sie zum nächsten Punkt übergehen mussten. Die To-Do-Liste in seinem Kopf hatte sich verändert, als er sie aufrief. Ihn empfing ein leeres Blatt staubiges Papier. Es schien ihn zu verhöhnen. In der Dunkelheit grübelte er darüber nach, was er als Nächstes tun sollte.

  Zunächst bemerkte Greg nicht, dass das Licht ein wenig heller geworden war. Shannon hatte sich stundenlang mit seinem Arm abgemüht – mal hier ein paar Metallteile von A nach B umgeschichtet, mal dort an seinem müden Körper herumgezerrt. Mehrfach hatte sie versucht, weitere Trümmerstücke als Hebel einzusetzen. Jedes Mal schoss ein Blitzstrahl aus Schmerz durch seinen Arm. Er keuchte oder grunzte dann gequält, verkniff sich aber eine lautere Reaktion. Das Komische war, dass er es nicht tat, um wie ein harter Kerl rüberzukommen. Vielmehr hatte er Angst, dass er ihre Gefühle verletzte, wenn sie merkte, dass sie ihm Schmerzen zufügte. Er wusste, dass das lächerlich war, aber der Gedanke hatte sich in seinem Kopf festgesetzt wie ein rostiger Nagel, der sich nicht von der Stelle rührte.

  Die Schwärze der Nacht war in ein dunkles Grau übergegangen. Mit jedem Moment wurde es ein bisschen heller. Ob bald die Sonne aufging? Die Vorstellung fühlte sich fremd für ihn an, als ob in seinem Leben so schnell nichts Normales mehr passierte. Die Sonne würde weiterhin mit Abwesenheit glänzen, er selbst seinen Arm niemals freibekommen und ein Monster, das wie die Höllenversion von Bigfoot aussah, alle paar Stunden zurückkehren, um sich ein weiteres Opfer zu schnappen. Er hatte die Vo
rstellung von Normalität fast aufgegeben. Nun, wo das Licht zurückkehrte, vermittelte es ihm das Gefühl, dass er den ersten kindlichen Schritt in sein wirkliches Leben unternahm.

  »Wie ist die Lage?«, fragte er Shannon.

  Sie wischte sich mit einem Arm über die Stirn. Über ihren ganzen Körper zog sich ein Film aus Schmutz, Fett und Schweiß. Sie strich ihre Haare zurück und band sie zu einem Knoten zusammen. Das Top klebte an Schultern und Bauch. Greg konnte nicht aufhören, sie anzuschauen. Es hatte keinen weiteren Kuss gegeben, aber er spürte, dass einer unterwegs war. Er flatterte in seinem Bauch und wartete darauf, freigelassen zu werden.

  »So ein verficktes Mistding. Aber ich glaube, wir haben’s fast geschafft.«

  »Du machst Witze.«

  »Wie fühlt es sich an?«

  »Ich habe ein bisschen Angst, es auszuprobieren.«

  Sie grinste ihn an. »Tja, wie wär’s, wenn du zur Abwechslung mal aufhörst, dich wie ein Weichei zu benehmen, und ein bisschen für mich zappelst?«

  »Ist das ein Euphemismus?«

  »Versuch’s einfach.«

  Er holte tief Luft, kniff die Augen zusammen und setzte Ober- und Unterkiefer gerade aufeinander. Er rechnete mit Übelkeit erregenden Schmerzen, aber Shannon hatte recht. Er musste es wenigstens versuchen. Vorsichtig machte er einen Anlauf, den Arm zu bewegen. Er riss überrascht die Augen auf, als das schmerzfrei gelang. Während vorher schon die leichteste Bewegung Todesqualen verursacht hatte, konnte er den Arm nun problemlos um einige Zentimeter in jede Richtung verschieben. Nur ein einzelnes Metallstück scheuerte an der Seite seines Handgelenks und er glaubte, dass es das Letzte war, was ihn daran hinderte, sich zu befreien. Noch einmal versuchte er, mit den Fingern zu wackeln. Er war nicht absolut sicher, glaubte aber, dass sie sich alle bewegt hatten.

  »Ich kann’s kaum glauben«, freute er sich.

  »Tja, ich bin eben ein Genie.«

  »Ich glaube, wir sollten die Rollen tauschen und ich schreibe einen Artikel über dich.«

 

‹ Prev